28.4.13

Was wir mit dem Asylrecht verloren haben

Nach der Erfahrung des Holocausts schrieben die Väter und Mütter des Grundgesetzes die Menschenrechte ausdrücklich als geltendes Recht in unsere Verfassung hinein. Darunter auch den Artikel 16 mit dem Satz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht".
Heute steht dieser Satz an erster Stelle im Artikel 16a. Doch im weiteren Text des Artikels wird der Satz dort so weit eingeschränkt, dass er im Grunde eine Aufhebung des Asylrechts bedeutet.
Ich habe immer wieder gegen diese "Fluchtabwehr" geschrieben und darauf hingewiesen, wie sehr wir damit die Menschenrechte anderer verletzen.
Trotzdem traf es mich wie ein Schlag, als ich heute bei Stefan Zweig las, wie er sein Schicksal als Emigrant in England erlebte.

Ich war in eine mindere, wenn auch nicht unehrenhafte Kategorie hinabgedrückt. Außerdem mußte jedes ausländische Visum auf diesem weißen Blatt Papier von nun an besonders erbeten werden, denn man war mißtrauisch in allen Ländern gegen die ›Sorte‹ Mensch, zu der ich plötzlich gehörte, gegen den Rechtlosen, den Vaterlandslosen, den man nicht notfalls abschieben und zurückspedieren konnte in seine Heimat wie die andern, wenn er lästig wurde und zu lange blieb. Und ich mußte immer an das Wort denken, das mir vor Jahren ein exilierter Russe gesagt: »Früher hatte der Mensch nur einen Körper und eine Seele. Heute braucht er noch einen Paß dazu, sonst wird er nicht wie ein Mensch behandelt.« [...]
Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte. Es gab keine Erlaubnisse, keine Verstattungen, und ich ergötze mich immer wieder neu an dem Staunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzähle, daß ich vor 1914 nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Paß zu besitzen oder überhaupt je gesehen zu haben. Man stieg ein und stieg aus, ohne zu fragen und gefragt zu werden, man hatte nicht ein einziges von den hundert Papieren auszufüllen, die heute abgefordert werden. Es gab keine Permits, keine Visen, keine Belästigungen; dieselben Grenzen, die heute von Zollbeamten, Polizei, Gendarmerieposten dank des pathologischen Mißtrauens aller gegen alle in einen Drahtverhau verwandelt sind, bedeuteten nichts als symbolische Linien, die man ebenso sorglos überschritt wie den Meridian in Greenwich. Erst nach dem Kriege begann die Weltverstörung durch den Nationalsozialismus, und als erstes sichtbares Phänomen zeitigte diese geistige Epidemie unseres Jahrhunderts die Xenophobie: den Fremdenhaß oder zumindest die Fremdenangst. Überall verteidigte man sich gegen den Ausländer, überall schaltete man ihn aus. [...] 
Es sind Kleinigkeiten, immer nur Kleinigkeiten, ich weiß es, Kleinigkeiten in einer Zeit, wo der Wert des Menschenlebens noch rapider gestürzt ist als jener der Währungen. Aber nur, wenn man diese kleinen Symptome festhält, wird eine spätere Zeit den richtigen klinischen Befund der geistigen Verhältnisse und der geistigen Verstörung aufzeichnen können, die unsere Welt zwischen den beiden Weltkriegen ergriffen hat. 

Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Die Agonie des Friedens
Diese "geistige Verstörung" ist offenbar zu uns zurückgekehrt. Der Versuch der Verfasser des Grundgesetzes ist gescheitert. Es gilt wieder: "Früher hatte der Mensch nur einen Körper und eine Seele. Heute braucht er noch einen Paß dazu, sonst wird er nicht wie ein Mensch behandelt."
Und es muss auch der richtige Pass sein.

Freilich, es gibt gute Gründe dafür. Die Welt von heute ist eben eine andere als die aus Stefan Zweigs jungen Mannesjahren.
Aber dass wir "gute Gründe" haben, lieber tausende Flüchtlinge ertrinken zu lassen, als ihnen Zutritt zur Festung Europa zu gewähren, beschämt mich. Dürfen wir eine Trennungslinie zwischen Menschen und deutschen Staatsbürgern errichten? Was gewinnen wir dadurch, was geht uns dadurch verloren?


Was würde Stefan Zweig über unser heutiges Europa sagen?

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