8.7.18

Eine realistische Weltsicht schließt zwei Aspekte ein

Es gibt unvorstellbar viel Elend auf der Welt und 
für den größten Teil der Weltbevölkerung (und damit für den Durchschnitt der Weltbevölkerung insgesamt) haben sich die Lebensbedingungen verbessert.

Diese These belegt Hans Rosling in seinem Buch "Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist" anhand von Zahlen der Vereinten Nationen, die inzwischen frei zugänglich sind.
Auf der folgenden Webseite hat er diese Informationen so übersichtlich, wie ihm möglich, zusammengestellt:

Anhand von 13 Fragen zeigt er auf, dass - zumindest bis vor kurzem - die Mehrzahl der Menschen, auch der gebildetsten, eine allzu ungenaue Vorstellung von der Weltsituation haben (oder hatten).

Hier die Fragen: http://forms.gapminder.org/s3/test-2018

In Factfulness erläutert er aber auch, aufgrund welcher Tatsachen und instinktiven Denkfehler die Weltsicht der meisten so ungenau ist.

1. Wir wissen, dass es ungeheuren Reichtum auf der Welt gibt und dass z.B. manche Internetkonzerne ungemein profitträchtig sind. Andererseits wird uns immer wieder vor Augen geführt, dass immer neue Kriege entstehen und Katastrophen eintreten, wobei die am Schwersten wiegenden zunächst nur drohen, aber bisher unabwendbar sind. - Wenn wir so reich und arm gegenüberstellen, achten wir wenig auf die überwiegende Mehrzahl der Menschen.
Statt einer Zweiteilung in reich und arm empfiehlt Rosling daher eine Einteilung in vier Einkommensstufen (S.47):
Stufe 1 bis zu 2 US-$ (dazu gehören etwa 1 Mrd. Menschen)
Stufe 2 bis zu 8 US-$ (dazu gehören etwa 3 Mrd. Menschen)
Stufe 3 bis zu 32 US-$ (dazu gehören etwa 2 Mrd. Menschen)
Stufe 4 über 32 US-$ (dazu gehören etwa 1 Mrd. Menschen)

2. Wir gewöhnen uns sehr schnell an Verbesserungen und empfinden Verschlechterungen weit deutlicher. Rosling spricht vom "Instinkt der Negativität". (S.63ff.)
Hier in Deutschland nehmen wir schon eine Abschwächung der Zuwachsrate oder gar eine Stagnation als negativ wahr. Rosling empfiehlt, einen realistischen Blick auf die Zustände 50 Jahre vorher zu wagen und die Vergangenheit nicht zu verklären. 
Denn in den meisten Ländern der Welt ist für die meisten Bewohner der Welt der Lebensstandard angestiegen. 

Falle 3: "Instinkt der geraden Linie" (Nichtberücksichtigung exponentieller Zusammenhänge, Kurven können verschiedene Formen haben) (S. 97ff.)

Falle 4: Angst (Schätzen Sie die Risiken ein.)


Furchterregende Risiken wie Terror oder Flugzeugunglücke sind meist relativ ungefährlich, weil sie nicht oft auftreten. 

Falle 5: Dimension (Setzen Sie die Dinge in Relationen.)

Falle 6: Verallgemeinerung (Hinterfragen Sie Ihre Kategorien.)

Wer vor allem mit einer Kluft zwischen Armen und Reichen auf der Welt rechnet, dem entgehen nicht selten wichtige Geschäftsmodelle. Besser ist es, die Einteilung in weltweite Einkommensstufen  im Blick zu haben.
"Jede Schwangerschaft führt zu einem bis zu zwei Jahre dauernden Ausbleiben der Menstruation. Wenn sie Hersteller von Damenbinden sind, ist das schlecht für Ihr Geschäft. Folglich sollten Sie wissen – und sehr froh darüber sein –, dass Frauen heute weltweit weniger Kinder gebären. Sie sollten auch wissen, dass die Zahl gebildeter Frauen zunimmt, die außer Haus arbeiten, und auch darüber sollten Sie froh sein. Denn diese Entwicklungen haben in den letzten Jahrzehnten einen explodierenden Markt für ihre Produkte geschaffen: Milliarden menstruierender Frauen, die jetzt in Ländern der Stufen 2 und 3 leben.
Aber wie ich bei einer internen Besprechung eines der weltgrößten Produzenten von Sanitärartikeln feststellen konnte, ist dies den meisten Herstellern im Westen völlig entgangen." (S.182/83)

Falle 7:  Schicksal (Langsamer Wandel ist dennoch Wandel.)

Die großen Veränderungen, die sich in den letzten Jahrzehnten in einigen Ländern Schwarzafrikas (z.B. in Ghana) ergeben haben, sind den meisten Menschen in Europa und den USA nicht bewusst. Veränderungen, die Jahrzehnte brauchen, tauchen in den Nachrichten höchst selten auf.  So wurde zwar "der stärkste jemals registrierte Rückgang" der "Zahl der Geburten pro Frau von mehr als sechs Kindern pro Frau im Jahr 1984 auf weniger als drei Kinder pro Frau 15 Jahre später" (S.212) im muslimischen Iran erreicht. Doch: "Über den schnellsten Rückgang der Kinderzahl pro Frau in der Weltgeschichte wurde in keinem der freien westlichen Medien berichtet." (S. 213)

Falle 8: Einzige Perspektive (Legen Sie sich einen Werkzeugkasten zu.)

Falle 9: Schuldzuweisung (Suchen Sie nicht nach einem Sündenbock.)

Falle 10: Dringlichkeit (Machen Sie kleine Schritte.) S.269ff.

Rosling gibt sehr gute Beispiele als Begründung. So hat er in einem Fall, als unklar war, ob bei einer Reihe von Krankheitsfällen eine Vergiftung oder eine Epidemie die Ursache war, für Quarantäne mit Straßensperren plädiert. Das führte zu Panikreaktionen, die über 20 Menschenleben kosteten. (S.270) Bei derEbola-Epidemie hat er deshalb gegen Quarantäne und für Überprüfung der Kontakte der Erkrankten plädiert. Und das hat sich trotz der weit größeren Zahl der Betroffenen bewährt.
Bevor man eine "Patentlösung" weltweit anwendet, sollte man zunächst durch begrenzte Experimente sehr sorgfältig prüfen, was die negativen Folgen dieser Lösung sind. Die gibt es praktisch immer. 

Das schließt nicht aus, dass man sehr ehrgeizige Ziele anstrebt (dazu Bernd Ulrich in der ZEIT: Wie radikal ist realistisch?) - Von großen Zielen reden (Pariser Klimagipfel 2015) und sie in der Praxis verleugnen, ist keine sinnvolle Lösung.

Weitere Hinweise:
Wenn wir extreme Armut bekämpfen, tragen wir damit zur Lösung unserer eigenen Probleme bei:
http://fontyfan.blogspot.com/2018/07/die-wichtigste-politische-aufgabe-zur.html

Einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Weltgesundheit leistet auch die One Health Initiative (m.E. von Rosling angesprochen) , die zur Bekämpfung der Zoonosen, die besonders in den Stufen 1 und 2 viele Opfer fordern, die Zusammenarbeit vieler Wissenschaften, insbesondere Medizin und Tiermedizin fördert und eine gemeinsame Internetplattform für Fachleute unterhält.