19.10.15

Der Friedenspreis für Navid Kermani

Navid Kermani erhielt am 18.10.2015 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels

Der Wortlaut seiner Rede war zunächst nicht freigegeben worden. Daher geht dieser Blogartikel im Folgenden ausführlich auf seine Rede vom 23.5.14 ein. Inzwischen ist die Rede aber auf der Seite des Friedenspreises zu finden. Ich werde noch auf sie zurückkommen. 

Mancher erinnert sich an die Vorgänge um den Hessischen Kulturpreis von 2009, den Kermani nach den Einwänden seiner Mitpreisträger Karl Lehmann und Peter Steinacker schließlich doch bekam. 
Kermani sprach am 18.10. die gegenwärtige Flüchtlingssituation an. Im Zuge der Verhandlungen über Flüchtlingslager in der Türkei, über die Erklärung der Türkei als sicheres Drittland und über Transitzonen und hot spots für Flüchtlinge wäre der Wortlaut seiner Friedenspreisrede an dieser Stelle besonders interessant. Vorläufig muss ich darauf verzichten, darauf einzugehen. Aber ich darf an seine Rede im Bundestag zur Feierstunde "65 Jahre Grundgesetz" erinnern. Die Hervorhebungen habe ich hinzugefügt.

Kermanis Rede am 23.5.2014 (Wortlaut) fing nach der Begrüßung so an:


"Das Paradox gehört nicht zu den üblichen Ausdrucksmitteln juristischer Texte, die schließlich größtmögliche Klarheit anstreben. Einem Paradox ist notwendig der Rätselcharakter zu eigen, ja, es hat dort seinen Platz, wo Eindeutigkeit zur Lüge geriete. Deshalb ist es eines der gängigsten Mittel der Poesie.
Und doch beginnt ausgerechnet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit einem Paradox. Denn wäre die Würde des Menschen unantastbar, wie es im ersten Satz heißt, müsste der Staat sie nicht achten und schon gar nicht schützen, wie es der zweite Satz verlangt. Die Würde existierte unabhängig und unberührt von jedweder Gewalt. Mit einem einfachen, auf Anhieb kaum merklichen Paradox ‑ die Würde ist unantastbar und bedarf dennoch des Schutzes ‑ kehrt das Grundgesetz die Prämisse der vorherigen deutschen Verfassungen ins Gegenteil um und erklärt den Staat statt zum Telos nunmehr zum Diener der Menschen, und zwar grundsätzlich aller Menschen, der Menschlichkeit im emphatischen Sinn. Sprachlich ist das ‑ man mag es nicht als brillant bezeichnen, weil man damit einen eminent normativen Text ästhetisierte – es ist vollkommen, nichts anderes.
Überhaupt wird man die Wirkmächtigkeit, den schier unfassbaren Erfolg des Grundgesetzes nicht erklären können, ohne auch seine literarische Qualität zu würdigen. Jedenfalls in seinen wesentlichen Zügen und Aussagen ist es ein bemerkenswert schöner Text und sollte es sein. Bekanntlich hat Theodor Heuss die ursprüngliche Fassung des ersten Artikels mit dem Argument verhindert, dass sie schlechtes Deutsch sei. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ hingegen ist ein herrlicher deutscher Satz, so einfach, so schwierig, auf Anhieb einleuchtend und doch von umso größerer Abgründigkeit, je öfter man seinen Folgesatz bedenkt: Sie muss dennoch geschützt werden. Beide Sätze können nicht gleichzeitig wahr sein, aber sie können sich gemeinsam, nur gemeinsam, bewahrheiten und haben sich in Deutschland in einem Grade bewahrheitet, wie es am 23. Mai 1949 kaum jemand für möglich gehalten hätte. Im deutschen Sprachraum vielleicht nur mit der Luther-Bibel vergleichbar, hat das Grundgesetz Wirklichkeit geschaffen durch die Kraft des Wortes. [...]"
Danach allerdings folgten die Worte:
"Ein wundervoll bündiger Satz ‑ „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ ‑ geriet 1993 zu einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinandergestapelt und fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: dass Deutschland das Asyl als Grundrecht praktisch abgeschafft hat.
Muss man tatsächlich daran erinnern, dass auch Willy Brandt, bei dessen Nennung viele von Ihnen quer durch die Reihen beifällig genickt haben, ein Flüchtling war, ein Asylant?
Auch heute gibt es Menschen, viele Menschen, die auf die Offenheit anderer, demokratischer Länder existentiell angewiesen sind. Und Edward Snowden, dem wir für die Wahrung unserer Grundrechte viel verdanken, ist einer von ihnen.
Andere ertrinken im Mittelmeer ‑ jährlich mehrere Tausend ‑, also mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch während unserer Feststunde. Deutschland muss nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen; aber es hat genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen, statt die Verantwortung auf die sogenannten Drittstaaten abzuwälzen."
Kermani ist ein würdiger Preisträger des Friedenspreises.

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