30.8.11

Bleibt Fontanefan Fontanefan?

"Richard ist immer noch Richard", so heißt ein Artikel im neusten Heft von Publik-Forum über ein Gespräch mit Richard Taylor, einem Alzheimer-Aktivisten. Dort heißt es auf Seite 47:

Bevor bei ihm mit 58 Jahren Demenz diagnostiziert wurde, lehrte er Psychologie an einer texanischen Universität. Richard Taylor ist inzwischen beinahe siebzig Jahre alt. Und immer noch ein gefragter Redner. Kürzlich beendete er eine Vortragsreise durch Europa, auf der er auch sein Buch mit dem Titel »Alzheimer und ich« vorstellte. Mit großem Vergnügen gibt er Interviews. Da er nicht mehr allein reisen kann, begleitete ihn seine Frau. Sie ist auch bei unserem Treffen in Hamburg dabei. Richard Taylor ist ein vollendeter Gastgeber, er stellt uns vor, holt Getränke, schenkt ein … (nachzulesen auf www.publik-forum.de)

Der Artikel macht Mut, ohne zu verschweigen, was man als Dementer braucht: "ein informiertes soziales Netzwerk", "ein Netzwerk aus Menschen, die wissen, dass ich dement bin. Und die Demenz verstehen. [...] Er verliert seine Fähigkeit, uns zu erklären, wer er ist. Aber wir haben ja noch unsere Fähigkeit, ihn zu verstehen. Das Verständnis geht über von mir zu ihnen. Aber wir mögen Richard immer noch." (S.50)
Für einen Psychologen ist es freilich weit leichter, so ein Netzwerk aufzubauen. Und wenn man erst einmal neunzig ist und alle Bekannten sind einem weggestorben, ja, dann braucht man wohl schon verständnisvolle Pfleger. Das fürchte ich schon.
Wenn man's genau nimmt, braucht man ja schon vorher so ein Netzwerk, von Menschen, die einen verstehen.
Bei mir ist es z.B. neben den eher peinlichen Schwächen, die ich hier nicht nenne, dass ich lieber Blogartikel schreibe und in der Wikipedia herumfuhrwerke statt fernzusehen, dass ich nur wenige Gerichte kochen kann und überhaupt nicht ausdauernd in Hausarbeit bin ...
Was man noch alles bei mir in Kauf nehmen muss, weiß ich - abgesehen davon, dass ich es nicht zugeben würde - schon jetzt nur unvollständig.
Als Demenzkranker werde ich zunächst sehr viel mehr darüber wissen und darüber traurig und wütend werden und oft nicht wissen, wie ich daraus herauskomme. Aber weiß ich es heute?
Über die ganz wichtige Rolle von Musik, über Kinder und mehr kann man im Aufsatz weit mehr lesen.
Was fehlt, ist, dass Tiere fast noch besser darin sind als Kinder, Menschen zu verstehen, die sich nicht erklären können. Aber das kann man sich ja auch selber denken. Oder?

23.8.11

Stolperstein: Kafkas Schwester Ottilie Davidová

"Nach allem, was wir über sie wissen, können wir uns vorstellen, daß sie, von den Kindern umgeben, helfend, tröstend, beistehend, über ihren eigenen Tod hinwegkam." So schreibt Alena Wagnerová in "Deutsche Schwestern", Berlin 1997 über Ottilie Davidová, Kafkas jüngste Schwester, seine Lieblingsschwester, in dem Abschnitt "Das ungeschriebene Leben" (S.305).

Wie kommt man über seinen Tod hinweg?

Was Wagnerová deutlich machen will: Ottilie hat sich von ihrem Mann scheiden lassen, um nicht ihre Töchter zu gefährden und nicht als Frau eines Ariers vor ihren Schwestern, die mit Juden verheiratet und daher schon deportiert waren, bevorzugt zu sein. Sie wollte anderen helfen, ihnen keine Bürde sein. Das ist ihr wohl bis zu ihrem Tod in Auschwitz gelungen.

Ottilie Davidová, einer der vielen Namen, mit denen wir nichts verbänden,wäre der ihres Bruders Franz Kafka nicht weltbekannt, und der einer Person zugehört, die uns ein großes Vorbild für unsere Lebensführung sein könnte.



Was wissen wir über die Personen, die diese Namen tragen? Könnten sie uns Vorbild sein?

Sie stehen an der Gedenkstätte auf dem Michaelsberg in Wiesbaden. Nicht jedes angegebene Todesjahr wird stimmen, man kennt es nicht. Man weiß nur, dass nach 1945 kein Mensch in Deutschland mehr allein deswegen ermordet wurde, weil er Jude war - wie Ottilie Davidová.

11.8.11

"Vergiss es!" So wirbt die ZEIT für ihre neuste Ausgabe

Was ist nicht nötig, was sollte man unbedingt lernen?
Ja, diese Diskussion ist sehr wichtig.

Zwei Aussagen aus der Diskussion stießen mir auf:
"Kreidewissen bringt in Musikstunden gar nichts. Das haben viele Lehrer allerdings nicht verstanden, obwohl es den Verantwortlichen in den Kultusministerien längst klar ist." (Claus Spahn)

"Diese Pläne [Lehrpläne] sind große Wunschzettel von Fachdidaktikern, die aus der Logik ihrer Disziplin heraus eine Liste von dem aufstellen, was jemand wissen sollte - weitgehend losgelöst von der Praxis in den Schulen." (Christoph Drösser)

Dazu kleine Erfahrungsschnipsel:

  • Die Musikklassen, in denen Schüler nicht nur von Musikpraxis ausgehen, sondern nebenbei auch Konzentration, Disziplin und Teamwork lernen, sind von Lehrern angeregt und langsam, langsam gegen (und gelegentlich auch mit) Kultusbürokratie verwirklicht worden. 
  • Der Vorsitzende einer Lehrplankommission für Geschichte - Lehrer und ausgewiesener Fachdidaktiker -  sagte, als er uns den Lehrplan vorstellte: Den Lehrplan halte ich für nicht durchführbar. Ich wollte die Wahl zwischen griechischer und römischer Geschichte erlauben. Als das Kultusministerium eingriff, bekam ich große Schwierigkeiten, als die Eltern gehört wurden, fiel mein Plan völlig durch. Also muss es jetzt griechische und römische Geschichte sein. Ich war federführend und habe Ihnen den Lehrplan jetzt zu erläutern und Ihnen zu sagen, wie Sie ihn umsetzen sollten. Das ist mein Auftrag vom Kultusministerium und das versuche ich jetzt. [Ich gebe diese mündliche Äußerung natürlich nur sinngemäß wieder, deshalb keine Anführungszeichen. - Fontanefan]


Die Diskussion muss sein und sie wird zu keinem wirklich befriedigenden Ende kommen. Deshalb wird sie immer wieder von neuem geführt werden (müssen).
Wissenschaft besteht in dem Versuch, bisherige Erkenntnisse zu widerlegen. Lehrplandiskussionen dienen demselben Zweck. Nicht alles, was dabei gesagt wird, ist wirklich hilfreich. Das gilt auch für Forschungsergebnisse.

Kernkraftwerke sind sicher. Warum nur um alles in der Welt ist Angela Merkel von der Laufzeitverlängerung abgekommen?
Kann man aus der Geschichte lernen? - Gegenstand für eine lohnende neue Diskussion.

8.8.11

Wissensarbeit = Arbeit 2.0?

„Ein Wissensarbeiter ist jemand, der mehr über seine Tätigkeit weiß als jeder andere in der Organisation“, definiert Peter Drucker.
Weil das so ist, argumentiert Ulrich Klotz, könne kein Vorgesetzter besser wissen, was der Wissensarbeiter zu tun habe, als dieser selbst. So nachzulesen in dem höchst lesenswerten Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 8.8.11. Deshalb greife "Frederick W. Taylors Konzept der 'wissenschaftlichen Betriebsführung'" für Wissensarbeiter nicht mehr, weil es Menschen als Teil einer Maschine begreife, und das führe zu "Frust und Demotivation".
Die richtige Arbeitsorganisation glaubt er im Internet bei Projekten wie Linux, Firefox und Wikipedia zu finden. In diesen Projekten herrsche "ein anderes Verständnis von geistigem Gemeineigentum. Hier sind die Menschen motiviert und gerne bereit, ihr Wissen und ihre Ideen anderen oder einer Organisation zur Verfügung zu stellen, weil ihnen Vertrauen, Respekt, Anerkennung, Fairness und Toleranz entgegengebracht wird." Das sei Arbeit 2.0, weil hier auf gleicher Augenhöhe gearbeitet werde.
So weit mein Referat seiner Thesen.


So sympathisch mir seine Haltung ist. Ich muss seiner Darstellung doch an wichtigen Punkten widersprechen:
Es ist zwar richtig, dass in diesen Projekten eine andere Motivation herrscht als anderswo. Doch "Vertrauen, Respekt, Anerkennung, Fairness und Toleranz" finden sich - zumindest in der Wikipedia - oft nicht. 
Weshalb ist das nicht so? 
Zum einen, weil Menschen nicht alle auf Vertrauen etc. angelegt sind, aber auch, weil es mit Vertrauen allein nicht immer getan ist. Denn freilich hat der Verfasser von zu Guttenbergs Dissertation über seine Arbeit mehr gewusst "als jeder andere". (Das gilt unabhängig davon, wer diese Arbeit verfasst hat.) Aber dennoch musste die Arbeit kontrolliert werden. Dasselbe ist der Fall in Wikipedia und Open-Source-Projekten. Bei letzteren gibt es freilich eine objektive Kontrolle: Funktioniert das Programm oder nicht. (Dass die Kontrolle oft nicht ausreichen wird, steht auf einem anderen Blatt.) Bei der Wikipedia aber fehlt dieses Kriterium. Deshalb wird es durch die Forderung nach Belegen, durch Peer-Bewertung und durch Kontrolle durch "Administratoren", Personen mit (ein wenig) mehr Rechten, ersetzt. Dass dies des öfteren "Anerkennung, Fairness und Toleranz" gefährdet und nicht allzu selten sogar zum Umschlag in ihr Gegenteil führt, weiß, wer sich in der Wikipedia ein wenig besser auskennt.
Dennoch gibt der Erfolg dieser internetbasierten Projekte Ulrich Klotz im wesentlichen Recht.


Dass man daraus für die Schule lernen könnte, beweist die seit langem geführte Diskussion über Lernen 2.0, auf die ich hier im Prinzip nur verweisen kann. Auf einen ganz aktuellen Beitrag möchte ich aber ganz gezielt hinweisen: auf Herrn Larbigs Hinweis, dass bei aller Binnendifferenzierung in der Schule weiterhin auf zweierlei aufbauen solle: auf die spezifische Anregung durch den Gegenstand und die Autonomie der Schüler.

1.8.11

Von der Umwelt über die Mitwelt zur Natur

1. Umkehr von der Mitte der Welt zur kosmischen Integration. Oder: von der Hybris der Weltherrschaft zur kosmischen Demut.
Der Mensch darf wegen seines gestiegenen Einflusses nicht mehr gegen die Natur kämpfen. Er muss lernen, sich anzupassen, wie es jedes Lebewesen tut. Aber nicht biologisch, sondern durch die Wahl seiner Technik.
2. Von der Umwelt zur Mitwelt. Von der Mitwelt zur Natur.
"Naturkatastrophen" sind völlig normale Vorgänge. Katastrophen sind sie nur für die Menschen, die sich unzureichend an die Natur anpassen. - Dabei soll nicht gesagt sein, dass Menschen sich so gut an die Natur anpassen könnten, dass nie Menschen umkommen.
Nicht Umweltschutz, sondern Anpassung an die Natur sollte im Grundgesetz verankert werden.
3. Vom Fortschrittsdenken zum Kreislaufdenken.
Anders als das Betonen des Kreislaufes es tut, halte ich am gerichteten Verlauf der Geschichte fest. Wobei Geschichtsfortschritt nicht oft zu erkennbaren Lebensverbesserungen führt.
Aber menschliches Wirtschaften muss berücksichtigen, dass es auf Funktionieren der natürlichen Kreisläufe als die einzige Lebensgrundlage der Menschheit angewiesen ist.
4. Schöpfungsethik ist Sabbatethik. Und Sabbatethik ist Ethik der Erneuerung des Lebens.
So wie menschliches Leben auf die Erholung im Schlaf angewiesen ist, so ist die Fruchtbarkeit der Natur auf die Vollendung von Zyklen angewiesen. Dauerhafte Ausbeutung unterbricht die Zyklen. Am deutlichsten ist es bei den fossilen Energien. Was in vielen Jahrmillionen entstand, wurde von Menschen in zwei Jahrhunderten abgebaut, vernichtet.

Die schräggedruckten Passagen sind wörtliches Zitat der Thesen Jürgen Moltmanns im Aufsatz "Von der Hybris zur Demut", in: Publik Forum Nr.14 2011, S.31-32
Die Ergänzungen lehnen sich z.T. an Moltmann an, z.T. formulieren sie bewusst etwas abweichende Positionen. In den Hauptgedanken stimme ich völlig mit Moltmann überein, auch wenn ich sie nicht so theologisch formulieren würde.
Der Text ist als Hinweis auf Moltmanns Gedanken gedacht.