26.11.15

"Schüler brauchen ökonomisches Wissen"

"Schüler brauchen ökonomisches Wissen", dieser Forderung, die der verdiente Wissenschaftler Christoph Lütge in ZEIT online aufstellt, kann ich uneingeschränkt zustimmen. 
Interessant ist freilich, welches ökonomische Wissen er für unverzichtbar hält:
"Nachhaltiges Wirtschaften spielt in Unternehmen eine immer größere Rolle. Aber auch Ökologie muss im Rahmen ökonomischer Mechanismen funktionieren, damit sie nicht nur eine abstrakte Idee bleibt, sondern wirksam umgesetzt wird. Ökologische Probleme lassen sich letztlich nur durch ökonomische Mechanismen lösen.[…] Die Marktwirtschaft hat nicht nur im Westen, sondern mittlerweile auch in vielen anderen Regionen der Erde den Lebensstandard breiter Bevölkerungskreise in historisch unvergleichlicher Weise angehoben. Auch das sollte im Fach Wirtschaft vermittelt werden." (Schulfach Wirtschaft, ZEIT online 24.11.15)

"Nachhaltiges Wirtschaften spielt in Unternehmen eine immer größere Rolle."
Dies Wissen ist sicher geeignet, zu erklären, wieso nicht nur VW, sondern auch mehrere andere Automobilkonzerne auf den Versuch, vorgeschriebene Abgaswerte einzuhalten verzichtet und statt dessen die kontrollierenden Stellen raffiniert betrogen haben.

"Die Marktwirtschaft hat [...] den Lebensstandard breiter Bevölkerungskreise in historisch unvergleichlicher Weise angehoben."
Sicher eine überzeugende Erklärung, weshalb in der Flüchtlingskrise die "Wirtschaftsflüchtlinge" eine so wichtige Rolle spielen, dass man glaubt, ihretwegen eine "Obergrenze" für die Aufnahme von Flüchtlingen festlegen zu müssen. 

Was die Lobby der Arbeitgebervertreter noch nicht erfolgreich genug schafft (gegen ihren Protest darf eine Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung, die Lobbyarbeit von Arbeitgeberseite kritisch in den Blick nahm, wieder erscheinen), will Professor Lütge jetzt im Namen der Wissenschaft durchsetzen. 

Da interessiert mich doch, wie lange er noch dulden wird, dass das Funkkolleg Wirtschaft differenziertere Informationen über wirtschaftliche Zusammenhänge vermittelt.
Wird doch unter anderem die hochgefährliche These vertreten, dass gewinnorientiertes Denken selbst die an sich sehr ressourcenschonende Share Economy durch Bedarfsweckung zu einem höchst verschwenderischen Mehrverbrauch von Ressourcen führen könne (wie die Zunahme des Carsharing - anstelle eines Ausbaus des öffentlichen Nahverkehrs - in den Großstädten zu belegen scheint). 

Wenn man dem Kommentar Ein Kniefall vor den Arbeitgebern in ZEIT online vom 16.11.15 trauen darf, hat die Arbeitgeberlobby sich freilich bei der Einführung des Schulfachs Wirtschaft in Baden-Württemberg durchgesetzt. Dirk Lange konstatiert dazu:
"Herausgekommen ist der Entwurf eines monodisziplinären Unterrichtsfachs, das eine verengte Sichtweise auf das Ökonomische entwirft. Die Wirtschaftswissenschaften werden zur Hauptbezugsquelle eines sozialwissenschaftlichen Lerngegenstandes.
In diesem Fall wird der Homo Oeconomicus zum Leitbild der ökonomischen Bildung. Dabei wird beansprucht, mit Modellierungen der ökonomischen Verhaltenslehre die soziale Welt zu erklären. Dies soll quasi eine Alternative zu den diskursiven Formen sein, in denen sich die Unterrichtsfächer der politischen Bildung bislang mit ökonomischen Phänomenen auseinandergesetzt haben."

"Schüler brauchen ökonomisches Wissen": 
Dazu gehört u.a., dass nach dem Beschluss des Kyoto-Protokolls "der Anstieg der Emissionen aus Gütern, die in Entwicklungsländern produziert, aber in Industrieländern konsumiert werden, sechsmal größer war als die Emissionseinsparungen der Industrieländer" ("Groth in Emission Transfers via International Trade from 1990 to 2008", zitiert nach Naomi Klein: Die Entscheidung, S.103). 
Mehr dazu in: 
Fragen und Antworten zur UN-Klimakonferenz in Paris

Außerdem sollten Schüler wissen, dass das TTIP es erlauben würde, jede umweltschützende nationale Gesetzgebung in den USA und in Deutschland zu Fall zu bringen, die die Gewinnerwartung von Investoren aus einem der Länder beeinträchtigen könnte. 


Warum wir dringend ein Schulfach Wirtschaft brauchen von Klaus Hurrelmann, 30.11.15  mit 843 Raktionen
"Für mich ist es unverständlich, warum nicht mithilfe eines Schulfachs Wirtschaft bereits in der Grundschule ein Verständnis für komplexe Themen wie Alterssicherung ausgebildet wird.  [...] Viele Jugendstudien zeigen: 40 Prozent der jungen Leute sind sich mittlerweile sehr wohl bewusst, dass sie sich viel intensiver um ihre Rente sorgen müssten – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sind die erste Alterskohorte, die von der Veränderung der Rentenfinanzierung voll getroffen wird und lediglich mit einer Rente von 40 bis 43 Prozent der letzten Bruttobezüge rechnen muss. Das ist wenig, viel zu wenig. Wer nicht mit einer betrieblichen und einer privaten Altersversorgung plant – oder zu den Glücklichen gehört, die ausreichend erben –, dem droht somit zwangsläufig die Altersarmut. [...]"

Wem jetzt noch nicht klar ist, wofür hier das Schulfach Wirtschaft eingeführt werden soll, ahnt es vielleicht bei diesen Sätzen von Tim Wessels: Ich möchte selbst entscheiden, wie ich fürs Alter vorsorge:
Im März 2012 habe ich eine Online-Petition gegen die Pläne des Arbeitsministeriums zur Einführung einer Rentenversicherungspflicht für Selbstständige eingereicht. Nachdem die Petition über 80 000 Mitunterzeichner gefunden hatte, in der Presse aufgegriffen worden war und ich von der damals zuständigen Ministerin Ursula von der Leyen zu mehreren sehr guten und umfangreichen Gesprächen eingeladen worden war, wurde das Projekt letztlich „auf Eis gelegt“.

Den Selbständigen soll eine Mitwirkung bei der Sozialversicherung erspart werden. Da es aber Selbständige gibt, die mit einer privaten Versicherung nie eine zureichende Alterssicherung erreichen können, soll der Staat die privaten Versicherungen mit Steuermitteln so weit aufstocken, dass sie attraktiver werden als die gesetzliche Rentenversicherung. Weil das jedem, der ein bisschen mitdenken kann, noch deutlicher als die heutigen Riester-Renten als Subventionierung unattraktiver privater Angebote auffallen würde, soll schon Grundschulkindern eingeredet werden, dass das ein sinnvolles Modell wäre.

Nicht überall ist der Lobbyismus so deutlich zu greifen. Dass aber ein Schulfach Wirtschaft, das die sozialen und ökologischen Zusammenhänge des Wirtschaftens ausklammert, gefährlichen Lobbyismus bedeutet, dürfte auch ohne das klar sein.


vgl. auch:

La Repubblica - Italien
Es geht um die Landwirtschaft 
Auch die Klimakonferenz in Paris gesteht sich nicht ein, dass die Landwirtschaft entscheidend zur Erderwärmung beiträgt, kritisiert der Begründer der Slow-Food-Bewegung Carlo Petrini in der linksliberalen Tageszeitung La Repubblica: "Allein die Viehzucht-Branche ist verantwortlich für 14 Prozent der Treibhausgase. ... Dennoch tauchen auf den 54 Seiten, die die Verhandlungsbasis für die Pariser Klimakonferenz bilden, Begriffe wie Landwirtschaft, Biodiversität und Anbau nicht ein einziges Mal auf. Man konzentriert sich auf die Bereiche Energieversorgung, Schwerindustrie und Transport. Man spricht zwar auch über Bodenschutz und Nahrungsmittelsicherheit, doch wird der konkrete Zusammenhang zwischen Klima, Landwirtschaft und Nahrung nicht ausdrücklich benannt. … Um das Problem der Erderwärmung konkret anzugehen, bedarf es eines ökonomischen, kulturellen und sozialen Paradigmenwechsels. Es gilt, eine Landwirtschaft zu fördern, die auf ökologischen Methoden basiert, und das System der Herstellung, des Vertriebs und des Zugangs zu Nahrungsmitteln grundlegend zu verändern." (27.11.2015) 

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