27.10.22

Erinnerung und Warnung

 "[...] Wo der biederste Reformismus dem Tatbestand der Staatsgefährdung  nahekommt, wo wer bloß auf Rechtstaatlichkeit und Verfassungstreue pocht schon des Umsturzes verdächtigt wird, da bleibt die Bescheidenheit im Rahmen, und dieser Rahmen wird von Jahr zu Jahr enger. Treue Sozialdemokraten treffen sich augenreibend am äußersten linken Flügel wieder. Ein Hochschulbund  [SHB] , gegen sozialistische Ketzer gegründet, sieht sich wegen extremer Denkungsart vom Bannstrahl der Baracke [Geschäftsführung der SPD] bedroht. Kurzum, die Ansprüche, die an einen radikalen Intellektuellen gestellt werden, vermindern sich zusehends. Die Bescheidenheit kennt keine Grenzen mehr. Bald wird als 'linker Rowdy', als 'roter Terrorist', als 'Mao-Jünger' gelten, wer bloß verhindern möchte, dass es noch ärger wird. [...]" (H.M. Enzensberger: Deutschland, Deutschland unter anderm", ed suhrkamp 203 1967, S.45/46) 

Ich persönlich, 1961 mit meiner Einstellung von Habermas noch als "politisch irrational distanziert" eingeordnet, fand mich 1967 mit meiner Kritik an den Notstandsgesetzen (genauer genommen: dem Notstandsabschnitt im Grundgesetz) trotz meines Selbstverständnisses als Konservativer am äußersten linken Flügel der SPD wieder. Mit meiner Kritik an der Tötung Benno Ohnesorgs bei einer Demonstration am 2.6.1967  ging ich dann zu den Sympathisanten des SDS über (gegen den der SHB (vgl. oben) gegründet worden war).

Freilich, als ich beamtet werden sollte, bescheinigte mir mein Vorgesetzter, dass ich jederzeit zur FDGO stünde. Als ich ihm fragte, woher er das zu wissen glaube, ich wisse es ja selber nicht, sagte er mir: Wenn er das nicht sage, könne ich kein Beamter werden. 

Nachher habe ich dann als einer von zweien auf einer öffentlich im Lehrer ausgelegten Liste einem Schreiben widersprochen, das dieser Vorgesetzte an das Kultusministerium richtete. Und ich glaubte nicht, damit besonders mutig zu sein; denn so sehr ich schulpolitisch gegen ihn stand, so fair hat er mich immer behandelt. 

Heute dagegen muss man damit rechnen, dass man gegen geltendes Recht verstößt, wenn man die Ansicht vertritt, dass Russland sich durch das Ausgreifen der Nato bis an die Staatsgrenze Russlands bedroht gefühlt haben könne und deshalb die Ukraine angegriffen habe, um ihren Anschluss an die NATO zu verhindern. 

Wie groß ist die Gefahr der Beseitigung des Rechtsstaates? Im Zuge der Pandemiebekämp-fung hat man sich mehrmals, wenn nicht außerhalb des Grundgesetzes, so doch nicht eindeutig innerhalb des Grundgesetzes bewegt. 

In mancher Hinsicht waren die Berufsverbote schlimmer als das, was gegenwärtig passiert. Andererseits führte die Entwicklung von diesen Verboten zur neuen deutschen Ostpolitik, zur Einigung mit Gorbatschow und der deutschen Vereinigung. Der Rechtsstaat blieb erhalten. 

Der Rechtsstaat ist wieder in Gefahr, aber die Chancen stehen gut, dass die deutsche Demokratie auch aus dieser Krise gestärkt hervorgeht. Freilich, die gegenwärtige Koalition bietet dafür keine Gewähr; denn ohne eine sinnvolle Reaktion auf den Klimawandel stehen uns Krisen bevor, gegen die die gegenwärtige Kumulation von Pandemie,Krieg und Energiekrise harmlos erscheinen wird. 

(Einige Links auf frühere Positionen des Verfassers und anderes sollen noch nachgereicht werden.)

Das entfiel, weil ich statt dessen unternommen habe, das Klima-Buch von Greta Thunberg vorzustellen, im Blog und in drei Wikis.

Bei dieser Gelegenheit eine Erinnerung an Ulrike Meinhofs Buch, dessen Titel sind nur durch einen Buchstaben von dem Enzensbergers unterscheidet


5.10.22

Wieder Lehrermangel

 "[...] Seit Jahren steigen die Geburtenzahlen, wächst die Zahl der zugewanderten Kinder und Jugendlichen; die Kultusministerkonferenz (KMK) verkündete gerade, dass es 2035 eine Million mehr Schülerinnen und Schüler geben werde als heute. Bis dahin könnte den Prognosen des Bildungsforschers Klaus Klemm zufolge ein Mangel von 158.700 Fachkräften entstehen. Klemm hat in seinen Berechnungen bildungspolitische Vorhaben berücksichtigt, die vielleicht bald nicht mehr selbstverständlich sind: den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz, die Inklusion, die Förderung von Schülern in Brennpunktvierteln. [...] Weil es keine langfristige politische Strategie gibt, kämpft jedes Bundesland für sich allein, wirbt schamlos (und obwohl in der KMK schon 2009 anders vereinbart) Lehramtsabsolventen und Pädagogen aus anderen Bundesländern ab; sieht zu, dass es den eigenen Schulbetrieb halbwegs aufrechterhält, quetscht aus den verbliebenen Pädagogen die letzten Kräfte und lässt jeden Willigen, der wahnsinnig genug ist, ohne pädagogische Vorbildung vor eine Klasse zu treten, in eine Schule. [...] 

Produktiv kann sein, dass die Bildungspolitik jetzt bereit ist, Tabuzonen zu betreten. So werden endlich die ausufernden Teilzeitmodelle von Lehrkräften infrage gestellt. Man diskutiert Priorisierungen von Fächern, damit wenigstens die Grundlagen in Mathe, Deutsch und Englisch noch ausreichend vermittelt werden. Multiprofessionelle Teams werden realistischer, weil erkannt wird, dass die Lehrkraft nicht auch noch Verwaltungsaufgaben übernehmen, Laptops reparieren und Kinder verarzten kann. [...] Zurzeit beklagen Universitäten abnehmende Studierendenzahlen, zu viele Interessierte wechseln in andere Jobs. [...]

Jedes Jahr verlässt fast ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler die Schule, ohne ausreichend lesen und rechnen zu können. Wenn es ein Bildungssystem nicht mehr schafft, jungen Menschen in ihrer Schulzeit die Minimalausstattung an Wissen und Kompetenzen mitzugeben, ist das Armutszeugnis und Langzeitdrama zugleich. [...]" (Die Lücken im Lehrerzimmer bedrohen das ganze Land, ZEIT 5.10.22)

Dass der Lehrerbedarf fast nie realistisch berechnet wurde, beklage ich auf diesem Blog schon seit vielen Jahren. Verschärft hat sich das Problem dadurch, dass viel zusätzliche Aufgaben auf die Schulen zugekommen sind, ohne dass man (als der Mangel noch nicht so eklatant war) die Zahl der Lehrerstellen erhöht hat, aber außerdem dadurch dass man die Zahl der Pensionierungen der Babyboomer nicht zureichen berücksichtigt hat.

Schon am 24.2.2009 2009 hat der Lehrerfreund vielfaches Politikerversagen beim Versuch, Lehrermangel zu beseitigen, festgestellt.  Es ist ein altes Problem. 

Schon in den 60er Jahren hat das Land Nord-Rhein-Westfalen Seiteneinsteiger, die so genannten Mikätzchen einstellen müssen, um dem Lehrermangel abzuhelfen.

"Diesen Schritt unternahm die NRW-Landesregierung in den 1960er Jahren, um die geburtenstarken Jahrgänge besser beschulen zu können und die Schülerzahl in den wegen Lehrermangels überfüllten Klassen nicht über 50 steigen zu lassen.[1]" (Wikipedia)

Es steht zu hoffen, dass diese Wikipediazitat keinen Politiker auf den Gedanken bringt, diesmal dem Lehrermangel doch mit Klassen über 50 Schüler*innen abzuhelfen. 

Ausführlichere Darstellung zum Problem in der Süddeutschen Zeitung vom 3.1.23