31.10.13

Thomas Assheuer, das Internet und die Menschenrechte

Thomas Assheuer berichtet in der ZEIT vom 31.10. 13, es habe ein Versprechen gegeben, danach
"schaffe das Internet eine Zone radikaler Freiheit. Hier könne sich der Bürger unbeobachtet bewegen; fern von den Argusaugen des Staates, ohne Polizei, Gesinnungskontrolle und den sanften Terror der Mehrheit, kurz: ohne den großen Anderen, all die unsichtbaren Disziplinarmächte, die den Bürger unter Beobachtung stellen, die sein Reden und Denken regulieren und ihn auf Linie bringen. Das Internet sei ein Geschenk des Himmels, ein machtfreier Raum in der übermächtigen Moderne."

Ich habe im Netz etwas anderes wahrzunehmen geglaubt:
Die ständige Warnung: Wer das Netz kontrolliert, beseitigt das Grundrecht auf Freiheit. Der Staat darf hier nicht Spielregeln setzen, weil er sonst seine Aufgabe, Schutz des Schwachen gegen den Stärkeren, unmöglich machen würde.

Facebook war für mich die Speerspitze derer, die behaupteten und zum Teil wohl auch meinten, da die Privatheit sowieso nicht zu schützen sei, solle man sie bewusst freiwillig aufgeben.

Es war Bundesinnenminister Friedrich, der behauptete, der Schutz der Privatheit und des Briefgeheimnisses sei Aufgabe jedes Einzelnen. Ob er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass Merkel abgehört wurde, wo doch schon Helmut Schmidt seiner Aussage nach (Zeit vom 31.10. 13) ständig davon ausging, dass er abgehört wurde?
Wahrscheinlicher ist wohl, dass Friedrich glaubte, dass der Öffentlichkeit die Kenntnis über die Abhörpraktiken weiterhin vorenthalten werden könne. Zumindest für die Dauer des Wahlkampfs.

Trotz der bei Assheuer folgenden weiteren Absonderlichkeiten. Sein optimistischer Schluss gefällt mir:
"Natürlich könnte man den Teufel aus dem Netz austreiben. Man müsste es nur wollen."

Schon Locke antwortete auf Hobbes Vorstellung von der Unkontrollierbarkeit des absoluten Staates mit dem Konzept  des Gesellschaftsvertrages. Man müsste ihn nur schützen wollen.

Diejenigen, die nur stört, wenn Merkels Handy abgehört wird, gehören leider nicht zu den Verteidigern der Menschenwürde. Die, die gleich darauf verzichten, freilich auch nicht.

Dazu auch: Überwachungsstaat und Geheimdienst

27.10.13

Erinnerungskultur im Kontext von Holocaust und NS-Herrschaft

Da ich heute veranlasst worden bin, mich ein wenig mit dem Thema Erinnerungskultur zu beschäftigen, ist mir aufgefallen, wie wenig ich auf dem Höhepunkt der gegenwärtigen Diskussion bin und wie wenig die verschiedenen Diskussionen aufeinander Bezug nehmen. Das eine ist mein Problem, das andere werde ich nicht ändern.
Aber vielleicht gibt es Interessierte, die ein paar Hinweise auf Diskussionszusammenhänge interessant finden.

Deshalb hier ganz kurz:
Erinnerungskultur (vgl. auch: Gegen das Vergessen) ist ein Konzept, das sich deutlich von den Konzepten Geschichtskultur (vgl. Hinweise zur Abgrenzung von Erinnerungskultur), Geschichtsbewusstsein  und Globales Geschichtsbewusstsein unterscheidet.

In Deutschland wird mit Erinnerungskultur meist das Gedenken an Holocaust und NS-Zeit assoziiert, z.B. Mahnmale, die an die Deportation von Juden aus Deutschland erinnern.
Aber es gibt auch andere institutionalisierte Erinnerungen daran wie
Zur Erinnerung an den Holocaust ein paar eigene Texte:
Ein Geheimnis (Vorstellung einer Erzählung)

Zur Erinnerung an Widerstand in der NS-Zeit:
Friedrich: Wer wir sind (Umfassende Darstellung zu Personen des Widerstands) 
Zum Diskussionszusammenhang Erinnerungskultur nenne ich noch:
Geschichtspolitik Geschichtsperspektive  Historisierung
Geschichtlichkeit  Identitätsbewusstsein  
        

26.10.13

Der Papst und der Bischof von Limburg

Es ist nicht lange her, da gab es schon einen Konflikt zwischen dem Papst und dem Bischof von Limburg.
Freilich stand damals die veröffentlichte Meinung in Deutschland mehrheitlich auf der Seite des Bischofs von Limburg, denn es ging um Schwangerschaftskonfliktberatung und der Bischof hieß Franz Kamphaus. Vom Papst war noch nicht abzusehen, dass er schon so bald heilig gesprochen werden würde. (27.4.2014)

Damals hat Johannes Paul II. dem Bischof eine Funktion entzogen und in die Hände eines anderen gelegt.Er hat darauf verzichtet, dem Bischof sein Amt zu nehmen.

Ein großer Unterschied bestand freilich: Papst wie Bischof sahen sich primär verantwortlich für die ihnen anvertrauten Seelen, und es war eher der Bischof, der in der Nachfolge von Franz von Assisi lebte. So sah es jedenfalls eine Predigt aus der Zeit, die mir vorliegt.

Mag sein, dass gerade wegen dieses Vorgängers das Kirchenvolk im Bistum Limburg so rebellisch geworden ist, obwohl Kamphaus selbst sich durchaus nicht als Rebell sah.

Nachtrag 2013:
Das Verhältnis zwischen Papst und Bischof von Limburg hat sich 2013 verkehrt. Jetzt vertritt der Papst eine Rolle nahe an Franziskus von Assisi, der Bischof verliert sich in traditioneller Repräsentation.
Zu Papst Franziskus vgl. seinen Fragebogen an die Gemeinden.
Zum Presse-Echo auf die Papstumfrage vgl. u.a. ZEIT vom 7.11.13


18.10.13

Georg Büchner zu ehren

"Das Bundeskriminalamt hat vor 20, 30 Jahren sogar offiziell einmal gegen einen Herren Georg Büchner ermittelt. Ein Flugblatt war mit seinem Namen unterschrieben. Irgendwann wurden dann die Ermittlungen gegen Georg Büchner eingestellt." (Jan-Christoph Hauschild: "Büchner war ein Vorkämpfer";
Hauschilds  Interview vollständig als Audiodatei.)
Als Revolutionär gescheitert hat Büchner sich nicht sofort mit aller Kraft nur noch seiner naturwissenschaftlichen Arbeit widmen können, sondern er musste sich erst noch seinen Frust von der Seele schreiben (und versuchen, sich für seine Flucht Geld zu beschaffen).
Welche Ehre, dann nicht nur durch diese Frustprodukte weltberühmt zu werden, sondern als (zunächst) gescheiterter Revolutionär nach rund 150 Jahren  immer noch von der Polizei gesucht zu werden!

Georg Büchners erster Schritt der Flucht konnte es sein, die hessischen Landesgrenzen zu überschreiten, sicherer war er in Straßburg, noch sicherer in der schon recht demokratischen Schweiz.

Edward Snowden musste seine erste Etappe schon weiter wählen, nach Hongkong. Sicherer war er erst in einer - gegenwärtig noch recht stabilen - Diktatur. Dass eine Flucht in ein demokratisches Land - etwa nach Südamerika - für Snowden zu gefährlich war, zeigte sich, als das Flugzeug des bolivianischen Staatspräsidenten Morales von Österreich zur Landung gezwungen wurde und alle demokratischen Länder Europas dem Flugzeug, in dem der US-Geheimdienst Snowden vermutete, eine sichere Landung verwehrten.

Wir ehren Büchners Andenken - anders als das Bundeskriminalamt - dadurch, dass wir uns für einen Vorkämpfer der Freiheit aus seinem Geist wie Snowden einsetzen. War Büchners Hessischer Landbote dem Frieden der Hütten gewidmet, so Snowdens Whistleblowing dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, einem - wie wir sehen - im deutschen Grundgesetz unzureichend geschütztem Grundrecht (vgl. aber EU).
Karl Gutzkow brachte zu Büchners Unterstützung Dantons Tod heraus (zu spät, um mit dem Honorar Büchners Flucht finanzieren zu helfen, das tat Büchners Mutter). Snowden unterstützten Wikileaks und Glenn Greenwald vom Guardian. Letzterer bekam deshalb einigen Ärger, weshalb er jetzt finanziert vom ebay-Gründer Pierre Omidyar ein eigenes online-Medium gründen will.
Ich wünsche Greenwald viel Erfolg dabei und Edward Snowden, dass er seine mutige Aktion anders als Büchner länger als drei Jahre überlebt und hoffentlich bald in Freiheit, nicht mehr verfolgt von der mächtigsten Demokratie und im Stich gelassen von allen anderen.

Mehr zu Georg Büchner, besonders Briefauszüge

Tweets zu Büchner mit vielen Literatur- und Medienhinweisen
darunter von mir  hervorgehoben: Woyzeck, das Buch als Magazin, wdr5, taz,
Danton u. Robespierre in Dantons Tod (Trailer in YouTube)

Literaturhinweise:
Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner - Verschwörung für die Gleichheit, Hoffmann und Campe 2013, 352 Seiten, ISBN 978 3 455 50184 1.
Rezensionen des Werks
Frühe Kritik an Hauschilds Sicht und frühe Gegenrede
Hermann Kurzke Georg Büchner Geschichte eines Genies Cover: Georg Büchner C. H. Beck Verlag, München 2013
Rezensionen des Werks

Fortsetzung dieses Artikels in:

Fluchtwege, Asyl, Korrespondenz - Büchner, Snowden, Assange, Harrison und Manning

9.10.13

Wer liest noch nicht Frau Weh?

Um eins klarzustellen: Frau Wehs Blog ist keine Pflichtlektüre für Pädagogen und braucht es auch gar nicht zu sein. Dafür liest er sich einfach zu gut.
Aber wenn man gerade mal der Meinung ist, dass das Lehrerdasein doch ein recht hartes ist, tut es gut, ein wenig in ihrem Blog zu lesen.
Heute empfehle ich "Welche Pille würdest du wählen?" auf die Gefahr hin, dass alle meine Leser zu Frau Weh abwandern.

Und hier noch ein Zitat aus "Das Bildnis der Frau Weh":
Als ich endlich das neueste Foto einklebe, wird mir auf einmal bewusst, was sich verändert hat. Es sind nicht die ersten Falten, nicht die Kleidung oder die Frisur.Es ist Gelassenheit.

7.10.13

Zeitzeugen - Tonbandprotokolle vom Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-1965

Es gibt immer weniger Holocaustüberlebende, die als Zeitzeugen von den Lagern berichten können.
Doch jetzt sind die Tonbandprotokolle vom Frankfurter Auschwitzprozess online gestellt worden.
181 Holocaustüberlebende waren damals nach Frankfurt gereist, um ihre persönlichen Erfahrungen darzustellen.

Ich teile nicht den Optimismus, dass schon bald alle in die Kultur des selbstverantwortlichen Lernens entlassen werden könnten, ohne dass dadurch für unsere Kultur ein Verlust entstünde. Selbst für Habermas dürfte nicht nur Adorno als Vorbild und Lehrer wichtig gewesen sein.
Aber ich bin froh, dass jetzt vermehrt Jugendlichen wie Erwachsenen auch der Weg zu Originalquellen und eigener Nachforschung erleichtert wird.


In diesem Kontext nenne ich:

Kollektives Gedächtnis (LeMO, Zeitzeugenberichte vom 1. Weltkrieg bis heute)
Das Generationenprojekt

und verweise im übrigen auf den Artikel Zeitzeugen im Geschichtsunterricht im ZUM-Wiki.

Zur Arbeit mit Zeitzeugen allgemein verweise ich auf die kritische Anmerkung von Hans Mommsen in der ZEIT vom 30.8. 2012, S. 4 zum Thema „Der Wille zur Erinnerung“:
 „Unabhängig davon, dass die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses von Zeitzeugen begrenzt ist und sie die infrage stehenden Handlungskomplexe schwerlich überschauen können – dies ist eben die Aufgabe des historischen Fachmanns – tendiert das sich auf sie abstützende Gedächtnis dazu, komplexe historische Zusammenhänge zu personalisieren und indirekt nationale Gesamtverantwortung zu verdrängen. […] Die Versuchung, die anstehende Erinnerungsarbeit [gemäß Kontext: seitens der nachfolgenden Generation] primär Zeitzeugen zu überlassen, impliziert ein apologetisches Element.“
Das "apologetische Element"  dürfte freilich gerade bei den Holocaustüberlebenden schwerlich den Wert des Zeitzeugnisses mindern.


5.10.13

Gegenwärtig spricht man über die Todesopfer, die die "Festung Europa" auf dem Gewissen hat

Man spricht über Flüchtlingstote und über den Klimawandel. Die NSA tritt zurück, Snowden ist so gut wie vergessen.
"Um es auf grausame und schonungslose Art zu sagen: Die Debatte wird sich abkühlen, sobald der Winter kommt" (ein EU-Diplomat laut SZ vom 5.10.13)

Irgendwie gilt das für alle Debatten. Doch zum Glück nicht ganz.
Ich halte es jedenfalls für wichtig, dass - angestoßen von Papst Franziskus und der letzten Flüchtlingskatastrophe - endlich auch maßgebliche Politiker* erkennen und aussprechen, dass die rechtlichen Regelungen zum Umgang mit Flüchtlingen geändert werden müssen. Die Frage ist freilich, wie.

Nicht maßgeblich ist die Bürgermeisterin von Lampedusa Guisi Nicolini, die sagte:
"Die Fischer sind weitergefahren, weil unser Land schon Prozesse wegen der Förderung illegaler Einwanderung gegen Fischer und Reeder geführt hat, nachdem sie Menschenleben gerettet haben." (Bergsträßer Anzeiger, 5.10.13)

So gut oder schlecht es mir gelungen ist, habe ich die Themen für den Unterricht aufgearbeitet:

Flüchtlinge, Strafandrohung und Strafen für Fluchthelfer

Klimawandel

Geheimdienst, Überwachungsstaat, Snowden

Ich werde weiterhin daran arbeiten, die Artikel halbwegs auf dem Laufenden zu halten, und im übrigen nicht zu resignieren. Gelegentlich werden diese Themen auch hier zur Sprache kommen.

*«Wir werden laut unsere Stimme in Europa erheben, um die Regeln zu ändern, die die ganze Last der illegalen Einwanderung auf die Länder des ersten Eintritts abwälzen» (Angelino Alfano, Innenminister und Vize-Regierungschef von Italien laut BA, 5.10.13) - Freilich ist ihm Italien wichtiger als die Flüchtlinge. Merkel sind die deutschen Wähler wichtiger als Italien und die Flüchtlinge. 
Barack Obama sagte in Jerusalem, als er über den Nahostkonflikt sprach:
"Als Politiker kann ich Ihnen eines versichern: Politische Führer werden keine Risiken eingehen, solange die Menschen dies nicht von ihnen verlangen." (SZ, 5.10.13)
Nachtrag von Dezember 2013:
Campino von den Toten Hosen spricht von über 19 000 Toten, die seit 1988  auf der Flucht nach Europa umgekommen sind. Weil es - nahe liegender Weise keine verlässliche Statistik dazu gibt - schließlich liegen keine Passagierlisten vor -, bin ich für jede halbwegs ernst zu nehmende Zahl für einen größeren zusammenhängenden Zeitraum dankbar.
2004 sprach die Organisation Pro Asyl für das Jahrzehnt für das zurückliegende Jahrzehnt von 5000 Opfern allein im Mittelmeerraum.

Anhang:
Festung Europa  (meine Anmerkungen dazu)
Flüchtlinge
Klimawandel, Klimakriege
Geheimdienst

3.10.13

Inklusion und getrennter Unterricht brauchen keine Alternativen zu sein

In Finnland bekommt jeder zweite Schüler Förderunterricht. Dennoch hat Finnland in den letzten 30 Jahren knapp zwei Drittel seiner Förderschulen geschlossen. Aber Timo Saloviita, der für "eine Schule für alle" eintritt, ist in Finnland Außenseiter.
Im finnischen Mainstream liegt Sakari Moberg, der wie Saloviita an der Universität von Jyväskylä lehrt und für einen Mittelweg zwischen Inklusion und getrenntem Unterricht vertritt, nämlich Sonderunterricht von Fall zu Fall (mehr dazu in ZEIT, 2.10.13, S.84).

vgl. dazu auch: Inklusion bei phoenix

Aktuelle Studie zu Inklusion und Förderschulen, 7.5.14 - M.E. besteht ein starkes politisches Interesse an einer Studienergebnis, das Vorteile der Inklusion zeigt. Die verhaltene Reaktion der Wissenschaftler gegenüber einer solchen Verwendung ihrer Studie scheint mir erfreulich. 
Über die Aussagekraft der Studie wird nur nach genauer Kenntnis der Untersuchungsbedingungen zu urteilen sein. (8.5.14)