28.4.13

Was wir mit dem Asylrecht verloren haben

Nach der Erfahrung des Holocausts schrieben die Väter und Mütter des Grundgesetzes die Menschenrechte ausdrücklich als geltendes Recht in unsere Verfassung hinein. Darunter auch den Artikel 16 mit dem Satz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht".
Heute steht dieser Satz an erster Stelle im Artikel 16a. Doch im weiteren Text des Artikels wird der Satz dort so weit eingeschränkt, dass er im Grunde eine Aufhebung des Asylrechts bedeutet.
Ich habe immer wieder gegen diese "Fluchtabwehr" geschrieben und darauf hingewiesen, wie sehr wir damit die Menschenrechte anderer verletzen.
Trotzdem traf es mich wie ein Schlag, als ich heute bei Stefan Zweig las, wie er sein Schicksal als Emigrant in England erlebte.

Ich war in eine mindere, wenn auch nicht unehrenhafte Kategorie hinabgedrückt. Außerdem mußte jedes ausländische Visum auf diesem weißen Blatt Papier von nun an besonders erbeten werden, denn man war mißtrauisch in allen Ländern gegen die ›Sorte‹ Mensch, zu der ich plötzlich gehörte, gegen den Rechtlosen, den Vaterlandslosen, den man nicht notfalls abschieben und zurückspedieren konnte in seine Heimat wie die andern, wenn er lästig wurde und zu lange blieb. Und ich mußte immer an das Wort denken, das mir vor Jahren ein exilierter Russe gesagt: »Früher hatte der Mensch nur einen Körper und eine Seele. Heute braucht er noch einen Paß dazu, sonst wird er nicht wie ein Mensch behandelt.« [...]
Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte. Es gab keine Erlaubnisse, keine Verstattungen, und ich ergötze mich immer wieder neu an dem Staunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzähle, daß ich vor 1914 nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Paß zu besitzen oder überhaupt je gesehen zu haben. Man stieg ein und stieg aus, ohne zu fragen und gefragt zu werden, man hatte nicht ein einziges von den hundert Papieren auszufüllen, die heute abgefordert werden. Es gab keine Permits, keine Visen, keine Belästigungen; dieselben Grenzen, die heute von Zollbeamten, Polizei, Gendarmerieposten dank des pathologischen Mißtrauens aller gegen alle in einen Drahtverhau verwandelt sind, bedeuteten nichts als symbolische Linien, die man ebenso sorglos überschritt wie den Meridian in Greenwich. Erst nach dem Kriege begann die Weltverstörung durch den Nationalsozialismus, und als erstes sichtbares Phänomen zeitigte diese geistige Epidemie unseres Jahrhunderts die Xenophobie: den Fremdenhaß oder zumindest die Fremdenangst. Überall verteidigte man sich gegen den Ausländer, überall schaltete man ihn aus. [...] 
Es sind Kleinigkeiten, immer nur Kleinigkeiten, ich weiß es, Kleinigkeiten in einer Zeit, wo der Wert des Menschenlebens noch rapider gestürzt ist als jener der Währungen. Aber nur, wenn man diese kleinen Symptome festhält, wird eine spätere Zeit den richtigen klinischen Befund der geistigen Verhältnisse und der geistigen Verstörung aufzeichnen können, die unsere Welt zwischen den beiden Weltkriegen ergriffen hat. 

Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Die Agonie des Friedens
Diese "geistige Verstörung" ist offenbar zu uns zurückgekehrt. Der Versuch der Verfasser des Grundgesetzes ist gescheitert. Es gilt wieder: "Früher hatte der Mensch nur einen Körper und eine Seele. Heute braucht er noch einen Paß dazu, sonst wird er nicht wie ein Mensch behandelt."
Und es muss auch der richtige Pass sein.

Freilich, es gibt gute Gründe dafür. Die Welt von heute ist eben eine andere als die aus Stefan Zweigs jungen Mannesjahren.
Aber dass wir "gute Gründe" haben, lieber tausende Flüchtlinge ertrinken zu lassen, als ihnen Zutritt zur Festung Europa zu gewähren, beschämt mich. Dürfen wir eine Trennungslinie zwischen Menschen und deutschen Staatsbürgern errichten? Was gewinnen wir dadurch, was geht uns dadurch verloren?


Was würde Stefan Zweig über unser heutiges Europa sagen?

24.4.13

Was gegen Liebe zur Natur spricht

"Erziehen sie Ihre Kinder nicht zu Naturliebhabern.

 Wenn Sie Ihrem Kind beibringen, die Einsamkeit der unberührten Wildnis zu lieben, so wird es etwas lieben, das es immer seltener geben wird. Sie erhöhen dadurch die Chance, dass Ihr Kind unglücklich wird, weil es das, was es sich wünscht, nicht mehr finden wird in einer Welt mit acht Milliarden Einwohnern und einem im Vergleich zu heute doppelt so hohen Bruttoinlandsprodukt. Die neue Generation lernt besser von Anfang an, im pulsierenden Leben der Megastädte zu Frieden, Ruhe und Zufriedenheit zu finden und bei endloser Musikuntermalung in den Ohren."
Jorgen Randers: 2052.Der neue Bericht an den Club of Rome, S.383-84

Der Ratschlag, den Randers hier gibt, soll provozieren und doch ist er ernst gemeint. Denn das, was er an Beruhigendem über 2052 mitzuteilen hat, hört sich so an:
"Die negativen Auswirkungen werden erheblich sein – aber nicht katastrophal, zumindest nicht vor 2052. Es gibt dann mehr Dürren, Hochwasser, Extremwetterereignisse und Insektenplagen. Der Meeresspiegel ist um 0,3 Meter gestiegen, das Sommereis der Arktis ist verschwunden und das neue Wetter belastet Landwirte und Urlauber gleichermaßen. Ökosysteme sind einige 100 km in Richtung der Pole gewandert oder einige 100 Meter bergauf. Den schalenbildenden Tieren in den Ozeanen macht das saure Wasser zu schaffen. Viele Arten sind ausgestorben." (S.71)

Doch beängstigender ist, was er über die weitere Entwicklung andeutet:
"Und die Welt sieht 2052 mit Angst den weiteren Veränderungen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entgegen. Sich selbst verstärktender Klima wandeln ist die Sorge Nummer eins. Methangasemissionen aus der  schmelzenden Tundra führen zu weiterem Temperaturanstieg, der wiederum mehr Tundra zum Schmelzen bringt. Die Welt ist noch in Betrieb, aber mit höheren Betriebskosten und beängstigenden Aussichten auf den Rest des 21. Jahrhunderts." (S.71/72)

Ich kann die Lektüre von 2052.Der neue Bericht an den Club of Rome nur empfehlen. Einen Einblick verschafft schon der Text (mit vielen Zitaten) hinter dem obigen Link. Aber das bleibt oberflächlich gegenüber der Lektüre des Buches. 
(Am 13.1. habe ich Randers Buch insgesamt schon einmal vorgestellt.)

Übrigens: Wenn Sie unglücklicherweise (?) schon Naturliebhaber sein sollten, interessiert sie vielleicht diese fortlaufende Filmaufnahme aus einem Fischadlerhorst in Estland. (Mein Dank an Herrn Rau!)

22.4.13

Never Let Me Go - Verlass mich nicht

Im Roman Never Let Me Go (auf Deutsch: Alles, was wir geben mussten) erweist sich der englische Autor japanischer Herkunft Kazuo Ishiguro als ein Meister in der Schilderung der Psyche von Kindern und Jugendlichen.
Ich mag es, wenn Autoren ihre Figuren lieben, weil das die beste Voraussetzung dafür ist, dass wir uns in sie einfühlen können. Für diesen Roman, eine Dystopie von einem England, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, indem man eine besondere Klasse von Menschen schafft, die entgegen Kants kategorischem Imperativ keinen Wert für sich haben sollen, sondern nur Mittel sein sollen, ist das besonders wichtig.
Wir lernen Menschen lieben, denen andere das Menschsein abgesprochen haben (vgl. Primo Levi: Ist das ein Mensch?).
Die Zentralszene, wo die Erzählerin ein Kissen im Arm hält und zu der Zeile "Oh baby, baby, never let me go" singt und von einer Erwachsenen ("Madame") von außen beobachtet wird, die darüber in Schluchzen ausbricht, ist von großer Aussagekraft.
Wenn ich dabei an den sterbenden Jesus denke mit seinen Worten "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen" habe, so ist das vom Autor wohl nicht beabsichtigt. Aber aufgrund der Mehrdeutigkeit, die er der Zeile gibt, ist auch diese Mitbedeutung nicht ausgeschlossen.
Nach einer recht verbreiteten theologischen Auffassung wird Jesus, der sich von Gott verlassen fühlt,  als Werkzeug der Erlösungstat Gottes gesehen. Man könnte also die Erzählerin, der von der Gesellschaft die Menschenwürde verweigert wird, als die Vertreterin wahrer Menschlichkeit verstehen. (mehr dazu weiter unten)
Wie platt dagegen die deutsche Fassung des Titels "Alles, was wir geben mussten".*

*Die Übersetzung "Lass mich niemals los!" ist natürlich korrekter als die mit "Verlass mich nicht!", die ich um der Assoziation zur Kreuzesszene willen gewählt habe.

Susanne Mayer schreibt am Schluss ihrer Rezension des Romans: "Solche Bilder zu ertragen, muss man fast eine Figur aus einem Ishiguro-Roman sein, ergeben und ohne jeden Keim von Widerstand."

Ich denke eher: Wer das nur als literarische Dystopie liest und sich nicht empört über unsere Gesellschaft (Hessel: Empört Euch!"), die sich in mancherlei Hinsicht auf eine solche Gesellschaft zu bewegt (vgl. "Festung Europa"), dem fehlt etwas von der Moral der Hauptperson diese Romans.

Primo Levi hat in der Einleitung zu seinem Buch über Auschwitz formuliert:
Denket, daß solches gewesen.
Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen.
Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet
In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen,
Wenn ihr euch niederlegt and wenn ihr aufsteht;
             Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern.
             Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen,
             Krankheit soll euch niederringen,
             Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.

Im Blick auf Never Let Me Go müsste es freilich heißen: "Bedenkt, dass ihr auf solch eine Gesellschaft zugeht, wenn ihr die Entwicklung weiter laufen lasst!"

Meine persönliche Haltung zur Organspende habe ich hier formuliert.

Nach diesen allgemeinen Überlegungen etwas zum Inhalt:
Die Erzählerin, Kathy, hilft einem Jungen, Tommy, der in Hailsham, dem Internat, in dem sie leben, von allen Mitschülern gemobbt wird (auch wenn die Aussage einer Betreuerin für ihn vielleicht noch wichtiger ist.) Obwohl  er der einzige Junge ist, der ihr wichtig ist, und obwohl es ihr einen Stich gibt, als ihre beste Freundin, Ruth, sich mit ihm anfreundet, übernimmt sie es, als dies Verhältnis gestört ist, in Ruths Auftrag, es wieder anzuknüpfen. (In gewisser Hinsicht ähnelt das der Situation in Sense and Sensibility, wo Elinor dem von ihr geliebten Mann die Möglichkeit geben soll, die Frau zu heiraten, die er nicht liebt. Das heißt: Die liebende Frau wird aufgefordert, sich und ihren Geliebten unglücklich zu machen, und lässt sich darauf ein, weil sie glaubt, das sei das Moralischste.)
Ruth weiß freilich, dass Kathy Tommy besonders nahe steht und ihn besser versteht als alle anderen.
Dennoch hält Kathy sich zurück, als sie merkt, dass Tommy ihr mehr vertraut als Ruth, und verschweigt ihr gegenüber aus schlechtem Gewissen diese Vertrauensbeweise.
Dies wird sehr eindrücklich geschildert, ohne dass es thematisiert wird. Wieder spielt dabei der Song "never let me go" eine wichtige Rolle. Tommy hilft Kathy, die Kassette mit dem Song, die sie verloren hatte, wieder zu finden und zwar in Norfolk, das die Internatsschüler seit frühen Tagen mit einem Fundbüro assoziieren. So finden auch Kathy und Tommy ihr "verlorenes" Vertrauensverhältnis zueinander wieder.

Ein Zitat dazu:
That moment when we decided to go searching for my lost tape, it was like suddenly every cloud had blown away, and wie had nothing but fun and laughter before us.
 Deshalb zögert Kathy sogar, als sie die Kassette findet, diese zu kaufen, um nicht die neue Gemeinsamkeit zu zerstören. Als schließlich Tommy ihr die Kassette kauft, bekommt der Song "Oh baby, baby, never let me go" seine ursprüngliche, nicht auf ein Baby gerichtete Bedeutung wieder: Geliebte, lass mich nicht von dir gehen.

Am Ende ihrer Internatszeit erfahren die Schüler, dass sie keine Eltern haben und nur geklont worden sind, um als Organspender zu dienen. Kathy arbeitet zunächst als Betreuer der Organspender und trifft dabei wieder mit Ruth zusammen. Sie versöhnen sich, und Ruth fordert sie auf, zusammen mit Tommy "Madame" (die Frau aus der Außenwelt von der ersten Song-Szene) aufzusuchen und für sich für eine Zeit des Aufschubs zu bitten, damit sie eine Zeit als Paar zusammenleben können.
Als ihnen das gelingt, erfahren sie, dass die menschliche Behandlung, die sie in Hailsham erfahren haben, nur dem politischen Einsatz einer Gruppe um "Madame" und ihre Schulleiterin zu verdanken war. Seit es aber einem Forscher gelungen ist, den Klonen eine höhere Intelligenz als Normalmenschen zu verleihen, hat die Gesellschaft jede Ausbildung der Klone verboten, weil befürchtet wird, dass die Klone die Herrschaft übernehmen könnten. Der Versuch, den Klonen zumindest zeitweise eine menschenwürdige Behandlung zuzugestehen, ist gescheitert.

Die Begegnung der beiden Klone mit den Betreuern, die sich für sie eingesetzt haben, wird wie ein Theaterstück gestaltet. Da aber weiterhin alles aus Kathys Sicht geschildert wird, erhält der Leser keinen Einblick darein, durch welche Kontrollmaßnahmen die Klone, die sich frei bewegen dürfen, gezwungen werden, sich immer neuen Organspenden zu unterwerfen. Die Kritik beschränkt sich somit ganz auf die Vorenthaltung der Menschenrechte, nicht auf den totalitären Charakter der Gesellschaft im einzelnen.

Am Ende des Romans fährt Kathy ein paar Wochen nach Tommys Tod wieder nach Norfolk und hält an einer Stelle, wo außer einem Stacheldraht und ein paar Bäumen sich nichts dem Wind und dem Müll, den er über die Felder treibt, in den Weg stellt.
I was thinking about the rubbish, the flapping plastic in the branches, the shore line of odd stuff caught along the fencing, and I half-closed my eyes and imagined this was the spot where everything I'd ever lost since my childhood had washed up, and I was now standing here in front of it, and if I waited long enough, a tiny figure would appear on the horizon across the field [...]  I just waited a bit, the turned back to the car, to drive off to whatever it was I was supposed to be.
Der Roman ist eine Dystopie, die unsere Empörung wachrufen soll, aber er schildert sie uns in einer Weise, dass wir uns selbst in ihr wiederfinden können, mit unseren Hoffnungen, unseren Enttäuschungen und der Art, wie wir damit umgehen.

Ich sehe eine große Ähnlichkeit von Anne Franks Versteck und dem Internat Hailsham. Die totalitäre Gesellschaft, vor der dieses Refugium schützen soll, wird freilich nicht gezeigt, Die Klone bewegen sich in der  sie unterdrückenden, nicht nur ausbeutenden, sondern regelrecht ausweidenden Gesellschaft wie in einem unsichtbaren Getto.
Die Nähe zur Behandlung von Asylbewerbern (keine Arbeitserlaubnis, Pflicht, sich in einem engen Bezirk aufzuhalten) und Gefangenen (Fußfesseln) ist erkennbar.

Trotz der deutlichen Gesellschaftskritik trifft m.E. folgende Charakteristik des Romans durch Susanne Meyer zu:
Da ist ein Klang von Stille. Mit den ersten Zeilen wird dieser Ton angeschlagen, wie in der Eröffnung einer Cellosonate, drängender Abstieg in gefasste Melancholie. Vorsichtig, zurückhaltend setzen sie ein, die Romane von Ishiguro, aber sie alle variieren ein einziges überwältigendes Thema – was der Mensch ist in seiner Ungeschütztheit, wie er sich darin bewähren kann, vor allem vor sich selbst.
Dieser Text ist eine leicht veränderte Fassung eines Artikels, den ich an abgelegenerer Stelle im August 2012 veröffentlicht habe. Als ich ihn kürzlich wieder gelesen habe, gefiel er mir besser, als das meiste, was ich in letzter Zeit verfasst habe. Deshalb nehme ich ihn in diesen Blog auf, auch wenn die Thematik über pädagogische Fragen hinaus geht. 

14.4.13

Leymah Gbowee: Wir sind die Macht - oder: Das Auftauchen der Frauen

 In ihrem Buch "Wir sind die Macht" (Mighty be our Powers) berichtet Leymah Gbowee davon, wie im Liberianischen Bürgerkrieg ihr Land in Chaos versank. Regierungssoldaten wie Rebellen mordeten hemmungslos.
Leymahs Mutter musste erleben, dass ein Hungernder ermordet wurde, weil sie ihm etwas Reis gegeben hatte. Es ging nämlich das Gerücht um, dass die Rebellen Reis verteilten, um die Bevölkerung für sich zu gewinnen."'Ich habe jemanden umgebracht!', sagte sie wieder und wieder." (S.44) Sie sieht sich schuldig, weil sie geholfen hat.
Leymah Gbowee schreibt dann davon, wie sie eine Friedensbewegung der Frauen  (WLMAP) in Bewegung setzte ("Organized by social worker Leymah Gbowee, the movement started with thousands of local women praying and singing in a fish market daily for months." - Wikipedia über die WLMAP).
Diese Bewegung stürzte - unter anderem mit einem Sex-Streik der Frauen wie in Lysistrata - gewaltlos 2003  den erfolgreichen Bürgerkriegssieger Charles Taylor (genauer hier) und half Ellen Sirleaf die Wahl zur Präsidentin zu gewinnen.
Im Film Pray the Devil Back to Hell (2008) wird ihr Kampf geschildert (sieh: Trailer).
Über die Wirkung des Films, der u.a. mit Originalaufnahmen der Überwachungskameras des Präsidenten arbeitete, schreibt Gbowee:
"Als das erste Mal der mir einst so vertraute Anblick der Frauen in Weiß mit ihren Transparenten ins Bild kam, stiegen mir die Tränen in die Augen. [...] Wir hatten alle derart viel Schweres durchgemacht, und dennoch strahlten wir - vor allem die Frauen vom Land - eine unglaubliche Entschlossenheit aus. Der Hunger der gewöhnlichen Menschen nach Frieden war immens gewesen." (S.286)
Ellen Johnson Sirleaf und Leymah Gbowee erhielten für ihren Kampf 2011 den Friedensnobelpreis.

Wer hilft uns Männern aus unseren Kriegen, wenn Frauen weiter so verschwinden wie bisher?

Das Verschwinden der Frauen

Schon 1990 hat Amartya Sen darauf hingewiesen, dass auf der Welt schon damals über 100 Millionen Frauen fehlten . Jetzt sind es allein in China über 160 Millionen. Sie fehlen, weil aufgrund der Ultraschalldiagnostik schwangere Frauen feststellen können, welches Geschlecht ihr zukünftiges Kind haben wird, und dann durch Abtreibung dafür sorgen können, dass nur das Kind mit dem "richtigen" Geschlecht geboren wird.
Ich musste von meinem Bruder auf Mara Hvistendahl: Das Verschwinden der Frauen hingewiesen werden, um zu begreifen, dass diese Möglichkeit schon jetzt in vielen Ländern zu schwerwiegenden gesellschaftlichen Problemen führt.
Es ist eben nicht nur das individuelle Problem von 40 Millionen chinesischen Männern, die in der gegenwärtigen Situation in China keine Frau bekommen können. Denn dieser Missstand führt zu weiteren:
Eltern kaufen für ihren Sohn schon, wenn er noch im Kindergartenalter ist, ein kleines Mädchen, das sie wie eine Schwester mit ihm aufziehen, damit er es, wenn er erwachsen ist, heiraten kann. (Was die Frau fühlt, die plötzlich mit der Forderung konfrontiert wird, ihren vermeintlichen ruder zu heiraten, Nebensache.)
Frauenräuber ziehen herum, um für ledige Männer Frauen zu organisieren, damit die heiraten können.
Vielleicht das humanste Verfahren ist, wenn Heiratsvermittler Frauen aus ärmeren Ländern einen Ehepartner in einem reicheren Land besorgen. (In Wirklichkeit besorgen sie freilich dem Mann eine Frau, die von ihm abhängig ist, weil sie über Jahre hin die Landessprache nicht zureichend beherrscht.)
Überhaupt führt die Tatsache, dass Frauen fehlen, nicht einfach nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage dazu, dass ihr gesellschaftlicher Wert steigt, obwohl das für Chinesinnen aus Ober- und Mittelschicht weitgehend gilt. Viel näher liegt die Tendenz, dass in ärmeren Schichten bevorzugt Mädchen geboren werden, weil sie ein wertvolles Handelsobjekt darstellen, während in reicheren Schichten der männliche Erbe bevorzugt wird.
Was ich eben geschäftsmäßig zynisch ausgedrückt habe, hat einen realen Hintergrund:
Familien aus Taiwan und Südkorea suchen für ihre Söhne Frauen in Vietnam. Diese sorgen dann für ihre Herkunftsfamilien, die dadurch sozial aufsteigen können (ähnlich, wie es die in die Prostitution getriebenen thailändischen Mädchen für ihre Familien tun).
Das führt freilich dazu, dass in Orten, aus denen besonders viele Frauen ins Ausland heiraten, ärmeren Männern die Chance genommen wird, eine Frau zu finden. Gegenwärtig ist das Problem noch einigermaßen begrenzt. Was aber, wenn generationenlang die jeweils 40 Millionen chinesischen Männer, die keine chinesische Partnerin finden können, auf den vietnamesischen Heiratsmarkt strömen? Schon jetzt scheinen die Heiratsvermittler zur Ausweitung des Angebots auf noch ärmere Länder - wie zum Beispiel Kambodscha - auszuweichen.
Hilft es da, wenn in den USA 75% der Kinder, bei denen über Präimplantationsdiagnostik das Geschlecht bestimmt werden kann, Mädchen sind, weil Mädchen bessere Schulleistungen erbringen und leichter zu erziehen sind?
Was bedeutet das für ein Mädchen, dessen Geschlecht aus diesem Grund ausgewählt worden ist, das aber diese Erwartungen nicht erfüllt?

Schließlich: was bedeutet es, wenn Frauen wie die Friedensnobelpreisträgerinnen Leymah Gbowe (vgl. den folgenden Artikel), Ellen Johnson Sirleaf und Tawakkul Karman gar nicht erst geboren werden?

Links zum Thema:
http://www.sueddeutsche.de/wissen/abtreibungen-bei-falschem-geschlecht-der-moerderische-makel-ein-maedchen-zu-sein-1.1562673-2

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/mara-hvistendahl-das-verschwinden-der-frauen-egal-was-es-wird-hauptsache-ein-junge-12128914.html

http://www.ndr.de/kultur/literatur/buchtipps/geburtenkontrolle101.html

http://www.buecher.de/shop/fachbuecher/das-verschwinden-der-frauen/hvistendahl-mara/products_products/detail/prod_id/35650211/

http://ucatlas.ucsc.edu/gender/Sen100M.html

http://www.firstthings.com/onthesquare/2012/07/a-review-of-mara-hvistendahlrsquos-unnatural-selection

http://en.wikipedia.org/wiki/Little_Emperor_Syndrome

8.4.13

Weltgeschichte?

Es ist nicht einfach mit dem Geschichtsbegriff. Was soll er umfassen? Die Geschichte allen Seins vom Urknall her? Die Geschichte der Menschheit? Die erinnerte Geschichte der Menschheit, also die durch schriftliche Selbstzeugnisse der Menschen zur Erinnerung festgehaltene Geschichte? (zum Geschichtsbegriff vgl. Geschichte)

"Die Weltgeschichte besteht aus vielen Strängen, die auch nicht immer miteinander verbunden waren. Man kann sie nicht als eine Geschichte erzählen. Sie setzt sich aus vielen Einzelgeschichten zusammen. Man muss immer wieder neu einsetzen. Die Grundeinheiten sind aber nicht – wie das 19. Jahrhundert uns glauben machen wollte – Staaten oder Nationen, sondern Regionen, ganze Weltteile." (meint Jörg Fisch in der FR vom 29.9.2012)

"Ob und wie man etwa Universalgeschichte, Weltgeschichte und Globalgeschichte unterscheiden kann und muss, beschäftigt viele kluge Köpfe. Konkrete Umsetzungen hingegen sind vergleichsweise rar." (stellt Andreas Ecker in der FR vom 8.1.2004 fest)

Dann stellt er gleich zwei Bücher zum Thema vor:
Alexander Demandt: Kleine Weltgeschichte, München 2003 und
Jürgen Osterhammel / Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen - Prozesse - Epochen, München 2003

Johannes Fried unterscheidet, wie folgt:

"Universalgeschichte meint die Weltgeschichte von der Steinzeit bis zur Gegenwart.
Globalgeschichte legt den Akzent weniger auf die Geschichte der Menschheit von Anfang an, als vielmehr auf die wechselnden Formen globaler Kommunikation."

Und trotz der vielen vorliegenden Weltgeschichten meint er, eine Weltgeschichte könne man nicht schreiben. Man brauche dafür eine Meistererzählung. Eine solche Erzählung gebe es aber noch nicht, Ranke habe sie versucht, er sei aber im achten Jahrhundert steckengeblieben.
"Eine Weltgeschichte im Sinne von Globalgeschichte muss heute ganz anders vorgehen Da gibt es nicht mehr die eine Zentralstrecke von Sumer, Ägypten, Griechenland, Rom, Mittelalter, Neuzeit, Moderne bis zu uns, von der aus der Rest der Welt 'entdeckt' wird." (J. Fried in FR vom 8.4. 2013, S.20/21)

Den Versuch eines Einzelnen, dennoch eine solche Geschichte zu schreiben bezeichnet Andreas Ecker als "burschikos":
"Vergleichsweise burschikos geht Alexander Demandt zu Werke. Der Berliner Althistoriker, erfahren im Genre der Synthesen und Verdichtungen, durchschreitet im Eiltempo die Geschichte unserer Welt vom Urknall bis zur unmittelbaren Gegenwart. Ein solches Unterfangen in Zeiten beckmesserischen Spezialistentums verdient selbstverständlich grundsätzlich Respekt. Doch hätte man etwa gerne gewusst, nach welchen Kriterien der Autor die gewaltige Stoffmasse geordnet hat." (Ecker in FR)

In der Wikipedia habe ich eine Menschheitsgeschichte eingestellt, die wie die üblichen Weltgeschichten der Verlage eine Zusammenstellung von vielen Einzeldarstellungen ist, die nur zu Teilen von mir selbst formuliert worden ist.
Hier werde ich nach und nach auf Probleme eingehen, die mir dabei begegnet sind.

Das ging schon mit der Bezeichnung (Wikipedia: Lemma) los. Der Begriff "Weltgeschichte" war in der deutschen Wikipedia schon vergeben für Weltgeschichtsschreibung. So habe ich mich für das Lemma "Menschheitsgeschichte" entschieden. Was aber unterscheidet das von Globalgeschichte und Universalgeschichte?
Johannes Frieds Position habe ich oben zitiert. Die Wikipedia setzt  Globalgeschichte und Universalgeschichte mit Weltgeschichtsschreibung gleich, insofern sie auf dieses Lemma verlinkt.

Diskussionswürdig finde ich die Ansicht Frieds, man könne keine Weltgeschichte schreiben, weil man dafür eine Meistererzählung brauche. Zwar glaube ich gern, dass die großen Sammelwerke wie Propyläen- und Fischer-Weltgeschichte keine Meistererzählung haben; aber im Mittelalter, der Zeit der vielen Weltchroniken (z.B. Frutolf u. Ekkehard), gab es die schon, und Hegel und Marx haben neue entwickelt, auch wenn wir sie heute nicht mehr als überzeugend ansehen. In der Sowjetunion fanden sich auch die Historikerkollektive, die bereit waren, ihre Geschichtsschreibung an solch einer Meistererzählung auszurichten. Es braucht also nicht mehr die Leistung eines Einzelnen wie Ranke, um das Riesenwerk zu verfassen. Im Zeichen der Kooperation in Wikis und bei der Möglichkeit der Verlinkung könnte sogar eine große Menge von Einzelstudien in einem Gesamttext verlinkt und damit ein Darstellungsnetz erzeugt werden, das zwar keine lineare Erzählung darstellt, sich aber an einer linearen Erzählung orientiert.

Wie seht ihr es? Kommentare würden mich freuen.