25.4.15

Nicht jedes Umdenken zeugt von einem Lernprozess

In der Flüchtlingsfrage hat das Unglück vor Lampedusa und der Appell des Papstes ein Umdenken in der Öffentlichkeit bewirkt. Die Politiker gaben nur Lippenbekenntnisse ab und änderten nichts und wenn, dann nur etwas zum Schlechteren. Von "Mare Nostrum" zu "Triton".
Das neue 10-Punkte-Programm der EU zeigt, dass auch die neuen Unglückfälle die EU nicht wirklich von ihrer Politik der Abschottung der Festung Europa abgebracht haben.  

Ein Umdenken gab es in Fragen der sexuellen Orientierung. War früher ausgeübte Homosexualität beim männlichen Geschlecht über den §175 gleich strafbewehrt, egal ob unter Erwachsenen oder zwischen Erwachsenen und Kindern, so kann man heute stolz darauf sein, homosexuell zu sein. Wer aber pädosexuell ist, erfährt gesellschaftliche Ausgrenzug, auch wenn er alles Menschenmöglche tut, seine Veranlagung nicht auszuleben. Dagegen scheint jedwede andere Spielart von Veranlagung - auch solche, die bis vor wenigen Jahren noch völlig unbekannt waren - für besonderer Förderung wert gehalten zu werden.

Konnte nach 1966 der Bundesgerichtshof der Ehemann von seiner Ehefrau fordern, dass sie bei der Erfüllung ihrer "ehelichen Pflichten" "keine Gleichgültigkeit zur Schau" trage, so kann seit 1997 ein Ehemann, der - unter Ausnutzung einer ökonomischen Abhängigkeit seiner Frau oder durch sonstigen Druck - ehelichen Beischlaf als sein Recht einfordert, wegen Vergewaltigung in der Ehe bestraft werden.  Im Prinzip ein Fortschritt, wie das justiziabel gemacht werden soll, bleibt freilich unklar. Zumal andererseits alleinerziehenden Müttern eine Unterstützung durch einen Unterhaltsbeitrag des früheren Ehemannes genommen worden ist. Die ökonomische Abhängigkeit ist also wieder erhöht worden.

Oskar Gröning war in der Nachkriegszeit noch in einem Prozess gegen einen SS-Mann von Auschwitz "als Zeuge geladen". Hatte er noch 1985 gegen Holocaustleugnung mit einem deutlichen "Ich habe alles gesehen" protestiert, so wird ihm heute der Prozess gemacht, weil er zwar nicht unmittelbar an der Tötung von Menschen beteiligt, aber Teil der Maschinerie war, die 300 000 Menschen zu Tode brachte.  Denn die Justiz hat seit dem Prozess gegen John Demjanjuk 2011 umgedacht und rechnet auch indirekte Beteiligung als Schuld an. Da nützt es Gröning nicht, dass er dreimal (und schließlich erfolgreich) einen Versetzungsantrag an die Front gestellt hat, um nicht mehr Teil des Vernichtungssystem zu sein.*
So rasch denken wir um. Aber selten gestehen wir anderen das Recht zu, langsamer im Umdenken zu sein. - Zu Recht oder zu Unrecht?*

Geradezu Schallgeschwindigkeit im Umdenken hat Angela Merkel entwickelt. Als Umweltministerin machte sie zaghafte Schritte auf dem Weg zum Umweltschutz. In der Opposition machte sie sich stark für den Ausstieg aus dem Atomausstieg. In der Regierung setzte sie diesen Ausstieg um. Nach Fukushima machte sie eine Kehrtwende und trat für den Atomausstieg ein. Jetzt tut sie aber alles, um die Konkurrenz von nachhaltiger Energieherstellung zu stärken. Von Energiewende keine Spur. Die Emissionszertifikate, die die fossile Energie auf sanftem Wege weniger rentabel machen sollten, lässt sie zu Minimalpreisen verschleudern. Kohlekraftwerke mit einem Höchstmaß an CO2-Ausstoß schützt sie vor Kritikern und selbst äußerst zaghafte Versuche, wenigstens die exzessivsten Dreckschleudern abzuschalten, genießen bei ihr keinerlei Unterstützung. 

Was wird es nützen, wenn sie - nachdem die letzte Chance für eine selbstbestimmte Energiewende vertan ist - in einer neuen Kehrtwende beklagen wird, dass ihr Energiewendekurs leider nicht genügend Unterstützung erfahren habe?

Dieser Artikel ist auf Fontanefans Schnipsel entworfen worden. Er enthält noch nicht all die Links, die ein mit den Diskussionen Unvertrauter gebrauchen könnte; aber dafür reicht  - zumindest im Augenblick - nicht die Zeit. 

* Die Ergebnisse des laufenden Prozesses stehen freilich noch aus. Es scheint so, als seien manche früheren Annahmen so nicht mehr zu halten.  *
FR 21.4.15; FR 23.4.15; FR 6.5.15; ich sehe den Zusammenhang anders als Bommarius in seinem FR-Kommentar vom 18.5.15. Was für die Gesellschaft ein notwendiges Umdenken ist, ist nicht notwendig Gerechtigkeit für den einzelnen.

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