29.6.20

Habermas und Arno Widmann oder wie Literatur die Demokratie retten könnte

"Der erste Satz lautet: „Wir sind von Haus aus eine geschwätzig plappernde Spezies“. Dann kommt kein Punkt, sondern ein Gedankenstrich und es geht so weiter: „kommunikativ vergesellschaftete Subjekte, die ihr Leben nur in Netzwerken erhalten, die von Sprachgeräuschen vibrieren.“ "
Das ist Habermas. Aber Arno Widmann versteht es, ihn zu lesen und uns zu erklären, was seine Faszination ausmacht. 
Habermas hat eine philosophische Theorie des Kommunikativen Handelns entwickelt und er hat die Kurzformel vom herschaftsfreien Diskurs entwickelt. Damit hat er eine Formel gefunden, die ich mir mit "Gespräch auf Augenhöhe" übersetzen kann. Das ist nach meinem Verständnis ein Gespräch, bei dem nur die Qualität des Arguments zählt und nicht die Autorität, die von einer Lebensleistung ausgeht (z.B. Einstein oder Habermas) oder von einer Institution (Papst) oder von einem Machtapparat (Trump, Stalin, Hitler). 
In der Wikipedia wird mit der über Decknamen möglichen Anonymität so etwas versucht (freilich durch die organisatorische Macht von Administratoren und Administratorennetzwerken wieder konterkariert).

Wie erklärt uns Widmann das Besondere an der Formulierungskunst von Habermas?
"Das ist Jürgen Habermas. Er kann eben beides: So reden, dass wir ihn verstehen und das dann verstecken in einem Professorendeutsch, vor dem man davonrennen möchte. Allerdings gelingt es einem nicht, weil er einen durch diesen abschreckenden Sound hindurch immer wieder packt. Hier zum Beispiel das „vibrieren“." (Nachzulesen in Widmann: Es bleibt die Literatur, FR 29.6.2020)

Während Adorno einmal (in der ZEITsinngemäß erklärt hat: Ich bin aus den USA nach Deutschland zurück gekommen, weil man in den USA von mir verlangt, verständlich zu schreiben, hat Habermas den Weg gefunden, beides zu tun: Sich im wissenschaftlichen Diskurs eine führende Stellung zu erarbeiten und in der öffentlichen Auseinandersetzung unmissverständlich Position zu beziehen (z.B. Historikerstreit). Dazu braucht es immer wieder Kurzformeln wie 'Verfassungspatriotismus', 'Strukturwandel der Öffentlichkeit' und eben 'herrschaftsfreier Diskurs'. 

Zurück zu Widmann: Er ist nicht nur auf den unterschiedlichsten Feldern im Bereich Kultur unterwegs, sondern er stellt aktuelle Beiträge und Diskussionen auch prägnant vor. 
Den Vorteil der sozialen Medien und ihre Gefährlichkeit für die Demokratie beschreibt er, Habermas vereinfachend, so:
"Die digitale Revolution hat uns alle zu potentiellen Autoren gemacht, schreibt Habermas. Die sozialen Medien lassen unserer „Plapperlust“ freien Lauf. Sie sind die allen ungefiltert zugängige Öffentlichkeit. [...] Die Kontrollinstanzen von z. B. Redakteur und Lektor entfallen. Jeder kann jedem twittern. Auch die Politiker sind nicht mehr angewiesen auf „Bild und Glotze“. Sie erreichen ihre Follower direkt. [...]. Es handelt sich zweifelsohne um einen demokratischen Schub. Aber er gefährdet, so dialektisch geht es zu, die Demokratie.[...] Habermas sieht die Gefahr, dass „sich die Meinungsbildung in den zersplitterten und gleichzeitig von selektiven Standards entlasteten Kommunikationsblasen gegen die rationalisierende Kraft einer diskursiven Vielfalt der Beiträge immunisiert.“ [...]
Und dann fährt Widmann fort:
"So umfassend der Einfluss der Digitalisierung auf die politische Kommunikation ist, so gering ist er auf die Literatur. [...] Literarische Werke, so Habermas, verfügen über „eine eigentümliche Autorität.“ Sie rührt aus ihrem „Eigensinn“, mit dem sie sich dem Urteil der Zeitgenossen entziehen oder gar widersetzen und dagegen einer späteren Generation sich mitteilen ja geradezu aufdrängen können." [...]  Der Künstler, der Autor hat nicht eine Erfahrung, die er geschickt in Worte zu fassen versteht, sondern er erfährt, was er erfährt, beim Schreiben. Literarische Erfahrung ist eine Sache des Textes. Darum kann der Leser sie – in manchen Fällen nach Tausenden von Jahren über mehrere Übersetzungen hinweg ohne Kenntnis der Lebensumstände des Autors – nachvollziehen.
Wir lesen, so schreibt Habermas, nicht um uns über bestimmte Sachverhalte aufzuklären, sondern – damit kommt er Adorno näher, als er ihm in den letzten 60 Jahre wohl je war -, „um wenigstens manchmal einige Zipfel jener vorsprachlich präsenten Erfahrungen, aus denen wir intuitiv leben und mit denen wir dahinleben, als solche zu ergreifen und uns anschaulich vor Augen zu führen. Ob sie nun schön sind oder schrecklich.“"
Und es bedarf eines "Qualitätsmediums", um Widmann den Apparat und die Reichweite zu geben, um uns auf den verschiedensten Gebieten so informieren, dass wir nicht nur über das Wesen von Literatur, sondern auch über die gedankliche Nähe von Adorno und Habermas aufgeklärt werden. 


Über Gemeinsamkeiten von Literatur und Spiel als Mittel der Selbsterfahrung haben schon Schiller und Huizinga nachgedacht: Homo ludens.

25.6.20

Milliarden für Finanzindustrie und Umweltverschmutzung, Kürzungen für kleine Selbständige und Angestellte

Wer Gewinne will, muss Risiken tragen ZEIT 25.6.20
Heinz Hermann Thiele hat darauf spekuliert, dass er von der umweltschädlichen Milliardenspritze für die Lufthansa profitiert, wenn er mit der Insolvenz der Lufthansa droht. Als seine Spekulation selbst den Vertretern eines ungeregelten Marktes unanständig erschien, hat er - nach neusten Meldungen - zurückgezogen.

Dagegen hat die Spekulation der Finanzindustrie mit der Schaffung der EFTs (vgl. Indexfonds) funktioniert:

Die Stunde der Zombies ZEIT 25.6.20
"Fast 40 Millionen Menschen haben in den USA in den vergangenen Monaten ihren Job verloren. Doch während sie oft vergeblich auf staatliche Hilfe warten, gab es über Nacht Billionen Dollar für die Finanzindustrie." 

EFTs (börsengehandelte Fonds) sind anlegerfreundlich, weil sie es ermöglichen, dem Risiko des Kaufs der Aktien/Anleihen einer einzelnen Firma auszuweichen. Freilich funktioniert das nur unter der Fiktion, dass die ausgebenden Institutionen auch in Zeiten sprunghafter Börsenentwicklung tragen. Wenn sie das (aufgrund des Börsenhandels in Nanosekunden und der daraus resultierenden hohen Beschleunigung der Kursausschläge) nicht tun, dann droht bei jeder realen Krise eine Finanzkrise. Deshalb fließen wegen der jetzigen Pandemie nicht nur Billionen für die Industrie, sondern zusätzlich auch Billionen für die Finanzindustrie und Investmentfonds wie Blackrock, der ehemalige Arbeitgeber von Friedrich Merz, verdienen Milliarden daran, dass die Finanzindustrie ins Wanken gebracht haben. 
So - von mir kurz gefasst - die Analyse der ZEIT. 

Es bleibt dabei: Systemrelevant sind in der Wirklichkeit Verkäufer*innen, Pfleger*innen und Ärzt*innen und müssen deshalb Gesundheitsrisiken ein gehen und Überstunden schieben, aber die Spekulanten, die das Finanzsystem mit immer gefährlicheren Finanzkonstrukten  zerrütten, heimsen die Milliarden ein.

24.6.20

Vom Beruf zum lebenslangen Lernen

Das Wort Beruf kommt von Berufung und bedeutet, dass man das lernen sollte und sich das als Lebensaufgabe setzen sollte, was einen besonders interessiert und was man für gesellschaftlich besonders wichtig hält (so wie gegenwärtig in der Coronakrise Versorgung und Betreuung von Menschen).
Die Entwicklung vom Beruf zum lebenslangen Lernen bedeutet: Es geht immer weniger darum, was man gelernt hat, und immer mehr darum, ob am motiviert ist, Neues zu lernen.
Eine Professorin hat bei einer Examensfeier den erfolgreichen Studenten Folgendes gesagt (ich gebe das aus dem Gedächtnis wieder): Worauf wir bei Studenten bei der Aufnahmeprüfung achten, ist dasselbe wie das, worauf die Firmen bei der Einstellung von Berufsanfängern achten: Motivation und gedankliche Offenheit, Flexibilität.
Ich füge hinzu: Was den Nobelpreisträger vom normalen Wissenschaftler unterscheidet, ist die Motivation, er ist weit motivierter als andere.
Die Fragen, die ich dazu zu stellen habe: Woher soll ich die Motivation nehmen, etwas zu lernen, was ich nicht für wichtig halte?
Wenn es um größtmögliche Lernfähigkeit und Flexibilität geht, ist ein Computer der Beste. Den kann man nämlich für jede beliebige neue Aufgabe programmieren. Menschen arbeiten aber am erfolgreichsten, wenn sie interessiert und motiviert sind.
Bedeutet mehr Eigenverantwortung des Angestellten mehr Freiheit für ihn oder nur weniger Verantwortungsbereitschaft des Unternehmers??

1.6.20

Ohne Meinungsaustausch werden wir nicht klüger

Warum haben sich die Politiker in der Coronakrise ständig auf die Wissenschaft berufen? Weil Gefahr im Verzuge war und man nach bestem Wissen und Gewissen schnell entscheiden musste. Das war richtig, und Wissenschaftler haben darauf immer wieder hingewiesen. Aber dieselben Wissenschaftler haben stets gewusst, dass alle wissenschaftliche Erkenntnis nur vorläufig ist. Deshalb forschen sie ständig weiter, unternehmen neue Experimente, damit die Unsicherheit geringer wird und Schritte aus der Krise heraus weniger riskant.
Dazu gehört freilich auch offene Diskussion darüber, was aus dieser Krise zu lernen war. Und dazu gehören Proteste, Demonstrationen und fundierte Kritik am Regierungshandeln aus den Reihen der Opposition. Ohne Meinungsaustausch werden wir nicht klüger.
Was uns in die Krise hineingeführt hat, kann uns nicht herausführen.