14.4.13

Das Verschwinden der Frauen

Schon 1990 hat Amartya Sen darauf hingewiesen, dass auf der Welt schon damals über 100 Millionen Frauen fehlten . Jetzt sind es allein in China über 160 Millionen. Sie fehlen, weil aufgrund der Ultraschalldiagnostik schwangere Frauen feststellen können, welches Geschlecht ihr zukünftiges Kind haben wird, und dann durch Abtreibung dafür sorgen können, dass nur das Kind mit dem "richtigen" Geschlecht geboren wird.
Ich musste von meinem Bruder auf Mara Hvistendahl: Das Verschwinden der Frauen hingewiesen werden, um zu begreifen, dass diese Möglichkeit schon jetzt in vielen Ländern zu schwerwiegenden gesellschaftlichen Problemen führt.
Es ist eben nicht nur das individuelle Problem von 40 Millionen chinesischen Männern, die in der gegenwärtigen Situation in China keine Frau bekommen können. Denn dieser Missstand führt zu weiteren:
Eltern kaufen für ihren Sohn schon, wenn er noch im Kindergartenalter ist, ein kleines Mädchen, das sie wie eine Schwester mit ihm aufziehen, damit er es, wenn er erwachsen ist, heiraten kann. (Was die Frau fühlt, die plötzlich mit der Forderung konfrontiert wird, ihren vermeintlichen ruder zu heiraten, Nebensache.)
Frauenräuber ziehen herum, um für ledige Männer Frauen zu organisieren, damit die heiraten können.
Vielleicht das humanste Verfahren ist, wenn Heiratsvermittler Frauen aus ärmeren Ländern einen Ehepartner in einem reicheren Land besorgen. (In Wirklichkeit besorgen sie freilich dem Mann eine Frau, die von ihm abhängig ist, weil sie über Jahre hin die Landessprache nicht zureichend beherrscht.)
Überhaupt führt die Tatsache, dass Frauen fehlen, nicht einfach nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage dazu, dass ihr gesellschaftlicher Wert steigt, obwohl das für Chinesinnen aus Ober- und Mittelschicht weitgehend gilt. Viel näher liegt die Tendenz, dass in ärmeren Schichten bevorzugt Mädchen geboren werden, weil sie ein wertvolles Handelsobjekt darstellen, während in reicheren Schichten der männliche Erbe bevorzugt wird.
Was ich eben geschäftsmäßig zynisch ausgedrückt habe, hat einen realen Hintergrund:
Familien aus Taiwan und Südkorea suchen für ihre Söhne Frauen in Vietnam. Diese sorgen dann für ihre Herkunftsfamilien, die dadurch sozial aufsteigen können (ähnlich, wie es die in die Prostitution getriebenen thailändischen Mädchen für ihre Familien tun).
Das führt freilich dazu, dass in Orten, aus denen besonders viele Frauen ins Ausland heiraten, ärmeren Männern die Chance genommen wird, eine Frau zu finden. Gegenwärtig ist das Problem noch einigermaßen begrenzt. Was aber, wenn generationenlang die jeweils 40 Millionen chinesischen Männer, die keine chinesische Partnerin finden können, auf den vietnamesischen Heiratsmarkt strömen? Schon jetzt scheinen die Heiratsvermittler zur Ausweitung des Angebots auf noch ärmere Länder - wie zum Beispiel Kambodscha - auszuweichen.
Hilft es da, wenn in den USA 75% der Kinder, bei denen über Präimplantationsdiagnostik das Geschlecht bestimmt werden kann, Mädchen sind, weil Mädchen bessere Schulleistungen erbringen und leichter zu erziehen sind?
Was bedeutet das für ein Mädchen, dessen Geschlecht aus diesem Grund ausgewählt worden ist, das aber diese Erwartungen nicht erfüllt?

Schließlich: was bedeutet es, wenn Frauen wie die Friedensnobelpreisträgerinnen Leymah Gbowe (vgl. den folgenden Artikel), Ellen Johnson Sirleaf und Tawakkul Karman gar nicht erst geboren werden?

Links zum Thema:
http://www.sueddeutsche.de/wissen/abtreibungen-bei-falschem-geschlecht-der-moerderische-makel-ein-maedchen-zu-sein-1.1562673-2

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/mara-hvistendahl-das-verschwinden-der-frauen-egal-was-es-wird-hauptsache-ein-junge-12128914.html

http://www.ndr.de/kultur/literatur/buchtipps/geburtenkontrolle101.html

http://www.buecher.de/shop/fachbuecher/das-verschwinden-der-frauen/hvistendahl-mara/products_products/detail/prod_id/35650211/

http://ucatlas.ucsc.edu/gender/Sen100M.html

http://www.firstthings.com/onthesquare/2012/07/a-review-of-mara-hvistendahlrsquos-unnatural-selection

http://en.wikipedia.org/wiki/Little_Emperor_Syndrome

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