12.11.17

"Lasst alle Hoffnung fahren!"

Gerhart Hauptmann hat eine sorglose Kindheit verbracht, wo ihm die Eltern alle Freiheit ließen und er als Bürgersohn von der Dorfjugend anerkannt sich als Bandenführer stark fühlen konnte und andererseits das Kunststück fertig brachte, die geistigen Anregungen der bürgerlichen Welt zu erhalten und sich gleichzeitig als Angehöriger zu Unterschicht zu fühlen und in ihren Kreisen zu leben. 
Als er - von der Dorfschule kommend, wo er nichts gelernt hatte, aber auch nichts zu lernen brauchte - nach Breslau an die Realschule kommt, wird er zum Schulversager. Er erlebt dann eine Zeit in der Landwirtschaft, die er erst als Befreiung und bald als wiederholtes Scheitern erlebt.
Er erlebt immer wieder Aufschwünge, auf die Abstürze folgen. Seine Hoffnung, er könne ein großer Bildhauer werden, führt ihn an die neue Breslauer Kunsthochschule, wo er, ohne irgendwelche Fortschritte zu machen, ins Bummelantentum verfällt und Schulden macht und sich durchhungert, um abends bei Bier und Tabak mit seinen Genossen zusammensitzen und über Kunstideale reden zu können. Nachdem er an einem Zwischenfall aufgezeigt hat, wie auch moralisch heruntergekommen die Kreise waren, in denen er verkehrte, schreibt er dann:

"Ein häßlicher Gemeingeist des rettungslos Mittelmäßigen in der Schule wirkte sich in dem Bestreben aus, nach Möglichkeit alles zu entmutigen, herabzustimmen, zu hindern, zu lähmen, was einen höherstrebenden Zug mit Hoffnung zu verbinden schien. Man konnte sich seiner nur schwer erwehren. Da hieß es: »Sie wollen ein Rauch, Sie wollen ein Hähnel werden! Bilden Sie sich nur das nicht ein! Sagen Sie nur gleich Michelangelo!« Immer wieder vernahm man die Worte: »Sie werden sich schön in die Nesseln setzen!« oder: »Bilden Sie sich nur das nicht ein! Machen Sie sich nur keine Hoffnungen!« – Die Nesseln aber, sie waren das Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit. Das, was man sich nicht einbilden sollte, war: ein großer Künstler zu werden, will heißen, überhaupt ein Künstler zu werden, da doch, genaugenommen, man entweder ein großer Künstler oder gar keiner ist. »Sagen Sie nur gleich Michelangelo!« sollte eine allgemeine Höhe bezeichnen, in die hinaufzustreben erwiesener- und anerkanntermaßen für einen Menschen unserer Tage Irrsinn sei. »Machen Sie sich nur keine Hoffnungen«: »Lasciate ogni speranza!« Dante hat diese Worte über dem Eingang zur Hölle gefunden."

(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

Die Hoffnung - bei ihm belebt durch die immer wieder erneuten Aufschwünge durch geistige Anregungen und Anerkennung - hält ihn in aller Not und aller Verwahrlosung aufrecht. Und die Hoffnung brauchen wir für uns und für die, für die wir verantwortlich sind.
Wenn wir diese Hoffnung aufgeben, verstoßen wir uns und die, denen wir weiterhelfen wollen, in die Hölle. 

mehr dazu:
Auszüge aus "Das Abenteuer meiner Jugend"
Volltext: Das Abenteuer meiner Jugend

Hauptmann hat diesen autobiographischen Text im Alter von 66 bis 73 Jahren verfasst. Begonnen in der Weimarer Republik zur Zeit der Weltwirtschaftskrise wurde er in der NS-Zeit nach der Berliner Olympiade und dem Einmarsch ins Rheinland herausgegeben. 



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