31.12.15

David Weinberger: Wissen ist kein Produkt mehr, sondern ein Prozess

Ich bin nicht der Meinung, dass Lernen im 21. Jahrhundert allgemein in persönlichen Lernnetzwerken*  vonstatten gehen kann, wie Lisa Rosa es meiner - sehr beschränkten - Kenntnis nach noch vertritt. Viel zu sehr sind Lerner immer wieder darauf angewiesen, dass ihnen auf die Sprünge geholfen wird. Viel zu wenige können ein Lernnetzwerk aufbauen, das weiten Horizont und Serendipity ermöglicht, zugleich aber für die ihnen jeweils nötigen Lernschritte trägt. Lernen Lernen zu lernen, wie es Rosa in ihrem bedenkenswerten Vortrag für die re:publica 13 für das 21. Jahrhundert gefordert hat, wird - in dem dafür notwendigen Ausmaß - auf absehbare Zeit zu wenigen gelingen, als dass man das gesamte Bildungssystem sinnvoll darauf umstellen könnte. So sehr ich für Barcamps (Tweets), wo das praktiziert wird, schwärme. 
Da ich aber ihre Überlegungen längst noch nicht genügend interiorisiert habe, möchte ich sie hier  ein wenig exteriorisieren, um sie so im Gespräch zu halten, wie sie es m.E. verdienen. 
Daher zitiere ich aus Rosas Vortrag einen kurzen Abschnitt, muss aber empfehlen, sich zumindest die Graphiken in ihrem Blogartikel anzusehen, damit ihr Grundverständnis vom Lernen des Lernen Lernens, parat hat, damit man die folgenden Ausführungen würdigen kann:
"Ich brauche Austausch für die Tiefe meines Wissens, dazu brauche ich Gleiche in meinen Netzen. Menschen mit Übereinstimmungen in grundlegenden Positionen, an denen ich mich nicht nur reibe, mit denen ich nicht immer bei Adam und Eva anfangen muss, wenn es um einen gemeinsam geteiltes Verständnis geht.Ich brauche aber auch Austausch für den weiten Horizont, denn sonst schmore ich im eigenen Saft. Filterbubble und Echo chamber sind Warnbegriffe dafür. Staunen, Verblüffung, aber auch Offenheit für Serendipity (also etwas zufällig zu finden) sind Haltungen, die wir trainieren, wenn wir uns eher Fremde und sogar vermeintlich “Verrückte” als Teilnehmer in unsere Netze holen. Und wir können uns daran gewöhnen, unser Wissen nicht für objektiv und allgemein gültig zu halten.Lokal und global müssen wir uns vernetzen, und „immer und überall in Verbindung zu bleiben” ist wörtlich zu nehmen." (Rosa: Lernen Lernen lernen ...)
*Zu PLN konkret vgl. vorläufig folgenden Entwurf eines Artikels

Um etwas von dem Gespräch bereitzustellen, in dem ich Lisa Rosas Konzept zu verstehen begonnen habe, verlinke ich hier meinen Artikel Zur Rolle des Lehrers im Lernprozess, in dem ich einen Teil meines Gesprächs mit ihr zitiert habe, dann Rosas Aufsatz Die Zukunft des Lernens: Sinnbildung im 21. Jahrhundert. (pdf)
Außerdem noch ein Interview mit Andreas Schleicher.
Aktuell: Gefährden Social Media politisches Engagement? von Philippe Wampfler zur Frage, ob ein stark im Netzt verortetes PLN die Aufmerksamkeit für konkrete Lernsituationen gefährdet

26.12.15

Vom Antiamerikanismusvorwurf bis zum Angriff auf Forderungen nach Gerechtigkeit und Demokratie

Amadeu Antonio Kiowa war eines der ersten Opfer rassistisch motivierter Gewalt nach der Wiedervereinigung. Anetta Kahane ist als Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung bemüht, Einstellungen im Keim zu ersticken, die zu Gewalttaten wie der führen, durch die Amadeu Antonio zu Tode gekommen ist, und jederzeit für den Schutz von Minderheiten einzutreten. Das ist ein höchst ehrenwertes Ziel.
Gelegentlich ist sie von Rechtmäßigkeit ihres Anliegens so überzeugt, dass sie in ihrer Wortwahl nicht eben wählerisch ist und dadurch ihrer guten Sache nicht gerade einen Gefallen tut. Das kann passieren, wenn man jeder Gefahr schon beim ersten Anschein entgegentreten will. In ihrem Kommentar in der Frankfurter Rundschau vom 21.12. geht sie allerdings entschieden zu weit.
Hier eine zentrale Passage (die Hervorhebungen sind von mir):

"Die Ideologie der Fundamentalkritik reproduziert die immer gleichen Bilder über Opfer und Täter. Amerikanisches Finanzkapital ist böse (und meist jüdisch) und damit auch die Demokratie. Freiheitskämpfer dagegen sind gut, ganz gleich, ob der eine Frauen steinigt und der andere Schwulenrechte einfordert, solange sie sich nur gegen den vermeintlichen Imperialismus richten.
Im Zweifelsfall sind beide Opfer des „Systems“. Kaltherzige Gleichgültigkeit ist es, die hier nicht zu unterscheiden bereit ist. Sich so als Gegensatz zum anti-westlichen Feindbild zu definieren, bedeutet, auf Emanzipation und Menschenrechte im echten Leben keinen Pfifferling zu geben. Den Rechten ist ohnehin zu viel Emanzipation in der Welt, und die Linken empfinden Fortschritt als Anpassung an das neoliberale Ganze. Also sind am Ende beiden die Bedürfnisse jener Menschen vollkommen wurscht, die für ihre individuellen Freiheitsrechte kämpfen. Vor allem, wenn sie außerhalb Europas leben." (Anetta Kahane: Die Ideologie der Fundamentalkritik, FR 21.12.2015)

In der richtigen Erkenntnis, dass Rechtsextreme wie Linksextreme beide Feinde der repräsentativen Demokratie sind, versucht sie, jede Kritik an der Politik der USA und an Fehlentwicklungen des Marktliberalismus abzuqualifizieren, indem sie sie als - unzulässige - "Fundamentalkritik" einordnet. Das kennt man schon.
In der Tat hat in den Zeiten des Vietnamkrieges mancher Kritiker der US-Politik sich dazu verleiten lassen, Maos brutales Unterdrückungsregime, das Millionen Menschenleben gekostet hat, zu rechtfertigen.
Zu weit geht sie, wenn sie behauptet, Kritik an Kapitalismus sei antidemokratisch und bedeute, dass man die Menschenrechte nicht achte.
Wenn das so wäre, wäre Helmut Schmidt mit seiner Kritik am "Raubtierkapitalismus" ein Demokratiefeind gewesen. Naomi Klein wäre ein Gegner der Menschenrechte, weil sie einen erfolgreichen Kampf für das 2-Grad-Ziel zur Bekämpfung des Treibhausklimas als nicht vereinbar mit kapitalistischem Profitdenken versteht.
Nicht zuletzt diffamiert sie damit attac und seinen Kampf gegen TTIP als demokratiefeindlich, obwohl es attac ja gerade darum geht, zu verhindern, dass internationale Konzerne die Politik nationaler Regierungen - insbesondere im Umweltschutzbereich - blockieren können.
So sehr ich die Ziele der Amadeu Antonio Stiftung zu schätzen weiß, wenn sie mit solch haltlosen Diffamierungen verfolgt werden, dann entheiligt das Mittel selbst den ehrenwertesten Zweck.

25.12.15

Steffen Martus' mediengeschulter Blick auf die Aufklärung

Wenn Steffen Martus in "Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert" die Politik der deutschen absolutistischen Fürsten am Anfang des 18. Jahrhunderts beschreibt, wirkt es wie aus dem Handbuch der großen Internetfirmen Google, Facebook, Amazon oder ihrer literarischen Repräsentation "Der Circle". Man muss nur die Stichwörter Aufklärung, Fürst etc. durch die passenden Wörter der Internetwelt ersetzen:
"Attraktivität war für die neue Politik auf dem Weg zur" Marktbeherrschung "überhaupt entscheidend, denn der Posten des" Datenlieferanten "sollte reizvoll erscheinen und nicht nur" aufgrund von Ausspähung "eingenommen werden. Wie also versah man" einen Internetdienst "mit so viel Anziehungskraft, dass sich die Menschen gern der Regierung" durch einen Dienstanbieter "unterstellten? Hochschulen" und Schulen "wurden von den" angehenden Monopolisten gern als Instrumente für "solche Fragen begriffen." (Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert, S.110/111)*

Wie führt man den Wandel herbei? Internetfirmen müssen dafür sorgen, dass Schulen und Hochschulen möglichst durchgängig mit Computern versorgt sind und mit Computern arbeiten (auch wenn das für die Grundschulen weitgehend sinnwidrig erscheint), Wenn erst einmal genügend Computer angeschafft sind und sich Kinder an den Umgang damit gewöhnt haben, kann man Computer auch im Privatbereich durchsetzen. Mit den Smartphones ist nun endlich auch schon für Dreijährige der Zugang zum Internet eröffnet und Kinder sind - weil noch arglos - ideal geeignet als Datenlieferanten und - um nun das Wort der absolutistischen Fürsten zu gebrauchen - in ihre Rolle als Untertanen eingeführt zu werden.

*Auf die Zeit des 18. Jahrhunderts bezogen formuliert Martus wie folgt:
"Attraktivität war für die neue Politik auf dem Weg zur Aufklärung überhaupt entscheidend, denn der Posten des Untertanen sollte reizvoll erscheinen und nicht nur  auf Befehl eingenommen werden. Wie also versah man ein Herrschaftsgebiet mit so viel Anziehungskraft, dass sich die Menschen gern der Regierung eines Fürsten unterstellten? Hochschulen wurden von den Obrigkeiten der Frühen Neuzeit und vor allem in der Aufklärung  als eine Antwort auf solche "Fragen begriffen." (Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert, S.110/111 - Hervorhebungen von mir)

Es geht um eine Neuerrichtung eines Systems von Obrigkeit und Untertanen in ihren Herrschaftsgebieten. Zwischen denen werden die Kämpfe ausgefochten und wir folgen der Attraktivität unserer Herrscher. Wenn Martus das nicht als Kennzeichen unserer Zeit erkannt hätte, hätte er das 18. Jahrhundert nicht so treffsicher als strukturgleich mit dem Internetzeitalter beschreiben können. 


23.12.15

Flucht und Befreiung

"Das Gefühl der Befreiung, wenn man deutschen Boden verlassen hatte, [!] und über die Grenze in ein freies Land fuhr, war damals so überwältigend, daß noch heute, nach 28 Jahren, ein Echo dieses Gefühls in mir aufsteigt, wenn ich über die deutsche Grenze in die Schweiz fahre." (Marianne Leibholz, die 1938 als 11-Jährige mit ihren Eltern in die Schweiz und von dort nach Großbritannien ging, zitiert nach: Sabine Leibholz-Bonhoeffer "vergangen, erlebt, überwunden. Schicksale der Familie Bonhoeffer" 1970, S.116)

Marianne Leibholz schrieb mit 27 Jahren (1954) das  Gedicht:

 Exil II

Und wie er schaudernd stand, gejagt, vertrieben
aus einer Heimat, die er sehr geliebt,
hat sich der Himmel über ihm geweitet,
ihm deutend wie es keine Grenzen gibt.
Jetzt in der wirren Vielfalt der Symbole
brennt klare Schrift wie er sie nie gesehen.
Er weiß die gleichen Zeichen in der Helle
und in den schnellen Schatten stehn.
Und wie er Raum um Raum verlassen lernte,
lernt er verlassen in der Zeit,
spürt alles von Vergänglichkeit durchleuchtet,
horcht, ist zum Abschied sehr bereit.
Kraft strömt ihm zu. Kennt keine Fremde,
nur Vaterland, soweit der Himmel reicht.
Wird nie mehr wie vorzeiten Heimat finden.
Er ahnt es, dankbar. Und sein Herz ist leicht.
Dazu stellt sich Brechts Gedicht "Über die Bezeichnung Emigranten" mit den Zeilen
"[...] Jeder von uns
Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht
Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt.
Aber keiner von uns
Wird hier bleiben. Das letzte Wort
Ist noch nicht gesprochen."
Zu Recht wird im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Flüchtlingsstrom immer wieder daran erinnert, weshalb der Artikel 16, der 1949 ins Grundgesetz aufgenommen wurde, noch den Satz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." enthielt und weshalb der heutige Artikel 16a, der mit dem gleichen Satz beginnt, der damaligen Intention nicht gerecht wird.
Es ist zu hoffen, dass möglichst viele der heutigen Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, noch nach Jahren ein Echo des Gefühls der Befreiung empfinden werden und dass möglichst wenige daran denken werden, sich und ihren Kindern Zyankali zu geben, weil sie zurückgewiesen werden. 
Eine jüdische Mutter sagte mir, das sei ihr Plan gewesen, für den Fall, dass sie nach ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland kein Asyl in Großbritannien fände.
Wo hat sie mir das erzählt? In der Deutschen Evangelischen Gemeinde Oxford, die am 3. September 1939, dem Tag des Kriegsausbuchs,  ihren Anfang nahm. Das Oxforder Mansfield College hatte seine Kapelle zur Verfügung gestellt, damit ein deutscher Pfarrer für die Exilgemeinde predigen könne. Frieder Ludwig hat die Geschichte dieser Gemeinde erzählt.

17.12.15

Ist LAGeSo überall? Über eine ganz schwierige Gemengelage

Unsere Gesellschaft droht nicht, über der Spannung zwischen Willkommenskultur und Pegidadumpfheit auseinander zu reißen.
Die Lage ist weit komplizierter.
Willkommenskultur kann einerseits zusammengehen mit totaler Negation der Schwierigkeiten und andererseits auch einem völlig überholten Bild von zivilisierten Christen und unaufgeklärten Muslimen.
LAGeSo mit dem künstlich geschaffenen Überdruck von täglich weit mehr bestellten Flüchtlingen, als an einem Tag abgearbeitet werden können, ist nur ein symbolisches Abbild der Situation, dass die Organe der Bundesrepublik Deutschland nicht darauf eingestellt sind, den gegenwärtigen Flüchtlingsstrom zu bewältigen.
Wer keinen Berliner Flugplatz planen kann und keine Hamburger Philharmonie, der bewältigt schon gar nicht eine umfangreiche Aufgabe, die die gesamte Gesellschaft betrifft.
Wenn jemand einmal eine Andeutung der Schwierigkeiten versucht - wie Steinbrück heute in der ZEIT, dann lässt er - mehr oder minder gezwungen - die Hauptschwierigkeit weg, vor der die Menschheit steht und für deren Bewältigung die sie seit über 40 Jahren keine Strategie gefunden hat.

Das heißt nicht, dass gegenwärtig etwas grundfalsch läuft. Es heißt nur, dass in der öffentlichen Debatte die Komplexitätsreduktion entschieden zu weit getrieben wird. Das, was man Populisten vorwirft, die unzulässige Vereinfachung von Problemlagen, findet ständig in der Öffentlichkeit statt.

Politiker sind solche Vereinfachungen gewohnt, weil sie - sicher nicht ganz zu Unrecht - glauben, die Bevölkerung vor einer realistischen Sicht auf das Problem schützen zu müssen.

Wenn die Botschafterin des Pazifischen Inselstaates Palau zur Umweltpolitik sagt, "Seit dem Pariser Kompromiss ist unser Kopf über Wasser", meint sie damit: Uns steht jetzt schon das Wasser bis zum Hals, und wenn ihr ein Ziel von "deutlich unter 2 Grad" ausgebt und weiterhin Planungen für 3 Grad Erwärmung betreibt, die erst nach Jahren neu überdacht werden sollen, werden wir in dieser Zeit ertrinken. Nur ist sie das Schönfärben gewohnt.

Unbedingt mit ins Bild gehört:
Die Arbeitgeber können Flüchtlinge gebrauchen, um den Mindestlohn zu kippen. Andererseits ist im Sinne der Demographie eine erhebliche Einwanderung nach Deutschland wünschenswert.
Angela Merkel braucht das "Wir schaffen das.", um von ihrer unsozialen Haltung in der Griechenlandfrage abzulenken. Wenn jetzt im Gespräch ist, dass die Griechen unerträgliche Zustände in ihren Flüchtlingslagern haben und das, obwohl sie sie ja alle weiterschicken, wird nicht mehr über erhöhte Babysterblichkeit geredet. Andererseits rechnet Merkel fest auf die Unternehmerfraktion, wenn sie gegen ihren Kurs gegen ihre parteiinternen Kritiker durchsetzen will. Das wissen die Kritiker auch, in der CSU weiß man es sowieso; aber ein bisschen Populismus ist in großkoalitionären Zeiten schon ganz praktisch, um sich zu positionieren.

Wenn ich gesagt habe, bei der Willkommenskultur spiele bewusstes Ausklammern von absehbaren Problemen eine Rolle, wie es andererseits auch eine überholte Sicht auf den Islam gebe, so ist das zu ergänzen. Eine Helferin sagte mir: "Wir dürfen nicht in die Lager, um uns zu schonen." Das heißt, die Helfer wissen sehr wohl, dass ihnen vorgespiegelt werden soll, dass sie die Lage der Flüchtlinge weit stärker verbessern könnten, als sie es tun. "Ich träume so schon schlecht", sagte dieselbe Helferin.
Aber das Selbstbild von der Selbstwirksamkeit ist wichtig. Es ist auch legitim, solange es einen realistischen Blick auf die Probleme nicht völlig verstellt.
Hier spielt dasselbe Phänomen eine Rolle wie bei den Tafeln. Missstände lassen sich besser aufrechterhalten, solange sie wichtigen sozialen Gruppen dazu dienen, sich besser zu fühlen.
Damit soll freilich nicht die Formel vom "Gutmenschen" über alle Helfer übergestülpt werden. Persönliche Hilfe muss staatliche Hilfe ergänzen. Sie darf nur nicht zur Rechtfertigung dazu dienen, die staatlichen Aufgaben zu vernachlässigen.
Ein Parteitag, auf dem die Flüchtlinge das Hauptthema darstellen, so dass das in sich widersprüchliche Ergebnis der Pariser Klimakonferenz*, der VW-Skandal, die Eurokrise, die Griechenlandkrise,  die fehlende Bankenregulierung, die Schere zwischen Arm und Reich in der Öffentlichkeit aus dem Blick geraten, rechtfertigt zwar nicht das Stichwort "Lügenpresse", aber es dient in einer Situation, wo auf den Nobelpreisträger Obama die Person des Jahres Merkel folgt.
Der Hype, der die gleichzeitige Diskussion mehrerer Themenkomplexe fast unmöglich macht, wird gewiss auch von Politikern  als gefährlich empfunden. Das braucht sie freilich nicht daran zu hindern, ihn in ihrem Sinne auszunutzen.
Politik als die "Kunst des Möglichen".

Natürlich habe ich Wesentliches übergangen: Terrorismus, Waffenlieferungen, Ukraine - Russland, Syrienkrieg, Iran - Saudi-Arabien .... Ganz ohne Vereinfachungen kommt eine Äußerung zu komplexen Fragen nicht aus.

*Es schließt die Ölpreismanipulation durch Fracking, die Inflation der Emissionszertifikate und die Laufzeitverlängerung für Braunkohlekraftwerke ein, für die die Industrie auch noch Milliarden erhält.

Beispiele dafür, was zur Integration von Flüchtlingen getan wird.

15.12.15

Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht

Ich habe meinerseits schon über den Umgang mit digitalen Medien im Unterricht geschrieben.
Jetzt aber erscheint eine zusammenfassende Darstellung von 10 KollegInnen mit ihren Erfahrungen, die weit umfassender darstellt, was die Möglichkeiten sind.
Das Hauptproblem ist für mich beim Nachvollziehen: Ich kann mir nicht denken, dass schon viele Lehrer so fit im Umgang mit den digitalen Medien sind wie die, die hier schreiben.
Wer die vorgestellten Konzepte 1 : 1 umsetzen will muss es aber sein. Sonst ist Frustration wahrscheinlich. Aber die Anregungen scheinen mir sehr wertvoll. Für jeden.

Hier der Link zu dem Blog, wo die Arbeiten vorgestellt werden:

Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht 

10.12.15

Als Adolf in die Falle ging

Eine Buchvorstellung ist  in diesem Blog etwas ungewöhnlich. Das Buch scheint mir so bemerkenswert, dass ich ihm eine größere Bekanntheit wünsche. Es geht um "Als Adolf in die Falle ging" von Brigitte Endres.

Brigitte Endres schreibt über ihren Roman für Kinder:
James Krüss hat einmal über sich und Erich Kästner gesagt, da sie beide Lehramt studiert hatten:
„Wir wurden den Lehrern untreu und hielten den Kindern die Treue.“
Was mich angeht, möchte ich weder den Lehrern noch den Kindern untreu werden.
So kam ich auf die Idee, Kinderbücher zu schreiben, die sich als Klassenlektüren eignen und dazu Lehrerhandbücher zu entwickeln, die Ihnen die Arbeit erleichtern.
 Diese Absicht merkt man dem Buch an. Es ist aus der Perspektive eines Kindes leicht verständlich geschrieben. Die Handlung ist klar strukturiert.


Die Hauptperson, der Pimpf Heinz, ist von dem Eintritt in die Welt der Älteren fasziniert. Er findet dort Vorbilder in den Gruppenleitern beim Jungvolk und Anreize durch die gesellschaftlichen Symbole der höheren Reifestufen: Uniform, Teilhabe an den Ritualen der Älteren und ein ambivalentes Symbol, das Messer mit der Inschrift "Blut und Ehre".
Noch älter ist freilich sein Vorbild seit früher Kindheit, sein Großvater, der immer Zeit für ihn hatte und in dessen Garten er spielerisch Verantwortung lernte.
Verantwortung hat er freilich auch durch die häuslichen Pflichten in seiner Familie. Dazu gehört für ihn als den Jüngsten auch die Fürsorge für ein noch jüngeres Nachbarskind, die kleine Marie, die er immer wieder einmal, wenn ihre alleinerziehende Mutter sich nicht um sie kümmern kann, zu seinem Opa bringt, für den der Umgang mit dem kleinen Kind eine wahre Freude ist. Eifersucht entwickelt Heinz gegenüber Marie nicht. Da sie selbst für ihre drei Jahre noch zurückgeblieben ist, ist sie keine Konkurrenz für ihn.
Dagegen ist er auf seine ältere Schwester sehr wohl eifersüchtig, weil sie schon mehr Rechte und Freiheiten hat als er und weil sie den Großvater auch dort versteht, wo er aus Sicht von Heinz unverständlich reagiert. Richtig wütend werden kann er, wenn nicht nur die Erwachsenen, sondern auch seine Schwester ihm eine Erklärung für das Verhalten der Älteren verweigert mit dem Hinweis, dafür sei er noch zu jung.
Sein Weg zu den Älteren verläuft beim Jungvolk und der Hitlerjugend in klaren Bahnen mit wachsenden Anforderungen und ehrenvollen Bestätigungen für ihre Bewältigung, wird aber unübersichtlich dadurch, dass sein Großvater die gesellschaftlichen Normen des Systems ablehnt und seine Eltern zwar an das System angepasst sind, aber nicht aus innerer Überzeugung. Sein Veter akzeptiert die Forderungen als gesellschaftlich vorgegeben, seine Mutter folgt ihnen aus Furcht vor den Sanktionen, die sonst drohen. Freilich für den Ankauf von Uniform und Messer Geld aufzubringen, sind sie nicht bereit. Bei der Uniform ergibt sich ein Ersatz durch Braunfärben eines Kleidungsstückes, beim Messer hilft sich Heinz, indem er das notwendige Geld aus seiner Sparbüchse herausangelt, obwohl ihm das verboten ist.
Doch dann bricht von zwei Seiten das System auf ihn ein, wo er keinen rechten Frieden mit ihm machen kann: Zum einen erfährt er im Jugendlager, das ihm zwar Anerkennung und Erfolge im gesellschaftlichen Umfeld bringt, dass Vorgesetzte ihn und seine Kameraden mit willkürlichen Schleifereien und ständiger Herabsetzung begenen. Zum anderen erfährt er, dass sein Schützling Marie ein Opfer des Systems werden soll. Hier versagt die Anpassungsstrategie seiner Eltern. Seine Mutter ergreift klar Partei für das Kind, und alle sind ganz froh, als der Großvater, der dem System von Anfang an mit Widerstand begegnet ist, Marie bei sich vor Verfolgung beschützt und einen dauerhaften Weg zu ihrer Rettung findet: die Auswanderung von Mutter und Kind in die USA, wo der Bruder der Mutter lebt.
Dieser Weg erfordert den vollen Einsatz des Großvaters und erweist sich nur deshalb als gangbar, weil die Mutter, wie sie befriedigt feststellt, "Arierin" ist. Juden gelingt die Ausreise, wie Heinz bei dieser Gelegenheit bemrkt, nur selten.
Dass Heinz bei dieser Gelegenheit Zweifel am NS-Regime entwickelt und einen Ausweg aus seinen unmenschlichen Forderungen sucht, ist psychologisch verständlich und überzeugend. Ebenso, dass ein Kind über Identifikation mit Heinz (oder, falls die Geschlechterrolle das Mädchen schlechter ermöglicht, mit seiner älteren Schwester) nachzuvollziehen und abzulehnen lernt.
Es gilt aber dennoch einige Einwände zu bedenken, die gegen diesen Handlungsverlaufs eines Romanes für Kinder sprechen.
Besonders stört mich, dass der Opa seinerseits Hitler und seine Anhänger mit Ratten vergleicht und dass er die letzte Ratte, die es zu fangen gilt, Adolf nennt. Als Otto, der Onkel von Heinz kriegsverletzt in die Heimat zurückkehrt und für alle glaubhaft versichert, dass der "Führer" von den Schandtaten des Regimes weiß und die Bevölkerung bewusst belügt, beschließt Heinz, sein Ehrenzeichen, das Messer, wegzugeben. Das ist symbolisch bedeutsam, weil es für die Bereitschaft zu töten steht und er sich damit vom Regime löst.
Der Großvater sagt dazu "Adolf ist heute in die Falle gegangen". Damit meint er, dass der Nazi in Heinz beseitigt worden ist, und klärt damit über die Bedeutung des vorher unverständlich gebliebenen Titel des Buches auf. Das ist wirkungsvoll, auch wenn Kinder wohl nur unbestimmt fühlen können, dass das Böse überwunden ist.
Aber darf man für diesen Effekt den Großvater dasselbe tun lassen wie die Nazis, nämlich den Gegner zum Ungeziefer erklären, das es um jeden Preis zu beseitigen gilt?

Dann ist zu fragen, wieso das System der systematischen Ermordung von Menschen nur am Beispiel der Behinderten dargestellt wird, das Schicksal der Juden aber nur vage angedeutet wird. Zu erklären ist es damit, dass Heinz nur für ein jüngeres Kind Verantwortung übernehmen kann. Juden im Versteck wie Anne Frank im Amsterdamer Hinterhaus hätten einen weit unübersichtlicheren Handlungsaufbau erfordert. Und der Holocaust kann im Unterrichtsgespräch in Analogie mit der Ermorderung von Behinderten besprochen werden.

Schließlich aber kann man bezweifeln, dass die Behandlung des systematischen Massenmordes von Kindern überhaupt bewältigt werden kann, auch wenn sie nur am Beispiel eines einzelnen behinderten Kindes erfolgt.
Dazu habe ich in meiner eigenen Familie Erfahrungen gesammelt: Meine jüngste Tochter hat sich von 8 Jahren mit dem Schicksal von Anne Frankl beschäftigt und deshalb bei einem Museumsbesuch alle eindrucksvollen Ausstellungsstücke unbeachtet gelassen, um sich auf eine Sonderausstellung zum Schicksal der Juden dieses Ortes zu konzentrieren, obwohl diese weitgehend nur aus Schriftzeugnissen bestand.
Die ältere Tochter hat mit 9 Jahren - ohne unser Wissen - Eugen Kogons SS-Staat gelesen. Die dort geschilderten Gräuel haben sie weniger in Angst versetzt als später die Romane von Stephen King.
Beide Töchter aber haben die spätere Behandlung der NS-Zeit im Unterricht als weniger aufschlussreich empfunden als ihren kindlichen Umgang mit dem Problem.

Dennoch wird die Beschäftigung mit diesem Themenkomplex problematisch bleiben, wenn sie nicht von einer Besprechung der aufkommenden Fragen begleitet wird.

Deshalb hat Brigitte Endres ihrem Roman auch ergänzendes Material zur Seite gestellt: Kurzinformationen für die Leser und umfangreiches Begleitmaterial für die Hand des Lehrers.  

6.12.15

Lobbyisten wollen in Grundschulen gegen die gesetzliche Sozialversicherung agitieren

Warum wir dringend ein Schulfach Wirtschaft brauchen von Klaus Hurrelmann, 30.11.15  mit 843 Raktionen
"Für mich ist es unverständlich, warum nicht mithilfe eines Schulfachs Wirtschaft bereits in der Grundschule ein Verständnis für komplexe Themen wie Alterssicherung ausgebildet wird.  [...] Viele Jugendstudien zeigen: 40 Prozent der jungen Leute sind sich mittlerweile sehr wohl bewusst, dass sie sich viel intensiver um ihre Rente sorgen müssten – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sind die erste Alterskohorte, die von der Veränderung der Rentenfinanzierung voll getroffen wird und lediglich mit einer Rente von 40 bis 43 Prozent der letzten Bruttobezüge rechnen muss. Das ist wenig, viel zu wenig. Wer nicht mit einer betrieblichen und einer privaten Altersversorgung plant – oder zu den Glücklichen gehört, die ausreichend erben –, dem droht somit zwangsläufig die Altersarmut. [...]"

Wem jetzt noch nicht klar ist, wofür hier das Schulfach Wirtschaft eingeführt werden soll, ahnt es vielleicht bei diesen Sätzen von Tim Wessels: Ich möchte selbst entscheiden, wie ich fürs Alter vorsorge:
Im März 2012 habe ich eine Online-Petition gegen die Pläne des Arbeitsministeriums zur Einführung einer Rentenversicherungspflicht für Selbstständige eingereicht. Nachdem die Petition über 80 000 Mitunterzeichner gefunden hatte, in der Presse aufgegriffen worden war und ich von der damals zuständigen Ministerin Ursula von der Leyen zu mehreren sehr guten und umfangreichen Gesprächen eingeladen worden war, wurde das Projekt letztlich „auf Eis gelegt“.

Den Selbständigen soll eine Mitwirkung bei der Sozialversicherung erspart werden. Da es aber Selbständige gibt, die mit einer privaten Versicherung nie eine zureichende Alterssicherung erreichen können, soll der Staat die privaten Versicherungen mit Steuermitteln so weit aufstocken, dass sie attraktiver werden als die gesetzliche Rentenversicherung. Weil das jedem, der ein bisschen mitdenken kann, noch deutlicher als die heutigen Riester-Renten als Subventionierung unattraktiver privater Angebote auffallen würde, soll schon Grundschulkindern eingeredet werden, dass das ein sinnvolles Modell wäre.

Nicht überall ist der Lobbyismus so deutlich zu greifen. Dass aber ein Schulfach Wirtschaft, das die sozialen und ökologischen Zusammenhänge des Wirtschaftens ausklammert, gefährlichen Lobbyismus bedeutet, dürfte auch ohne das klar sein.
(Dieser Text wurde zunächst als Ergänzung des Artikels Schüler brauchen ökonomisches Wissen veröffentlicht.)