3.7.15

Gegenwärtige Rettungsprogramme und Alternativen

Nobelpreisträger Stiglitz im Interview:
"Das sind schlicht Rezessionsprogramme. Egal wie wacker sich die Griechen bemühen, sie haben keinerlei Aussicht, aus der durch diese Programme verursachten Misere herauszukommen." ("Ein Riesenfehler", ZEIT Nr.27)

Ein guter Plan für ganz Europa von Gabriel Colletis, Jean-Philippe Robé, Robert Salais, Le monde diplomatique 9.7.2015
"Nachdem Griechenland 1981 der Europäischen Gemeinschaft beigetreten war, hat sich der Konsum relativ schnell dem der reicheren Mitgliedstaaten angenähert. Gleichzeitig gab es in der Industrie einen massiven Einbruch: Ihr Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank im Zeitraum 1980 bis 2009 von 17 auf rund 10 Prozent. Zwischen 2009 und 2013 stürzte die Industrieproduktion dann noch um weitere 30 Prozent ab.
Das ist der Grund, warum Griechenland heute fast vollständig vom Tourismus und von Kapitaltransfers aus dem Ausland abhängig ist, um seine Leistungsbilanz ausgeglichen zu gestalten. Dabei stammten die Transfersummen früher größtenteils von den Griechen, die auf der Suche nach Arbeit in alle Welt ausgewandert waren. Diese Rücküberweisungen der „Gastarbeiter“ wurden ab 1981 zunehmend durch Gelder aus den Hilfs- und Entwicklungsfonds der EU ersetzt. Doch in den 1980er Jahren beschaffte sich Griechenland – und zwar Banken wie private Unternehmen und letztlich auch der Staat – zusätzlich immer mehr Kapital an den internationalen Finanzmärkten, was den drastischen Anstieg der griechischen Zinsbelastung erklärt. [...]
Der griechische Staatshaushalt weist derzeit (noch) einen Primärüberschuss aus, das heißt: Ohne den Schuldendienst gibt die Regierung weniger Geld aus, als sie durch Steuern einnimmt. Man kann diesen Überschuss auf zweierlei Weise betrachten: als Potenzial für die Rückzahlung des Schulden, wie es Griechenlands Gläubiger tun; oder aber als Fonds für künftige Investitionen.
Die zweite Lösung würde allerdings eine Restrukturierung der Schulden voraussetzen, und zwar nicht mittels weiterer Kredite von IWF oder EU. Diese Umschuldung würde auf zweierlei Weise geschehen: Erstens müssten die derzeit von IWF und Europäischer Zentralbank (EZB) gehaltenen Schuldscheine mit Fälligkeit zwischen 2016 und 2024 – das sind rund 70 Prozent der gesamten Schulden – an die EU-Staaten übertragen werden. Und zweitens wären die Fälligkeitsdaten so flexibel zu gestalten, dass die Rückzahlungen in einem gegebenen Zeitraum den Primärüberschuss nie übersteigen dürfen, wie die griechische Regierung und Finanzminister Varoufakis seit Langem fordern. [...]
Griechenland würde unterdessen weiter seinen Zahlungsverpflichtungen nachkommen, aber – und das ist der springende Punkt – das Geld ginge nunmehr an die Fonds, aus denen produktive Investitionen im Land finanziert werden. Die griechischen Zahlungen würden also nicht mehr einfach die Kassen der Gläubiger füllen, sondern in die Entwicklung der griechischen Industrie fließen. Die Gläubigerstaaten respektive Investoren erhalten ihr Geld zurück, sobald die Investitionen umgesetzt sind und die Investitionsobjekte verkauft werden können."

Philosoph Zizek im Interview:
"Der herrschende Kampf ist ein Kampf um eine wirtschaftliche und politische Leitkultur Europas. Die EU-Mächte stehen für den technokratischen Status quo, welcher Europa für Jahrzehnte in Trägheit halten wird. Der große Konservative T. S. Eliot hat in seinen "Notes Towards a Definition of Culture" bemerkt, dass es Momente gibt, in denen es nur die Wahl zwischen Häresie und Unglauben gibt: wenn beispielsweise der einzige Weg, eine Religion am Leben zu halten, die sektiererische Abspaltung von ihrem Korpus ist. Dies ist unsere heutige Lage in Bezug auf Europa: Nur eine neue Häresie - momentan von Syriza vertreten - kann jenes sichern, was des Sicherns im europäischen Erbe wert ist: Demokratie, Vertrauen in die Menschen, egalitäre Solidarität." (SPON 5.7.2015)

mehr dazu:
Die gefährlichste Idee EuropasTagesanzeiger 2.7.15
"Vielleicht war es der unverantwortlichste Versuch der Geschichte, Verantwortung zu übernehmen. Denn erstens war die Diagnose gleich doppelt falsch. Die Krise war nicht im öffentlichen Sektor entstanden, sondern im privaten: in den meisten Ländern durch die Banken, in anderen durch die Privatverschuldung. Ausser Griechenland hatte kein Staat Geld verschleudert. Und diejenigen, die nun die Strafe traf, waren nicht die, welche die Party gefeiert hatten: Während mit Hunderten Milliarden Euro Banken ausgekauft und Börsen gestützt wurden, wurden Millionen Jobs gestrichen. Und dazu Renten, Krankenhäuser, Löhne, Schulen.
Denn die Austerität war nicht nur intellektuell ein Debakel: Irland, Spanien, Portugal wurden in die Massenarbeitslosigkeit gespart, weitgehend sinnlose Opfer, bei wachsenden Schulden.
Am härtesten traf es die Griechen. Als die Troika mit ihren Programmen begann, rechneten sie mit einem Einbruch von 0,3 Prozent. Was passierte, war der Zusammenbruch einer Wirtschaft, den man sonst nur im Krieg sieht: 25 Prozent.
Berichterstattung zu Griechenland: Im Dschungelcamp der deutschen Medien 
[...] war es Wahnsinn, dass man fünf Jahre mit verschiedenen griechischen Regierungen verhandelt und "Hilfsprogramme auflegt" - und kaum kommt eine Regierung an die Macht, die deshalb gewählt wurde, weil die "Hilfsprogramme" eben nicht funktioniert haben, wird diese Regierung dafür verantwortlich gemacht, dass sie in ein paar Monaten nicht geschafft hat, was die Nussknacker von der EU in fünf Jahren Verhandlungen nicht hinbekommen haben - die Entmachtung der korrupten Eliten zum Beispiel oder ein funktionierendes Katasterwesen? (Georg Diez, SPON 3.7.15)
Von der philosophischen Ebene:
S. Zizek: Was ist jetzt noch links? (ZEIT Nr.27 S.41)
"Es geht nicht um die Griechen. Es geht um uns alle! [...] Die EU-Mächte stehen für den technokratischen Status quo, der Europa seit Jahrzehnten lähmt."
Dann spricht Zizek von "der eindeutigen und unmittelbaren Tendenz des zeitgenössischen Kapitalismus,  die Demokratie auszuhebeln."

"Die Politik hat sich ins Gefängnis der Märkte begeben", SZ 30.6.15
Joseph Vogl: "[...] wenn totalitär bedeutet, dass ein Regime alle Lebensbereiche erfasst: Ja, dann lässt sich wohl sagen, dass der Finanzkapitalismus totalitäre Dimensionen erreicht hat. [...] Die Frage ist: Will man an dem Weg weiterhin festhalten? Oder könnten neue historische Situationen - zum Beispiel die Finanz- und Wirtschaftskrisen seit 2008 - Richtungsänderungen bewirken?

Georg Schramm in Schönau, veröffentlicht am 3.7.2015

Gregor Gysi am 23.4.1998 über die Auswirkungen des Euro:
"[...] alle würdigen am Euro, daß sich die Exportchancen Deutschlands erhöhen würden. Wenn das dann so ist, dann müssen doch andere Produktionsunternehmen in anderen Ländern darunter leiden. Anders ginge es doch gar nicht.
Das heißt, wir wollen den Export Deutschlands erhöhen und damit die Industrie in Portugal, Spanien und anderen Ländern schwächen. [...]" (Gregor Gysi: Der Prophet - le Bohémien, 3.7.2015)

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