6.8.14

Augusterlebnis 1914

100 Jahre nach Kriegsbeginn, 57 Jahre nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sollte ein weniger verzerrtes Bild des "Europäischen Bürgerkrieges", wie man den Ersten und Zweiten Weltkrieg zusammenfassend genannt hat, möglich sein.
Wie von Verteidigern der Fischerschen Thesen in der Diskussion über "Griff nach der Weltmacht" schon damals angedeutet wurde, hat die Öffnung der Akten anderer europäischer Staaten eine klarere Sicht auf die Kriegsbereitschaft auch in diesen Staaten möglich gemacht. Christopher Clarks hat in "Die Schlafwandler"* den kollektiven Weg in den Krieg dargestellt. Den Versuch, daraus eine Unschuldsthese für die deutsche Führung von 1914 zu basteln, wurde zu Recht zurückgewiesen.* Im Einzelnen wird die wissenschaftliche Diskussion weitere Differenzierungen erbringen.
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                       Meldungen vom August 1914
Beispiele:

Paris, 1. August. Gestern Abend gab ein gewisser Raoul Villain in einem Kaffeehaus mehrere Revolverschüsse auf den Sozialminister Jaurès ab. Jaurès wurde am Kopf getroffen und starb bald darauf. Der Mörder ist 29 Jahre alt und Sohn eines Schreibers am Zivilgericht in Reims.[...] " ("Ein Edelopfer des internationalen Blutrausches" Vorwärts 2.8.1914)

  "Die Dinge nehmen ihren unerbittlichen Verlauf. Ganz Europa gleicht nach der allgemeinen Moblilisierung einen einzigen Heerlager. Die Eisenbahnen und alle anderen Verkehrmittel dienen jetzt dazu, Millionen von Bewaffneten nach den Stätten kriegerischer Entscheidungen zu tragen. Die ersten Vorpostengeplänkel haben eingesetzt, bald wird die Kunde von großen Schlachten und gewaltigen Menschenopfern die Welt durchdringen.„Es ist grauenvoll, diesen weltgeschichtlichen Wahnsinn bis in seine letzten Konsequenzen auszudenken.“ So schrieb die „Vossische Zeitung“ heute Abend. Wir können ihr nur rückhaltlos zustimmen.Milliardenwerte und unabschätzbare Kulturgüter, millionenfache Menschenkräfte und unabwägbares Menschenglück werden jetzt einem Vernichtungswerk geopfert, dem an gigantische Größe kein gleiches in der Weltgeschichte zur Seite zu stellen ist. Söhne unseres Volkes, darunter viele Freunde unserer Sache sind es, die das blutige Ringen ausfechten müssen. Wirtschaftsleben und Familienglück liegen überall darnieder. [...]" (Die eisernen Würfel rollen, Vorwärts 3.8.1914) 

  "Halbamtlich wird mitgeteilt: „Heute, Dienstag nachmittag, kurz nach der Rede des Reichskanzlers, in der bereits der durch das Betreten belgischen Gebiets begangene Verstoß gegen das Völkerrecht freimütig anerkannt und der Wille des Deutschen Reiches, die Folgen wieder gut zu machen, erklärt war, erschien der großbritannische Botschafter Sir Edward Goschen im Reichstag, um den Staatssekretär v. Jagow eine Mitteilung seiner Regierung zu machen. In dieser wurde die deutsche Regierung um alsbaldige Antwort auf die Frage ersucht, ob sie die Versicherung abgeben könne, daß keine Verletzung der belgischen Neutralität stattfinden würde. Der Staatssekretär v. Jagow erwiderte sofort, daß dies nicht möglich sei, und setzte nochmals doe Gründe aneinander, die Deutschland zwingen, sich gegen einen Einfall einer französischen Armee durch Betreten belgischen Bodens zu sichern. Kurz nach 7 Uhr erschien der großbritannische Botschafter im Auswärtigen Amt, um den Krieg zu erklären und seine Pässe zu fordern. [...]" ("England erklärt Deutschland den Krieg" Berliner Tageblatt 5.8.14)
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 Bemerkenswert erscheint mir in diesem Kontext ein Artikel  in der Frankfurter Rundschau vom 2.8.14 (publiziert wurde er im Rahmen der sehr verdienstvollen Artikelserie der FR zum Ersten Weltkrieg):
"Das Begehren nach dem Blutopfer" von Christian Thomas.
Darin schreibt er über das Augusterlebnis 1914 "von einer ungeteilten kollektiven Euphorie kann keine Rede sein", trägt dann aber eine Menge Belege für die Bereitschaft, sich für 'Volk und Vaterland' zu opfern, zusammen. Dazu gehört, dass die sozialdemokratischen Abgeordneten trotz ihres Boykotts der Reichstagssitzung, in der Wilhelm II. den Kriegsbeginn rechtfertigte, dann doch - mit zwei rühmlichen Ausnahmen - den Kriegskrediten zustimmte. Ja, sogar die Deutsche Friedensgesellschaft habe sich der allgemeinen Opferbereitschaft nicht entgegenstellen wollen. (Hier hätte mich ein Beleg sehr interessiert.)
Dass in der Bevölkerung die Trennung von Vätern, Söhnen und Brüdern nicht allgemein begrüßt worden ist, dass man ihrem Tod nicht allgemein freudig entgegengesehen hat, darf als sicher gelten, auch wenn öffentliche Organe nicht darüber berichtet haben und die Filmbilder von jubelnden Kriegsfreiwilligen das nicht dokumentiert haben. Die Euphorie war nicht ungeteilt. Doch das "August-Erlebnis" hat Thomas eindrucksvoll belegt.

Aus Harry Graf Kesslers Tagebuch aus den ersten Augusttagen 1914:

"Die Menge macht einen weit sichereren, weniger berauschten Eindruck als gestern. Die Sicherheit, dass es in den Krieg geht, hat Alle gefestigt. [...] 1.8.1914

Die Stimmung hier beim Regiment ist dieselbe wie in Berlin; eine ruhige, heitere Zuversicht ohne Rausch: man weiss, dass der Krieg furchtbar sein wird, dass wir vielleicht zeitweise Rückschläge erleiden werden, vertraut aber auf die Charakter Eigenschaften der Deutschen, auf Pflichterfüllung, Ernst und Beharrlichkeit, dass sie uns schliesslich den Sieg erringen müssen.  [...] Alles ist sich klar darüber, dass dieser Krieg Deutschland die Weltherrschaft oder den Untergang bringen muss. Seit Napoleon ist kein so hohes Spiel gespielt worden.  [...] 3.8.1914

vergleiche auch: 2.8.1914 und 4.8.1914

T. Bendikowski ZEIT Nr.01/2014
K. Pätzold in der jungen welt 1.8.2014 über das Augusterlebnis


Dieser Blogeintrag erschien in kürzerer Form zuerst unter
Fontanes Schnipsel.
In der ergänzten Form lädt er jetzt meiner Meinung nach
genügend zum Quellenstudium ein, dass man sich auch als
historischer Laie ein Bild von der von Besorgnis wie von
Kriegsbegeisterung gekennzeichneten Stimmung machen kann.
Man wird sich kein fundiertes historisches Urteil bilden können,
aber doch wohl einseitigen Darstellungen nicht mehr
ohne weiteres vertrauen.

*Clarks Titel spielt auf Hermann Brochs Trilogie 
"Die Schlafwandler" an.
* Dazu u.a. Jens Jessen: Das Märchen vom Revisionisten, ZEIT 14.8.14
Daraus ein Zitat:
"Die Ahnung, dass Politiker heute angesichts ähnlicher Konflikte nicht souveräner und moralischer handeln als unsere Vorväter, setzt eine Melancholie frei, die jeden Fortschrittselan hemmt."

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Besonders anschaulich Sebastian Haffners
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1 Kommentar:

Hokey hat gesagt…

Eine prima Zusammenstellung! Danke für die Mühe!