18.4.10

Sexueller Missbrauch?

Heideröslein

Sah ein Knab' ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
war so jung und morgenschön,
lief er schnell, es nah zu sehn,
sah's mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Knabe sprach: Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!
Röslein sprach: Ich steche dich,
daß du ewig denkst an mich,
und ich will's nicht leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Und der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
half ihr doch kein Weh und Ach,
mußt' es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Ist es die Tatsache, dass dies Gedicht von Heinrich Werner so rührend vertont worden ist, ist es die Autorschaft Goethes oder das Gefühl, dass ja "nur" ein Röslein (Fräulein/Jungfrau) Gewalt erleidet, die uns dazu betimmen, diese matter-of-fact-Darstellung von sexuellem Missbrauch nicht zynisch zu finden? Oder sehen wir wirklich so wenig hin, dass wir uns erfolgreich vormachen, das Lied handele wirklich von einem Blumen pflückenden Jungen (wo Jungen doch so bekannt dafür sind, dass sie am liebsten Blumen pflücken!)?
Einfühlung in die Opferrolle hat uns die Kunst auf diesem Gebiet wohl kaum gelehrt. (Man achte in der ausdrucksvollen Vertonung Schuberts auf die Begleitung.)

Es lohnt sich, verschiedene Interpretationen zu vergleichen:
die Geschwister Hoffmann
Andre Rieux mit Susan Erans, Carmen Monacha und Carla Maffioletti
Schubert Vertonung in der Version der Don Kosaken mit passenden(?) Postkarten
Männergesangverein mit Dirigentin
John Kelly mit der Kelly Family
derselbe etwas älter zusammen mit Maite Itoiz
ein russischer Kinderchor
und schließlich im Zusammenhang mit "Kein schöner Land in dieser Zeit als hier das unsre" das Lied in höchsten rührendsten Tönen von lieblichen Knaben gesungen, fast so schön wie von den Regensburger Domspatzen. (Hier eine Aufnahme von 2005, wo die Dame die Rose fortwirft. Daran könnte eine Interpreation ansetzen.)

Wer denkt dabei an sexuellen Missbrauch? Es geschieht doch alles nur mit Einverständnis. In Herders "Stimmen der Völker in Liedern" lauteten die letzten Zeilen noch "aber er vergaß darnach beim Genuß das Leiden". Wer vergisst? Gewiss nicht der Missbrauchte.

Jetzt hören wir mehr und mehr darüber, was selbst einvernehmlicher Sex für die schwächere Seite bedeutet. Goethe hat es im Faust gestaltet, Lenz im Hofmeister. Die Opfer blieben stumm.

2 Kommentare:

rip hat gesagt…

Danke für die zahlreichen Links zu unterschiedlichen Darbietungen und für die knappen, treffenden Ausführungen zur Bedeutung des Textes und seiner seltsamen Wirkungsgeschichte (oder eben nicht seltsam, aber umso betrüblicher). Deine Links haben mich auch zu einem Vortrag der Regensburger Domspatzen geführt, in den eine interessante Spielhandlung eingeblendet wird (bei YouTube).

Walter Böhme hat gesagt…

Herzlichen Dank für den Hinweis! Ich denke, ich darf ihn in meine Liste aufnehmen.