[...] Mit dieser demokratischen Legitimation ausgestattet, macht die griechische Regierung den Versuch, einen Politikwechsel in der Euro-Zone herbeizuführen.Dabei stößt sie in Brüssel auf die Repräsentanten von 18 anderen Regierungen, die ihre Ablehnung mit dem kühlen Hinweis auf ihr eigenes demokratisches Mandat rechtfertigen. Man erinnert sich an jene ersten Begegnungen, als sich die präpotent auftretenden Novizen in der Hochstimmung ihres Triumphes mit den teils paternalistisch-onkelhaft, teils routiniert-abfällig reagierenden Eingesessenen einen grotesken Schlagabtausch lieferten: Beide Seiten pochten papageienhaft darauf, vom jeweilig eigenen "Volk" autorisiert worden zu sein.
Die ungewollte Komik ihres einträchtig nationalstaatlichen Denkens führte der europäischen Öffentlichkeit unübertrefflich vor Augen, was wirklich fehlt - ein Fokus für eine gemeinsame politische Willensbildung der Bürger über folgenreiche politische Weichenstellungen in Kerneuropa. [...] Man muss sich das Anstößige, ja Skandalöse dieser Weigerung klarmachen: Der Kompromiss scheitert nicht an ein paar Milliarden mehr oder weniger, nicht einmal an dieser oder jener Auflage, sondern allein an der griechischen Forderung, der Wirtschaft und der von korrupten Eliten ausgebeuteten Bevölkerung mit einem Schuldenschnitt - oder einer äquivalenten Regelung, beispielsweise einem wachstumsabhängigen Schuldenmoratorium - einen neuen Anfang zu ermöglichen.
Statt-dessen bestehen die Gläubiger auf der Anerkennung eines Schuldenberges, den die griechische Wirtschaft niemals wird abtragen können. Wohlgemerkt, es ist unstrittig, dass ein Schuldenschnitt über kurz oder lang unvermeidlich ist. Die Gläubiger bestehen also wider besseres Wissen auf der formellen Anerkennung einer tatsächlich untragbaren Schuldenlast. [...]
Tsipras und Syriza hätten das Reformprogramm einer linken Regierung entwickeln und damit ihre Verhandlungspartner in Brüssel und Berlin "vorführen" können. Amartya Sen hat die von der deutschen Bundesregierung durchgesetzte Sparpolitik noch im vergangenen Monat mit einem Medikament verglichen, das eine toxische Mischung aus Antibiotika und Rattengift enthält. Die linke Regierung hätte ganz im Sinne des wirtschaftswissenschaftlichen Nobelpreisträgers eine keynesianische Entmischung der Merkel'schen Medizin vornehmen und alle neoliberalen Zumutungen konsequent zurückweisen können; aber gleichzeitig hätte sie ihre Absicht glaubhaft machen müssen, die fällige Modernisierung von Staat und Wirtschaft durchzuführen, einen Lastenausgleich vorzunehmen, Korruption und Steuerflucht zu bekämpfen usw. [...]
Diese Auflösung von Politik in Marktkonformität mag die Chuzpe erklären, mit der Vertreter der deutschen Bundesregierung, ausnahmslos hochmoralische Menschen, ihre politische Mitverantwortung für die verheerenden sozialen Folgen leugnen, die sie als Meinungsführer im Europäischen Rat mit der Durchsetzung der neoliberalen Sparprogramme doch in Kauf genommen haben.
Der Skandal im Skandal ist die Hartleibigkeit, mit der die deutsche Regierung ihre Führungsrolle wahrnimmt. Deutschland verdankt den Anstoß zu dem ökonomischen Aufstieg, von dem es heute noch zehrt, der Klugheit der Gläubigernationen, die ihm im Londoner Abkommen von 1953 ungefähr die Hälfte seiner Schulden erlassen haben.
Aber es geht nicht um eine moralische Peinlichkeit, sondern um den politischen Kern: Die politischen Eliten in Europa dürfen sich nicht länger vor ihren Wählern verstecken und selber den Alternativen ausweichen, vor die uns eine politisch unvollständige Währungsgemeinschaft stellt. Es sind die Bürger, nicht die Banken, die in europäischen Schicksalsfragen das letzte Wort behalten müssen. [...]
Habermas übersieht, dass ein wichtiges Teil der Fehlkonstruktion darin liegt, dass die Währungsunion geschaffen wurde, ohne gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sich die Leistungsbilanzen der einzelnen Teile der Währungsunion nicht himmelweit auseinander entwickeln. Selbst wenn es einen Schuldenschnitt gäbe, kann Griechenland wie auch andere Länder in der Währungsunion nur dann reussieren, wenn die anderen Partner ihm Luft lassen, zu exportieren bzw. im konkreten Fall Dienstleistungen zu erbringen, die von Kunden innerhalb und außerhalb des Währungsraums nachgefragt werden. [...] Die Vorstellung, die griechische Regierung hätte die Verhandlungspartner in Berlin und Brüssel „vorführen können“, zeugt von Verkennung der Realität. Habermas sieht offenbar nicht, in welcher Weise die öffentliche Meinung speziell in Deutschland gegen Griechenland mobilisiert, ja geradezu aufgehetzt worden war. Nicht erst jetzt, schon seit 2010.[...]
Dieser mein Artikel ist auf Fontanefans Schnipsel angefangen worden. Hier folgt erstmals mein Kommentar:Habermas kritisiert, in Athen habe man keinen vernünftigen Versuch gemacht Koalitionen zu bilden. Diesen Teil seiner Kritik verstehe ich einfach nicht. Welche Koalitionen hätten die Verhandlungen mit Berlin und Brüssel und Washington (Internationaler Währungsfonds) erleichtern sollen?
Ich stimme mit Habermas (und somit auch mit Müller) in der Kritik an Merkels neoliberaler Sparsamkeitspolitik überein. Das ist fast identisch mit der Kritik daran, dass sich die Politik kritiklos wirtschaftspolitischen Forderungen von Unternehmerseite anpasst, statt gemeinsame Wirtschaftspolitik für Gesamteuropa auszuhandeln und durchzusetzen.
Da diese Kritik bei Habermas ganz zentral ist, kann ich Müllers Argument nicht folgen, wenn er behauptet: "Habermas übersieht, dass ein wichtiges Teil der Fehlkonstruktion darin liegt, dass die Währungsunion geschaffen wurde, ohne gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sich die Leistungsbilanzen der einzelnen Teile der Währungsunion nicht himmelweit auseinander entwickeln."
Diese Fehlkonstruktion ist ja so häufig angesprochen worden (und von Habermas mit der Forderung, Keynes Erkenntnisse zu berücksichtigen, in seine Kritik aufgenommen worden), dass er sie nicht übersehen haben kann.
Dagegen gestehe ich Müller zu, dass Habermas die Erfolgsaussichten griechischer Argumentation etwas zu rosig darstellt. Schließlich hat Tsipras ja immer wieder hervorgehoben, er argumentiere im Interesse Gesamteuropas. Doch Habermas spricht selbst von der "Hartleibigkeit, mit der die deutsche Regierung ihre Führungsrolle wahrnimmt". Dass er nicht deutlicher kritisiert, mag der Absicht geschuldet sein, eine möglichst neutrale Position einzunehmen.
Wenn Habermas davon spricht, die griechische Regierung hätte Koalitionen aufbauen sollen, so meint er natürlich nicht welche innerhalb der Institutionen (alias Troika), sondern mit europäischen Ländern, die wie Griechenland unter der Sparsamkeitspolitik leiden, d.h. Italien, Spanien, Frankreich .... Das hat die griechische Regierung versucht, doch diese Länder sind vor einer deutlichen Solidarisierung mit Griechenland zurückgeschreckt.
Alles in allem: Habermas' Diskussionsbeitrag ist zwar nicht besonders originell (er und andere haben schon früher ähnlich argumentiert) , kommt aber genau zum richtigen Zeitpunkt.
Wenn Merkel die Gelegenheit nutzt, ihn aufzugreifen und einen ihrer beliebten Kurswechsel vorzunehmen, dann ..., ja dann will ich nicht zögern, Merkel dafür zu loben.
"Wenn die Kanzlerin ihren Platz in der Geschichte sichern will, ähnlich wie es Kohl mit der Wiedervereinigung gelang, dann muss sie sich heute erfolgreich für eine Einigung in der Griechenland-Frage einsetzen - samt einer Schuldenkonferenz*, mit der wir dann bei null anfangen. Aber dann mit einer neuen, sehr viel strengeren Haushaltsdisziplin als früher." (Thomas Piketty im Interview mit der ZEIT vom 24.6.15)
*Piketty bezieht sich auf das Vorbild der Londoner Schuldenkonferenz von 1952/53.
Vorschläge im Vergleich: So nah ist Tsipras einem Kompromiss SPON 26.6.15
u.a.:
"Bei der Unternehmensteuer haben sich beide Seiten auf 28 Prozent geeinigt, die Griechen schlagen für 2015 eine zusätzliche Einmalsteuer von 12 Prozent auf Unternehmensgewinne von mehr als 500.000 Euro vor. Die Institutionen lehnen das als wachstumshemmend ab."
"Hart aber fair"-Talk zu Griechenland: "Europa in der eigenen Falle", SPON 23.6.15
Klare Worte zu EU und Griechenland - und anderes, Fs Schnipsel 14.6.15
Eurokrise: Erst haben die Banken sich verzockt ... 20.5.12
EU in der Krise, 20.5.11
mehr von Fs Schnipsel zu Griechenland und "Griechenlandkrise"
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