23.5.15

Digitale soziale Netzwerke

Das Netz bist du!  ZEIT, 17.5.15 von  

Um es vorweg zu nehmen: Ich halte die Untersuchungen für interessant. Trotiers Artikel überzeugt mich aber nicht nicht.
Völlig anders wirkt auf mich das Interview, das Publik-Forum mit Mirca Madianou, einer Soziologin aus dem Umfeld von Daniel Miller, geführt hat.

Zitat aus dem Interview mit Madianou:
"Eine Webcam kann vieles. Menschen können miteinander lachen und miteinander weinen [...]. Küssen geht nicht. Nicht für Liebespaare, die getrennt sind, nicht für Kinder, die ohne Eltern aufwachsen. Familien, die über neue Medien verbunden sind, müssen sich neue Rituale schaffen. Die Sehnsucht nach Hautkontakt [...] kann kein Computer befriedigen."
Am Schluss meines Artikels folgen weitere Zitate aus dem Interview.

Zitate aus Trotiers Artikel:
"Daniel Miller ist Anthropologe. Er arbeitet als Professor am University College London. Dort hat er das weltweit erste Programm für digitale Anthropologie entwickelt."

"Deshalb hat er das größte Social-Media-Projekt der Welt gegründet: Acht Anthropologen forschen gleichzeitig in acht Ländern. England, Trinidad, Türkei, Brasilien, Chile, Italien, Indien, China. Fünf Jahre lang beobachten, begleiten, analysieren, interpretieren sie Menschen und ihre Sozialen Medien. Global Social Media Impact Study, eine globale Studie zum Einfluss der Sozialen Medien. "

"Miller will vergleichen können, ohne kulturelle Eigenheiten einzuebnen. Deshalb muss seine Studie global angelegt sein. Seine Mitarbeiter leben an Orten, die eigentlich niemanden interessieren, weil sie zu normal sind. Sie leben in einem türkischen Dorf, einer Einwandererstadt im Norden Chiles, einem Zentrum für IT-Arbeiter in Indien, einer kleinen Touristenstadt an der brasilianischen Küste."

"Viele der Arbeiter hätten zuvor in einer berühmten Keramikfabrik getöpfert, schreibt Wang in einem Blog, in dem die Anthropologen alle paar Wochen von ihren Erlebnissen erzählen. Jetzt fahren sie Gabelstapler. Die Arbeit hat weniger Prestige, aber in den Gesprächen, die Wang führt, sagen alle, sie seien glücklicher. Sie freuen sich über die kleinen Pausen, die sie zwischen den Fahrten haben. In jeder freien Minute surfen sie mit ihren Smartphones durch das chinesische Soziale Netzwerk QQ, spielen, lesen Posts von Freunden, schreiben Nachrichten.
Als sie die Arbeiter kennenlernte, schreibt die Anthropologin Wang, habe sie vermutet, sie seien vor der Armut geflohen und würden sich vor allem mit ihrer Familie und ihren Freunden zu Hause schreiben. Natürlich gibt es das auch. Die meisten aber sind migriert, weil sie etwas anderes erleben wollten. Sie mussten nicht raus, sie wollten. Sie chatten über Soziale Netzwerke auch mehr mit neuen Freunden, die in derselben Stadt wohnen, weniger mit ihrer Familie."
"Der Anthropologe Daniel Miller sieht den Menschen nicht als Opfer seiner Technik an, nicht als unmündigen User, als Spielball der Großkonzerne. Denn Technik kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie jedem Individuum an jedem Ort zu jeder Zeit nutzt. Und wenn der Mensch sie so nutzen kann, wie er es will."  (Das Netz bist du!)
Eine Logik des letzten Absatzes erschließt sich mir nicht. Ich glaube gern, dass Miller "den" Menschen nicht als Opfer "seiner" Technik ansieht. Das braucht er überhaupt nicht zu sein, damit Milliarden von Menschen Spielball "der" Großkonzerne werden. 
Kommerziell erfolgreich sein kann Technik, wenn genügend Personen glauben, sie nütze ihnen. Sie werden diesen Glauben nicht aufzugeben brauchen, wenn ein Großkonzern diesen Gauben "so nutzen kann, wie er es will". 

KILIAN TROTIER lullt durch die Art seiner Berichterstattung ein. Überzeugen kann er mich dadurch nicht. 
Weitere Zitate aus dem Artikel (für die Argumentation von weniger Bedeutung):
"Wer eine gute Beziehung zu Gegenständen hat, hat sie auch zu Menschen. Dinge stehen nicht zwischen Menschen, sie verbinden sie."
"Die Webcam wird zu einem eigenen Ort, der Unzusammenhängendes zusammenschiebt. Zur Heimat für Getrennte."

Weitere Zitate aus dem Interview mit Madianou:
Publik Forum: "Trotzdem sagen Sie, dass soziale Netzwerke wie Facebook [...] eine Revolution sind."
Madianou: Das ist so. [...] Als Donna [...] vor dem Laptop mit ihrer acht Monate alten Tochter "Kuckuck!" spielte, so wie anderer Mütter mit einem Tuch beim Wickeln. So etwas ist herzerfrischend und traurig zugleich. Eine andere Mutter hat die Webcam einmal ganz plötzlich ausgeschaltet, weil sie weinen musste und nicht mehr aufhören konnte, so sehr hat sie die Sehnsucht in diesem Moment ereilt. [...] Es bleibt ein Drama, wenn Menschen, die sich sehr lieben, über lange Zeit getrennt sind."

Madianou und Miller haben ein gemeinsames Buch veröffentlicht: Migration and New Media: transnational families and polymedia, 2012

Zitat aus dem Abstract:
"The way in which transnational families maintain long distance relationships has been revolutionised by the emergence of new media such as email, instant messaging, social networking sites, webcam and texting. A migrant mother in London can now call and text her left-behind children in the Philippines several times a day, peruse social networking sites and leave the webcam for 12 hours achieving a sense of co-presence."

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