29.9.11

Ist das Internet für uns überlebenswichtig?

Robert Basic hat in seinem Post "Das Dogma des Internets: Überleben" ein eindrucksvolles Bild davon gezeichnet, was für eine Rolle das Internet für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik spielt.

Seine Darstellung klingt ganz nach "Wollt ihr denn in der Steinzeit leben?", wie es uns lange als die Alternative zur Atomkraftnutzung angeboten worden ist.
Wenn er Recht hat - und meine Kenntnisse reichen in keiner Weise aus, ihn zu widerlegen - dann wäre es in der Tat an der Zeit Alternativen einzubauen, wie die Archivare, die mit Papier und Mikrofilmen als Medien arbeiten, weil die elektronischen Speichermedien gegenwärtig eine zu hohe Systemwechselrate haben, um lokalen und regionalen Archiven eine sichere Speicherung auch nur über 30, 40 Jahre zu ermöglichen.

Subsistenzwirtschaft (Selbstversorgung) gibt es zwar noch in erheblichem Umfang, aber in einem Großteil der Industrieländer gibt es sie nur noch für einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung. Damit ist aber auch die Ernährungssouveränität verbunden, die neuerdings als eine Art Grundrecht propagiert wird.
Facebook arbeitet schon lange daran, unsere Privatheit abzuschaffen, bislang nur für einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung so ganz erfolgreich.
Wie viele unserer Grundrechte wollen wir dem Internet opfern? Soll es das Ende der Menschenrechte bedeuten?
Wenn es nicht mehr funktionierte, wäre offenbar für Hunderte von Millionen das Recht auf Überleben beseitigt, für die stellt sich die Frage nach den Menschenrechten nicht mehr. Aber was ist mit denen, die wir opfern, wenn es funktioniert?

Zusatz vom 1.10.:
Susan Garfield meint, Kinder, die sich ständig im Netz aufhalten, erhielten zwar starke Reize in Bild und Ton, erlebten aber nicht, dass ihre Handlungen im realen Leben Folgen haben. Das sei eine gefährliche Verzeichnung der Realität. Sie könnten so langfristig in einem kindlichen Weltverständnis stecken bleiben.
Wie sehr sich dies vom erwachsenen Verständnis unterscheidet, erlebte ich einmal besonders eindrucksvoll an meiner Tochter. Sie berichtete mir: "Ich habe aus versehen auf meine Puppe getreten. Ich habe gleich 'Entschuldigung' gesagt. Aber sie ist immer noch kaputt."
Da hat meine Tochter in der Tat eine intensive Erfahrung von Handlungsfolgen gehabt. (Zum Glück gab es auch positive.) Ist es wirklich nicht problematisch, wenn Handlungsfolgen immer virtuell zu bleiben scheinen, weil ein Resetknopf sie beseitigt?
Mehr dazu in der Sendung  homo interneticus des ZDF.

28.9.11

Wir werden bleiben wollen, wenn wir gehen dürfen

Stadtteilarbeit für die evangelische Kirche in Rostock, wie Joachim Gauck sie schildert, erinnert mich an die Stadtteilarbeit Obamas in Chikago. Wie sollte sie es auch nicht. Dennoch macht es einen Unterschied, ob man Berichte aus der Arbeit der evangelischen Kirche in der DDR aufnimmt in einer Zeit, wo die Unterdrückung noch völlig präsent war, oder heute, wo die Rolle, die die Kirche für die friedliche Umwälzung gespielt hat, ihr Bild bestimmt.
Wie weit war der Weg dorthin!

Als ich nach Evershagen zog, konnten sich die wenigen Christen nicht einmal im eigenen Stadtteil treffen. Es gab kein Gotteshaus noch irgendwelche Gemeinderäume, auch keinen Kirchgemeinderat und keine Mitarbeiter. In einer solchen Terra incognita die Arbeit aufzunehmen, erforderte Entschlossenheit, Offenheit und Durchhaltekraft. [...]
Wie andere junge Pastoren in Mecklenburg orientierte ich mich an Heinrich Rathke, der später unser Landesbischof werden sollte. Heinrich Rathke hatte bereits Anfang der sechziger Jahre als Pfarrer in einem Mecklenburger Neubaugebiet Erfahrungen gesammelt — in der Südstadt, der ersten Rostocker Großwohn­siedlung im Plattenbaustil mit über 20000 Bewohnern. An alles war damals gedacht worden — Krankenhaus, Kino, Post, Theater und so fort -, nur nicht an eine Kirche. Als erstes galt es also, die evangelischen Christen ausfindig zu machen. Rathke ging von Haus zu Haus, von Stockwerk zu Stockwerk, klingelte wahllos, meist abends. Zu Gottesdiensten konnte er aber nur in eine der weit entfernten Stadtkirchen einladen. Als alle Anträge bei der Stadt Rostock zum Bau einer eigenen Kirche fehlschlugen, stellte Rathke kurz entschlossen einen Zirkuswagen auf ein Privatge­lände am Rande des Neubauviertels. Ein schlichtes Holzkreuz an der Wand und ein schlichter Tisch als Altar verwandelten ihn in emen Andachtsraum. Am 12. Mai 1963 fand dort der erste Got­tesdienst mit 53 Gläubigen statt.

So berichtet Joachim Gauck in seinen Erinnerungen "Winter im Sommer - Frühling im Herbst" auf Seite 125.
vgl. dazu eine Leseprobe der Seiten 1-18

23.9.11

Über den Segen von G9

Sie hat nachgewiesen, dass man bei solider Grundbildung in den ersten acht Schuljahren gut auf eine Menge des Oberstufenunterrichts und der Arbeit dafür verzichten kann und trotzdem ein gutes Abitur machen kann bei einer Nebentätigkeit von 800 Stunden im Jahr.
Viviane Cismak, die während der Abiturvorbereitungen ihr zweites Buch schrieb: Schulfrust.
Natürlich hat sie das nur für ihre Person nachgewiesen, nicht für andere, die mit Handicaps in die Schule kommen und denen auf dem Weg nicht geholfen wird, sie zu überwinden.
Hier ein Interview
Ihr Bruder hat keine Bücher geschrieben, aber er war Leistungsschwimmer, bis auf G8 umgestellt wurde.
Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir, hat schon Seneca über G8 gesagt. Genau genommen nur über die von der Kultusministerkonferenz aus Angst vor Kritik an Niveauverlust beschlossene "Reform", mit zu viel Unterricht und zu wenig Zeit für Erfahrungen und Lernen. Aber kennen wir denn schon eine andere?
Schüler aus der 9. Klasse sagten mir: Der Vorzug von G8 ist, dass wir schon in der Unterstufe auf den Nachmittagsunterricht der Oberstufe vorbereitet werden. Dann ist das nicht mehr so ein Schock.

Viviane Cismaks erstes Buch "Deutschlands Kinder" mit Erzählungen über Kinderarmut, scheint es nur noch antiquarisch zu geben. (Kurzvideo)

22.9.11

Mehr Demokratie wagen

Brandts Slogan wurde von Angela Merkel in "Mehr Freiheit wagen" verändert. Jetzt greifen die Piraten seinen Originalslogan wieder auf.
Was fällt dabei auf? Die Volksparteien liberalisieren sich, erst die SPD, dann mit gehöriger Verspätung die CDU, die ehemals liberale FDP wird zur Klassenkampfpartei und es entstehen neue Parteien, Grüne und Piraten, die als Hauptkennzeichen ihr Bekenntnis zum Individualismus haben.

Wo bleibt die Solidarität mit den Ausgegrenzten der Gesellschaft? Die Linke pflegt neuerdings mehr die zu Fidel Castro und den braven Mauerbauern als zu Arbeitern und Bauern.
(Franz Walter behandelt in der FR vom 22.9.11 dasselbe Thema.)

Soll ich glauben, dass die Piratenpartei mit dem Programmpunkt Bedingungsloses Grundeinkommen für diese Solidarität steht?

19.9.11

Umdenken nach dem Scheitern der Finanzderegulierung

Niels Annen, Björn Böhning und Benjamin Mikfeld, drei ehemalige Jusovorsitzende, haben in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 18.9.11 auf die Kritik zweier Konservativer (Charles Moore und Frank Schirrmacher) an der schrankenlosen Finanzderegulierung reagiert.

Ich nehme ihre Gedanken sehr verkürzt auf und ergänze sie mit eigenen kurzen Hinweisen.

Einige Mythen haben sich als falsch erwiesen:


1. Die im freien Spiel der Kräfte erzielten Einkommen sind gerecht.

Gegenbeispiele sind: Altenpfleger, Krankenpfleger und Erzieher - diese Hochleistungsberufe werden fast nur von Frauen ausgeübt, weil die Bezahlung nur bei viel Idealismus akzeptabel erscheint.

2. Der Eigennutz jedes einzelnen fördert das gemeinsame Wohl.

Gegenbeispiel ist der Herdentrieb bei Spekulation, der immer wieder Blasen und ihr plötzliches Platzen erzeugt.

3. Ökonomie und Politik sind getrennt.

Politik ist die Selbststeuerung der Gesellschaft und erfahrungsgemäß letztlich auch für die Beseitigung von wirtschaftlichen Zusammenbrüchen zuständig. Die deregulierten Finanzmärkte arbeiten ihnen dabei sehr erfolgreich entgegen. 

Wie soll es weitergehen? 

Die Position von Annen, Böhning und Mikfeld in einem Satz:
"Die nötige Gestaltung der Ökonomie findet nur Akzeptanz, wenn wir die künstliche Trennung zwischen dem ökonomischen "Ich" und dem bürgergesellschaftlichen "Wir" überwinden." 


Meine Sicht:
Eine Menschheitsaufgabe ist es, Ressourcenverbrauch, insbesondere den von fossilen Energien so einzuschränken, dass die Existenzbedürfnisse eines möglichst hohen Anteils der Menschheit erfüllt werden können, ohne dass dafür persönliche Freiheit mehr als unvermeidbar eingeschränkt wird.  

Diese Aufgabe kann nur bewältigt werden, wenn sie in offenem Meinungsaustausch diskutiert und unter Berücksichtigung möglichst vieler Vorerfahrungen über Fehlerquellen angegangen wird. 
Insbesondere muss verhindert werden, dass beim Umbau der Wirtschaft schwere soziale Probleme entstehen, so dass die Akzeptanz für den Umbau verloren geht.

Positionen wie "Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer und "Reichensteuer" sind unsinnig, weil sie nur dazu führen werden, dass die Reichen sich der gesellschaftlichen Verantwortung vollständig entziehen." und" Eine Finanztransaktionssteuer ist nur möglich, wenn alle Staaten der Welt sie in gleicher Höhe erheben. müssen dabei vertreten werden können, scheinen mir freilich wenig hilfreich.

17.9.11

Fischers Erinnerungen 2


In Fischers Erinnerungen steht freilich nicht nur höchst Fragwürdiges.
Erfrischend klingt, was er über europäische Großmachtambitionen schreibt.
"Und so wird der Rest der Welt eines Tages den Europäern wohl klarmachen müssen, dass das 19. Jahrhundert und auch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts längst Geschichte sind und die globale Machtverteilung der Gegenwart nicht mehr, wie in der Vergangenheit, von europäischen Mittelmächten bestimmt werden kann." (S.299 - Hervorhebungen von mir)
Seinen eigenen Versuch, einen ständigen Sicherheitsratssitz für die EU an die Stelle des britischen und des französischen zu setzen, hatte er schon bald aufgeben müssen, als er sah, wie viel diesen Ländern an der bisherigen Regelung lag.

Zur Stellung der heutigen Großmächte sagt Fischer, die Finanzkrise habe die Stellung der USA als einzige Weltmacht erschüttert. "In der Folge dieser Krise wurde der relative Abstieg der USA ebenso offensichtlich wie der Aufstieg der großen Schwellenländer China, Indien und Brasilien." (S.353)


Und auch sein Hinweis darauf, dass weltbewegende Veränderungen in westlichen Gesellschaften – und nicht nur in denen – oft „alltagstauglich verdrängt“ werden, ist ja ganz richtig. Die entscheidende Menschheitsfrage, nämlich, ob es gelingt, unsere Wirtschaft rechtzeitig so umzustellen, dass es nicht allseits zu Kriegen um ausgehende Ressourcen kommt und dass der Klimawandel die Erde nicht für Menschen unbewohnbar macht, die wird in der Tat meist verdrängt. (Ich nehme mich nicht davon aus.)

Aber auch Fischers Behauptung, dass manches weniger gewaltsam verläuft, ist treffend. Nur hätte er nicht gerade behaupten sollen, das gelte nicht für Revolutionen.
Denn gerade für die hat Timothy Garton Ash  am Beispiel der gewaltlosen Umstürze von 1989   einen neuen Typus der gewaltarmen Revolution beschrieben, wie er sich auch im Arabischen Frühling wieder zeigte. (Zu Ash vgl. seinen Aufsatz ''Samtene Revolution in Vergangenheit und Zukunft'' in: Jahrhundertwende. Weltpolitische Betrachtungen 2000 - 2010, München 2010, S.87-100)

Um Fischer noch weiter zu loben, hier auch der Hinweis auf das Buch von Paul Hockenos: Joschka Fischer and the Making of the Berlin Republic, 2008

16.9.11

Joschka Fischer "I'm not convinced"

Joschka Fischers zweiter Band der Erinnerungen an die Regierungszeit der rot-grünen Koalition und an seine Zeit als Außenminister steht unter der Überschrift "I'm not convinced. Der Irakkrieg und die rot-grünen Jahre."
Damit erinnert er an seinen bekannten Ausspruch bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2003, wo er darauf hinwies, dass die Argumente für einen Krieg gegen den Irak ihn nicht überzeugten (hier ein Mitschnitt).

Seine Erinnerungen sind wieder sehr lebendig dargestellt. Freilich hätte man sich gewünscht, dass er seinem Lektor etwas mehr Freiheit gelassen hätte bei der Beseitigung von grammatischen Schludrigkeiten (Adverbien statt Adjektive, seitenweise Konjunktiv II, wo Konjunktiv I stehen müsste). Doch sprachliche Korrektheit ist nicht das, worauf es bei einem solchen Buch ankommt.

Mir scheint interessanter, was er über Geschichte sagt. Er erklärt in Anklang an Fukuyamas "Ende der Geschichte" , es gebe in der westlichen Welt eine "postmoderne Form der Geschichte" und führt dazu aus:
"Geschichte begegnet uns heute, in den reichen und saturierten Gesellschaften des Westens, kaum noch in der klassischen Form, d.h. als Krieg, Revolution [...]. Heute dominiert daher die postmoderne Form der Geschichte, d.h. historische Zäsuren und Brüche nehmen keine gewaltsame Form mehr an [...] und können daher in der Tagespolitik alltagstauglich verdrängt werden." (S.354)
Mit Verlaub, Herr Fischer, I'm not convinced. Die "reichen und saturierten Gesellschaften des Westens" sind sehr wohl noch in Kriege verwickelt. Das sollte der Außenminister, der den ersten deutschen Angriffskrieg nach 1945 mit zu verantworten hatte (den Nato-Angriff auf Serbien) am besten wissen. Oder zählen bei ihm die Angreifer nicht zu den Kriegsbeteiligten, sondern nur die Länder, auf deren Boden der Krieg geführt wird?
So grotesk diese Logik erscheint, sein energisches Eintreten für eine Beteiligung Deutschlands am Nato-Einsatz gegen Libyen macht einen glauben, dass er tatsächlich diese Ansicht vertritt.
Darf ich mit den Worten von Maritta Tkalec (FR vom 16.9.11) daran erinnern:
"dass seit März 50 000 Menschen starben in einer Aktion, die angeblich dem Schutz von Menschenleben diente?"
Daran, dass die mit Gadhafi abgeschlossenen Verträge über Erdöl- und Erdgaslieferungen sofort wieder aufgegriffen wurden?
Und - jetzt wieder mit Tkalecs Worten: "Derweil errichtet die neue Macht ein Regime auf Scharia-Basis. Adieu Frauen- und andere Menschenrechte. Für deren Durchsetzung fallen anderswo Bomben."

Wenn Fischer das "alltagstauglich verdrängt", tut das seiner psychischen Gesundheit sicher gut.
Nur sollte er seine Verdrängungen nicht als Basis für politisches Handeln empfehlen.

10.9.11

Zur Entwicklung des Begriffs "Großmacht"

Geläufig ist aus Luthers Lied, "Ein feste Burg ist unser Gott" (1533 gedruckt) die Fügung "groß Macht und viel List". Die Bedeutung von große Macht behält das zusammengesetzte Wort Großmacht bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Noch Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart in der Auflage von 1811 (2. Band Spalte 817) führt nur die Wörter großmächtig und Großmächtigkeit an und vermerkt, dass man sie verwende, wenn man von Fürsten spricht, und dass Kaiser und Könige sich gegenseitig so ansprächen. (vgl. auch Karl Thams Deutsch-böhmisches Nationallexikon von 1788, S. 265 und Matthias Kramers deutsch-holländisches Lexikon, 4. Aufl. 1787, S.192, wo gleichbedeutend mit Großmächtigkeit auch das Wort Großmacht angeführt wird.)
Schon 1796 findet sich freilich in der Schrift Militärischer Charakter und merkwürdige Kriegsthaten Friedrichs des Einzigen Königs von Preußen des Hauptmanns Franz Ludwig Hallers auf Seite 261 auf Peter den Großen bezogen die Formulierung "des Schöpfers der Russischen Großmacht" und in Hesperus ein Nationalblatt für gebildete Leser Nr.60 September 1813 auf Seite 487 die Formulierung  "wenn man in der Welt wüßte, Frankreich wäre den Deutschen an Großmacht überlegen". - Bei genauerem Hinsehen stellt man freilich fest, dass in beiden Fällen auch die Bedeutung Großmächtigkeit noch passt.
Erst 1815 findet sich bei Joseph Görres (im Rheinischen Merkur vom 23.9. 1815) in den "Bemerkungen über die gegenseitigen Verhältnisse Frankreichs und der Verbündeten" eine Formulierung, in der das Wort Großmacht eindeutig nicht mehr große Macht, sondern einen mächtigen Staat bezeichnet: "Aus Frankreichs Ansicht ist Preußen eine nagelneue, aber noch nicht nagelfeste Großmacht."

8.9.11

"Wutbürger" - eine Göttinger Studie

Seit langem wird in der Bundesrepublik Politikverdrossenheit konstatiert. Wahlenthaltung,  Parteiaustritte nehmen zu, politische Beteiligung und längerfristiges Engagement gehen zurück.
Der Protest gegen Stuttgart 21 hat nun freilich gezeigt, dass diese Beschreibung unvollständig ist. Es gibt nämlich durchaus einige Bereiche, wo sich in großem Umfang politisches Engagement zeigt.
In der Presse hat man für das zunächst nicht einzuordnende Phänomen den Ausdruck "Wutbürger" gefunden.
Was diese Wutbürger nun seien, hat eine Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung versucht, herauszufinden.
Spiegel online versucht das Ergebnis als erstaunlich herauszustellen: Es protestieren vor allem gebildete Personen, die ihren Protest gut artikulieren können, und es sind meist Betroffene. Sie protestieren in eigener Sache.
Damit zeigt sich das Bild, das wir von den Bürgerinitiativen her kennen, die zur Gründung der Grünen geführt haben. Wieder wundert man sich in Spiegel online, dass diese neuen Kritiker auch den Grünen nahe stehen.
Wenn jetzt eine Studie über die Piratenpartei gemacht wird, bei der herauskommt, dass die Anhänger meist jung sind und fleißig das Internet benutzen, wird man sich bei Spiegel online sicher auch wundern. Nur die Überschrift wird dann wohl nicht "Alt, stur, egoistisch", sondern "Jung, kreativ, egoistisch" heißen.
Nachdem über lange Zeit hin vor allem Idealisten, die sich für die Interessen der Benachteiligten einsetzten, demonstrierten, sind es jetzt ganz normale Staatsbürger, die sich für ihre eigenen Interessen einsetzen. Das scheint manchem ungewohnt, ist aber wohl ganz vernünftig, oder?

6.9.11

Meine heutige Entdeckung: Ash


Ich möchte T.G. Ashs Buch Jahrhundertwende empfehlen. Hier das Inhaltsverzeichnis und eine sachlichere Vorstellung als meine samt Bestellmöglichkeit.

Ich habe profitiert von Aufsätzen über wesentliche Vorgänge der Weltgeschichte des vergangenen Jahrzehnts, hatte meine Freunde am "Nachweis", dass Großbritannien nicht in Europa liegt, enthusiastisch wurde ich aber erst, als ich die Aufsätze zu Orwell, Grass und "Leben der Anderen" gelesen habe: 
So viel fundierte Kritik am Autor und seinem Werk und so viel Begeisterung über das großartige Gelingen desselben Werkes. Einfach eine Freude.
Wenn er dann den globalen Erfolg des Kapitalismus vorstellt und trocken dazu bemerkt: Karl Marx' "Vorhersagen sind eingetroffen". Leider hat der Kapitalismus aber nicht zu Absatzproblemen geführt, denn noch erfolgreicher als im Produzieren von Produkten sei der Kapitalismus "im Produzieren von Bedürfnissen". Was nutzt nachhaltiges Wirtschaften, wenn die Bedürfnisse ins Unendliche wachsen? - Ja, dann ist Bedrückliches unaggressiv formuliert. 
Und die "Mäuse in der Orgel", die das Lied "Stille Nacht, heilige Nacht" um die Welt gehen ließen, nutzt er als Anregung, trotzdem nicht zu verzweifeln. Wenn aus dem eigenen Text nicht gleich ein Weltkulturerbe der UNESCO wird, sei es immerhin ein Text. (Ich befürchte, er sagt es ein bisschen besser. Aber zum überzeugenderen Anpreisen der Aufsätze habe ich weder die Zeit, noch seine Formulierungsgabe.)
Für den Fall, dass ich so bald nicht zu mehr komme, hier wenigstens noch sein Wort über die Qualitäten von Benedikt XVI.: "Atheisten sollten die Wahl von Papst Benedikt XVI. begrüßen, denn dieser alte, gelehrte, konservative und uncharismatische bayerische Theologe wird sicherlich die Entchristianisierung in Europa vorantreiben, auch wenn er genau das Gegenteil beabsichtigt. Am Ende seines Pontifikats wird Europa vielleicht genauso unchristlich sein, wie es schon einmal vor 15 Jahrhunderten war, als St. Benedikt, einer der Schutzheiligen Europas, den Benediktinerorden gründete. Das christliche Europa beginnt mit Benedikt und endet mit Benedikt - Ruhe in Frieden." - zitiert bei Horst Fuhrmann: Die Päpste - Von Petrus zu Benedikt XVI. C:H: Beck München 2005. S. 250 books.google.com