16.1.18

Demokratie und Verantwortung

Die SPD müsse Verantwortung übernehmen und eine deutsche Mehrheitsregierung ermöglichen, damit Europa wieder handlungsfähig werde, wird gesagt. Dafür müsse sie mit der Union Koalitionsverhandlungen aufnehmen. An dem gemeinsamen Beschluss der CDU/CSU eine "atmende Obergrenze" für die Aufnahme von Flüchtlingen festzulegen sei freilich nicht zu rütteln.

Der Zukunftsforscher Jørgen Randers vom Club of Rome argumentiert, Demokratie verlangsame Entscheidungen oft um Jahrzehnte. Verzögerte Entscheidungen könnten aber über das Wohlergehen und das Überleben von Milliarden von Menschen entscheiden. Daher sieht er es positiv, dass in China, wo bei der nachholenden Wohlstandsentwicklung der ökologische Fußabdruck sich sehr schnell vergrößere, aufgrund der Parteidiktatur Entscheidungen im Sinne des Umweltschutzes schneller durchgesetzt werden können.*

Die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi antwortet auf Fragen zum Schicksal der in Myanmar verfolgten Rohingya ausweichend. Wie weit trägt sie für das Schicksal der Rohingya Verantwortung, wie weit der Präsident Myanmars Htin Kyaw, wie weit die Militärs, die bis zum Demokratisierung die volle Entscheidungsgewalt hatten und sie nur zum Teil abgegeben haben? Oder sind es die handelnden Generäle vor Ort? Wie weit sind politische Entscheidungen in Myanmar von China abhängig, auf dessen Investitionen Myanmar angewiesen ist? Wer trägt die Verantwortung für das Schicksal der 400000  Rohingya, die nach Bangladesch geflohen sind?

Wie sind individuelle Menschenrechte gegenüber dem Allgemeinwohl zu gewichten? Die Frage stellt sich bei der Abwägung zwischen dem Asylanspruch eines Verfolgten und dem Interesse einer Gesellschaft an der Aufrechterhaltung der vorhandenen Ordnung, aber auch bei der Frage, ob ein von Terroristen gekidnapptes Flugzeug abgeschossen werden darf. Die Auffassungen differieren dabei zwischen westlichen und asiatischen Ländern, aber auch zwischen herrschenden Eliten, Reformern und Revolutionären innerhalb Asiens. Aber auch in westlichen Ländern wird zunehmend im Blick auf Klimawandel und Umweltschutz die ein Vorrag individueller Menschenrechte gegenüber dem Allgemeinwohl in Zweifel gezogen.* 


*"Die Botschaft »Grenzüberziehung aufgrund verzögerter Entscheidungen« von GdW stößt nicht auf breites Verständnis. Das war vor einer Generation nicht überraschend, denn 1972 (als der menschliche ökologische Fußabdruck etwa halb so groß war wie heute) wurde es als ziemlich undenkbar gesehen, dass sich die Weltgesellschaft erlauben würde, über die nachhaltige Tragfähigkeit des Planeten hinaus zu wachsen. […] Kluge Politik muss sicherstellen, dass der menschliche Fußabdruck keine nicht-nachhaltige Größenordnung annimmt. Das bedeutet, von Expansion abzusehen, die einen nur kurzfristigen Vorteil brächte. Dies ist schwierig in einer Demokratie, die von kurzfristig denkenden Wählern bestimmt wird, und in Märkten, die von kurzfristig denkenden Investoren dominiert werden." (Randers: 2052, S.359-361)

*"Wir werden zu lange dem Ideal verhaftet bleiben, dass individuelle Rechte Priorität gegenüber dem Allgemeinwohl genießen, eine Sichtweise, die in einer immer dichter gedrängten Welt immer weniger hilfreich sein wird." (Randers: 2052S.58)


Im Blick auf die Globalisierung wird die Verantwortung nationaler Regierungen wie auch einzelner Personen nicht allein auf das Wohlergehen einzelner Gruppen oder Staaten bezogen sein dürfen. Andererseits wird diese Verantwortung nur in besonderen Ausnahmefällen im Sinne eines militärischen Schutzes (Schutzverantwortung oder resposibility to protect) einer Gruppe vor staatlichen Übergriffen interpretiert werden dürfen. Umstritten ist z.B. der internationale Militäreinsatz in Libyen 2011, obwohl er zumindest teilweise durch eine UNO-Resolution gedeckt war. 


Für den Unterricht scheint es wichtig, anzuerkennen, dass es gegenwärtig keine weltweit geltenden Wertordnungen und Rechtsauffassungen gibt, auch wenn über Völkerrecht und Internationale Strafgerichtshöfe eine Vereinheitlichung angestrebt wird. Andererseits muss der Auffassung entgegengetreten werden, Wertsetzungen könnten individuell oder von Gruppen festgelegt werden; denn ein Konsens über die Bestimmung der Rechtsordnung durch Gesetz und Rechtsprechung ist die Voraussetzung für staatliche Ordnung, ohne die immer ein schrankenlos durchgesetztes Recht des Stärkeren gilt, das zum Völkermord führen kann.


Zu diesen Reflexionen bin ich durch die Diskussion über die Verantwortung der Parteien gekommen, die eine Minderheitsregierung zu verhindern hätten (dazu vgl. hier). 

Welche Aspekte dieses vielschichtigen Problems aufgegriffen werden, wird von der einzelnen Unterrichtssituation abhängig sein. Je multikultureller unsere Gesellschaft wird, desto wichtiger wird aber ein Grundkonsens in diesen Fragen.

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