13.9.15

Erlesnis - oder darf man auch sagen: Wirkung von Literatur?

"Erlesnis ist definiert als: was bei Literaturlektüre dem eigenen Empfinden nach an nicht-propositionalem Wissen erworben wurde. Wird ein Erlesnis in publizierten Leseberichten beschrieben, kann es als Brücke zwischen dem Wikipedia-Artikel und dem literarischen Text fungieren, denn der Lesebericht ist als Beleg in einem Werkartikel (Artikel über ein Werk, zum Beispiel ein literarisches) verwendbar geworden. Unter recht pragmatischen Gesichtspunkten sind also Erlesnis-Autoren* gefragt und ihre Äußerungen sollten zitierbar sein." (C.Koltzenburg: Nicht-propositionales Wissen aus Literaturlektüre und Bedingungen seiner Darstellbarkeit in Wikipedia-Einträgen zu literarischen Werken)
 C.Koltzenburg geht es darum, dass in der Wikipedia als einer vermutlich immer wichtiger werdenden Quelle von Literaturkenntnis auch das nicht-propositonale Wissen, das einem literarischen Werk entnommen wird, dargestellt wird. Vereinfachend würde ich sagen: das subjektive Leseerlebnis. Für die Wikipedia würde ich dafür einen möglichst wenig spezifischen Ausdruck vorschlagen wie z.B. Wirkung des Werks, der dann so wie bei Sachautoren der Abschnitt Kritik zu einem Standardabschnitt werden könnte. 
In folgendem Artikel zu Stifters Nachsommer wird unter Wertung eine recht ähnliche Wirkung auf verschiedene Autoren beschrieben, die freilich höchst unterschiedlich gewertet wurde:
"Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, dass er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen," meinte Friedrich HebbelW-Logo.gif 1858 über diesen Roman.
Nun war die Krone Polens schon damals nichts wert.
A: [...] ein Evangelium gepflegten Stumpfsinns.
B.: Alle Gestalten im 'Nachsommer', von der ersten bis zur letzten, sind hinsichtlich Realität nur selektiv unterrichtet. Kein Konflikt der Generationen. Man bewegt sich zeitlupig ; denn: "Leidenschaft ist unsittlich", wie Stifter in unbegreiflicher Geistesverengung dekretiert, und sich damit selbst dichterisch entmannt hat. Der Würgengel vermeinter Sittsamkeit garantiert die stereotypste Starre und Kälte: im ganzen Buch lacht nicht ein Mensch!
A.: Ein Kabinettstück in seiner Art der chemisch gereinigte Liebeshandel Heinrichs und Nataliens: noch frostiger und pomadiger kann man sich nicht gerieren.

Der sanfte Unmensch. Einhundert Jahre Nachsommer. Radioessay in: Der sanfte Unmensch, 1958, S.85
Eigentümlich handlungsarm und arm an Gefühlsdarstellung ist der Roman gewiss. Doch gerade das übt auf manche eine gewisse Faszination aus.[3], während viele spannende Bücher - das gilt insbesondere für BestsellerW-Logo.gif - nach einmaligem Lesen verbraucht sind.
Mit Flauberts Madame BovaryW-Logo.gif und Beaudelaires Les Fleurs du MalW-Logo.gif, die alle 1857 erschienen, hat man den Roman als ein frühes Beispiel der ModerneW-Logo.gif[4] gesehen. (Der Nachsommer im ZUM-Wiki)

2 Kommentare:

C.Koltzenburg hat gesagt…

Vielen Dank für den Blogpost zu meiner Arbeit (September 2015), darf ich kurz meinen Blickwinkel etwas erläutern?

Ich meine, dass bei Literaturlektüre vieles passieren kann, womit man nicht gerechnet hat. Lesen ist also nichts weniger als ein Abenteuer, vor allem dann, wenn man bereit ist, sich auf die eigenen Leseerlebnisse einzulassen. Was diese enthalten oder woraus sie sich zusammensetzen, hängt von der Person ab, die liest, und von der Situation, in der sie liest, auch, ob sie das Werk schon einmal gelesen hatte, wohl auch vom Werk, aber nicht nur. Denn wenn ich ein Werk nach einigen Jahren erneut lese, kann es sein, dass ich über völlig andere Leseerlebnisse berichten würde als beim ersten Mal. Am Werk allein kann es also nicht liegen, wenn ich bestimmte Leseerlebnisse habe.

Ein ''Erlesnis'' kann Teil eines Leseerlebnisses sein, nämlich dann, wenn man ein Gespür dafür entwickelt, was man beim Lesen von Literatur außer "Faktenwissen" noch alles erwerben kann: nicht-beweisbares Wissen nämlich. Beim Lesen entstehen zum Beispiel Gefühle. Wenn ich beim Lesen meine Gefühle spüre, kann es sein, dass ich etwas auf neue Weise zu verstehen meine. Vielleicht habe ich die Welt zum ersten Mal aus dem Blickwinkel eines Kindes gesehen, das auf der Flucht seine Eltern verloren hat.

Bei der Literaturlektüre kann also ein Wissen entstehen, das nur subjektiv beschreibbar ist, falls es überhaupt beschreibbar ist. Meine Bereitschaft, mich in Kontakt mit Sprachkunst zu begeben, ermöglicht es mir, zu außergewöhnlichen Erkenntnissen über mich selbst und über meine (bisherige) Sicht der Welt zu gelangen.

Mit dem Begriff ''Erlesnis'' fasse ich den nicht-beweisbaren Anteil dieser Erkenntnisse, also das nicht-propositionale Wissen, das ich bei einer bestimmten Lektüre erworben zu haben meine.

Mein Vorschlag ist, unsere jeweiligen Erlesnisse genauer in Augenschein zu nehmen und sie anderen mitzuteilen, indem wir über sie schreiben. In meine Arbeit habe ich vier Essays über Sprachkunstwerke integriert. Es sind Interpretationen, in denen meine Erlesnisse wesentlich sind: Ich bringe in einer wissenschaftlichen Arbeit Erlesnisse zur Sprache. Wenn mehr Leute sich trauten, so zu schreiben, könnten Wikipedia-Einträge fundiert mit Leseerlebnissen ausgestattet werden, so dass insgesamt bei Wikipedia über Literatur lebendiger geschrieben werden kann als bisher.

Walter Böhme hat gesagt…

Wenn man Erlesnisse in dem Sinne in größerem Stil in die Wikipedia einbringen möchte, müsste man das m.E. entweder über Diskussionsseiten oder über Anmerkungen. Denn die Vielfalt unterschiedlicher Erfahrungen kann ein kurzer Abschnitt im Wikipediaartikel nicht fassen, oder?

Andererseits geben die vielen Literaturblogs, auch die Amazonbesprechungen etc. eine umfassendere Basis, als sie bisher zu erhalten war. Nur: Wer trägt das alles zusammen?
Erster Schritt vielleicht: Wenigstens die bei Perlentaucher angeführten Rezensionen sollten - soweit sie Erlesnisse andeuten - berücksichtigt werden. Was meinen Sie?