8.2.24

Wir digitalen Analphabeten

Artikel im Freitag vom 8.2.2024

Eigentlich wollte ich über Christa Wolf schreiben. Da bringt mich ein Zeitungsartikel davon ab. Zu sehr geht mich das Problem der Digitalisierung an. So schlimm waren die Folgen der Pandemie für die, die einen schlechteren digitalen Zugang haben.

"Ohne die Hilfe meiner Kinder Kinder ginge gar nichts, sagt sie. [...] Hannelore G*., Jahrgang 1951, 2 Kinder, Sachbearbeiterin im Ruhestand [...]"

Ich, älter als sie, habe das anders erlebt. Zwar meine erste Hinführung zum Computer bekam ich durch meinen 8-jährigen Sohn, dann aber habe ich als Lehrer eine Fortbildung gemacht und Informations- und kommunikationstechnische Grundbildung (IKG) gemacht und danach jahrelang unterrichtet. Freilich, mein Sohn hat das, was ich in einer Woche gelernt habe, an einem Abend kurz vor dem Schlafengehen aus meinen schriftlichen Materialien gelernt. Aber digitaler Analphabet war ich seitdem nicht mehr.

"Digitalisierung ist keine individuelle Entscheidung, sie kann nicht als nettes Add-on begriffen werden. Alltag, Arbeit, Auszeit – das ganze Leben wird darüber organisiert. Wir sind selbst längst Weltbürger*innen der Cloud. [...]
*Name geändert"

So ist das: Aus Weltbürgern werden Welt Bürger*innen "*Name geändert" - Nur der Name ist geändert, aber die nicht-weißen cis-Männer bleiben da, wo im IT-Bereich Entscheidungen gefällt werden, gegenüber den cis-Männern trotzdem deutlich in der Minderzahl, und entsprechend  werden ihre Interessen beim Ausbau der Digitalisierung weniger berücksichtigt. 
Das war während der Pandemie festzustellen. Die Schüler*innen mit den besseren Schulleistungen konnten - ohne die Bremse durch ihre Mitschüler*innen, auf die die Lehrkräfte Rücksicht nahmen - schneller lernen. Denen die etwas nicht gelernt hatten, fehlte die Kompetenz, dazwischen zu fragen. Sie wurden abgehängt.

Das habe ich an mir selbst festgestellt, als ich eine Internetfortbildung am Goethe-Institut in Jaunde mitmachte. Alles wurde auf Deutsch verhandelt, insofern war ich ganz unfair im Vorteil. Aber als mit einer neuen Software in einem anderen Internetraum gearbeitet wurde,
brauchte ich so lange, bis ich dort ankam, dass ich den Anschluss verloren habe. (Außerdem war ich auch weit weniger motiviert, weil ich das, was gelehrt wurde, nicht für meine Zwecke brauchte, sondern nur den Unterrichtsvorgang folgen und darüber berichten wollte.) Es war eine sehr lehrreiche Erfahrung: Mein eigenes Lernen im Internet geschieht fast immer in meinem Tempo und meist bin ich auch an dem interessiert, was es zu lernen gibt. - Aber wie um alles in der Welt soll ich - wenn ich ohnehin schon Schwierigkeiten habe, den Stoff aufzunehmen, und mich zu motivieren, - ohne Vorbereitungsphase im "home office" mit meinen drei Geschwistern in einem Zimmer - plötzlich neuen Stoff aufnehmen, wenn ich keine Möglichkeiten habe, Fragen zu stellen oder wenigstens darauf hinzuweisen, dass ich nicht mitkomme! Selbst wenn ich es könnte, kann ich es mir leisten, mich vor den anderen so bloßzustellen? - Nach meinem Realitätsschock konnte ich aus dem Fortbildungskurs ohne Gesichtsverlust aussteigen. Aber wie wäre ich zurechtgekommen,
wenn ich zwei Jahre lang immer wieder in dieser Weise beim Lernen behindert worden wäre?

Weiter im Zeitungsartikel:

"Hannelore G. erweitert konstant ihren digitalen Horizont. [...] Und sogar der Kirchenchor habe inzwischen eine Whatsapp-Gruppe, erzählt sie. In der Gruppe seien viele sogar noch älter als sie. Aber: nicht alle sind in der Gruppe. Es fehlen vor allem die, die keine Unterstützung von ihren Verwandten haben. Nicht alle aus dem Kirchenchor sind auf WhatsApp."

Die Leser*innen können sich jetzt gewiss denken, weshalb.
Einen Augenblick lang habe ich gedacht: "Ein Glück! Doch nicht bei dieser Datenkrake von Zuckerberg! Natürlich sollte die Gruppe auf Signal laufen, was meine Kinder mir empfohlen haben,"
Aber: "Digitalisierung ist keine individuelle Entscheidung, sie kann nicht als nettes Add-on begriffen werden. Alltag, Arbeit, Auszeit – das ganze Leben wird darüber organisiert."
Ich bin nicht in der Whatsapp-Gruppe unserer Kirchengemeinde. Vorläufig ist es offline viel interessanter für mich. 

" 'Digitalisierung verschärft immer dort die Ungleichheit, wo der Zugang zu digitalen Möglichkeiten eigentlich Vorteile schaffen würde, man diese aber nicht für sich nutzen kann, warnt Sandy Jahn von der Initiative D21."


Flüchtlinge oder Geflüchtete? - Was meinte Brecht dazu?

 Bertolt Brecht

Immer fand ich den Namen falsch, 
den man uns gab: Emigranten.
Das heißt doch Auswanderer. Aber wir
Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß
Wählend ein andres Land. Wanderten wir doch auch nicht ein 
in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer
Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.
Und kein Heim, ein Exil 
soll das Land sein, das uns da aufnahm.

Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen
Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste Veränderung
Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling
Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend
Und auch verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend.
Ach, die Stille der Stunde täuscht uns nicht! Wir hören die Schreie
Aus ihren Lagern bis hierher. Sind wir doch selber
Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen
Über die Grenzen. 
Jeder von uns
Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht,
Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt.
Aber keiner von uns
wird hier bleiben. Das letzte Wort
Ist noch nicht gesprochen.
(Sabine Leibholz-Bonhoeffer: vergangen erlebt überwunden, S.124)

Rückführung oder Remigration?
Brecht wollte zurückkehren, nicht zurück gekehrt werden.
Schon gar nicht wollte er remigriert werden.

"Warum löst die Regierung das Volk nicht auf und wählt ein neues?"

Mehr und mehr aus dem Volk flohen, bis die Mauer ganz verschwand. Jetzt können sie gehen oder bleiben. 

Das ist manchen nicht recht. Sie wollen, dass die, die ihnen nicht gefallen, remigriert werden. Möglichst weit nach Übersee.

27.1.24

Zu den Ratschlägen des PISA-Koordinators Schleicher an die deutschen Lehrkräfte

Ich bin seit seit über 16 Jahren im Ruhestand und weiterhin noch sehr an Schule interessiert.* Auch Freude am Lehren hat mich nicht verlassen, aber was ich von meinen Kindern und Schwiegerkindern, die an verschiedenen Schulformen unterrichten, über die Entwicklung an unseren Schulen besonders seit der Pandemie erfahre, vermittelt mir die Überzeugung, dass ich unter den gegebenen Umständen den Ruhestand nicht als Lehrer erreicht hätte.

Dabei habe ich Verständnis für die Unzufriedenheit des Koordinators der PISA-Studien mit dem jüngsten Abschneiden der bundesdeutschen Schüler*innen bei eben diesen Studien. Er ist nicht für den Leistungsabfall zuständig, schließlich ist er nicht Organisator des deutschen Bildungswesens und schon gar nicht Trainer der gegenwärtigen Lehrkräfte,  

Aber aufgrund meiner Erfahrungen halte ich ebenso wie die Lehrkräfte, die im Folgenden zu Wort kommen, seine Empfehlungen an die Lehrkräfte für nicht sachgerecht.

Zur Begründung meiner Einschätzung zitiere ich recht ausführlich aus Berichten von Lehrer*innen aus der ZEIT und aus Kommentaren zu diesen Berichten

 "Mein Erste-Klasse-Material nehme ich jetzt für die Dritte" (Die ZEIT 25.1.2024 - mit - während der Schlussredaktion dieses Artikels - rund 230 Kommentaren)

"Lehrerinnen sollen weniger jammern und sich als Coaches* für Schüler verstehen, sagt Pisa-Erfinder Andreas Schleicher. Drei Lehrkräfte erzählen, warum sie das aufregt.

Sebastian Hartling*, Anfang 40, Lehrer an einem Gymnasium in Süddeutschland

Ich war nie an einer Problemschule, im Gegenteil: Ich unterrichte Kinder und Jugendliche, die lernen wollen. Viele möchten Karriere machen wie ihre Eltern, Managerin oder Chef werden. Und Schulleitungen von Gymnasien wie unserem legen viel Wert aufs Image. Dementsprechend mögen sie es, wenn junge Lehrerinnen und Lehrer bereit sind, Verantwortung zu übernehmen: zusätzliche Aufgaben, Unterricht anders gestalten, in der Freizeit mit den Schülern eine Exkursion machen. Da bremst dich niemand.

Bei mir zum Beispiel sind in den Anfangsjahren noch drei neue Fächer dazu gekommen, unter anderem Wirtschaft. Das war so eine Idee aus dem Kultusministerium: Dort denken sich Leute schöne Dinge für die Schulen aus, etwa neue Unterrichtsfächer. Sie berücksichtigen aber nicht, wie viel mehr Arbeit das ist – und dass es Leute braucht, die sie erledigen. Ich belegte unbezahlt Abendstudiengänge, um diese neuen Fächer zu lehren. [...]Idealisten wie ich brennen dabei aus. Fast zwei, drei Jahre lang war ich ein Wrack, sobald ich die Schule verlassen habe. Während der Arbeit funktionierte ich, aber schon im Auto nicht mehr, im Privatleben sowieso nicht. Ich hätte in eine Klinik gehört, stattdessen machte ich heimlich eine Therapie, damit an der Schule niemand etwas merkt. Gerade erst fange ich an, Krankenkassenbelege von 2019 einzureichen, viel zu spät, einfach weil ich zum ersten Mal seit Jahren die Kraft habe, mich um solche Dinge zu kümmern. Zu Hause übernahm meine Partnerin alles: den Haushalt, den Mental Load. Ich bin nicht mehr zu Geburtstagen der Familie oder von Freunden gegangen. Noch immer nehme ich mir zu wenig Zeit für meine Mutter, meine Schwester, meinen Neffen. Konzerte, Theater, alles, was ich gerne gemacht habe, ist weggefallen.[...] 

Luisa-Marie Berentz*, 44 Jahre alt, Lehrerin an einer Grundschule in Norddeutschland

Andreas Schleicher fordert also Hausbesuche von uns ein. Seit 15 Jahren bin ich Lehrerin. Ganz am Anfang habe ich das einmal gemacht, bei einer fünften Klasse, alle Familien einmal zu Hause besucht. Es war als freundliche Geste gedacht, zum Kennenlernen. Und ich sage nur: nie wieder. Ich habe mich wie ein Eindringling gefühlt, den Eltern gegenüber ist das übergriffig.

Und ich finde diese Erwartung auch uns Lehrerinnen gegenüber frech. Meine Schule liegt in einem Stadtteil mit vielen sozialen Herausforderungen. Ich möchte nicht in die Privatleben der Menschen geschickt werden. Ein Handwerker, der in einen Haushalt geht und Missstände vorfindet, kann anonym eine Gefährdungsmeldung beim Jugendamt machen. Als Lehrerin bist du da ganz anders involviert. Ich bin schon bedroht worden, weil ein Kind nach einer Meldung von mir aus der Familie geholt worden ist. Die Eltern wissen ja, wo sie mich finden. [...]

Wirklich lachen muss ich allerdings, wenn Leute wie Schleicher sagen, der Leistungsgedanke gehöre wieder in den Vordergrund. Ich sorge auch da gerne für – wirklich, er muss mir nur sagen, wie. Jeder sollte mal einen Tag mit einer Lehrerin oder einem Lehrer mitgehen und sich anschauen, was uns da begegnet. Heute im Sachunterricht haben wir uns mit den Jahreszeiten beschäftigt. Die Kinder sind jetzt schon ein halbes Jahr in der Schule, sie kriegen ihre ersten Zeugnisse. Ich frage: Was haben wir denn jetzt für eine Jahreszeit? Dann meldet sich ein Mädchen und sagt: Schnee. Es bleibt wenig hängen, viele Kinder können sich ganz schlecht konzentrieren. Ich habe keine Erklärung, warum genau das so ist: Mein Erste-Klasse-Material von vor zehn Jahren nehme ich jetzt für die Dritte.

Das ist mir auch schon an der Gemeinschaftsschule aufgefallen, bis hoch in die achte Klasse verstehen Kinder und Jugendliche oft nicht einmal den Arbeitsauftrag. Sie lesen sich eine Aufgabe durch, wissen aber trotzdem nicht, was sie tun sollen. Jetzt in der Grundschule rufen mich manche schon zur Hilfe, bevor sie überhaupt das Buch aufgeschlagen haben. [...]

Christiane Bauminger*, 39, Lehrerin an einem Beruflichen Schulzentrum in Süddeutschland

Eine Aussage von Andreas Schleicher regt mich richtig auf. In dem Interview mit der Stuttgarter Zeitung sagte er, dass gute Pädagogen nicht nur ihre Schüler, sondern auch deren Eltern kennen und sie bei Problemen zu Hause besuchen sollten. Ernsthaft? Das ist nicht mein Job, dafür bin ich nicht ausgebildet. Dafür gibt es Sozialarbeiterinnen oder das Jugendamt.  

Als Lehrkräfte übernehmen wir schon viele dieser Aufgaben: Jugendliche sprechen mich an, wenn ein Mitschüler suizidgefährdet ist. Oder weil der vermeintliche Freund heimlich ein Sexvideo aufgezeichnet hat.

Jugendliche sprechen mich an, wenn ein Mitschüler suizidgefährdet ist. Oder weil der vermeintliche Freund heimlich ein Sexvideo aufgezeichnet hat. Wegen einer Schwangerschaft. Das alles ignoriere ich natürlich nicht. Ich höre zu, versuche, Lösungen zu finden. Ich kenne die Eltern, selbstverständlich sind mir Gespräche mit ihnen wichtig. Aber auch noch zu ihnen nach Hause gehen? Auf keinen Fall. Das finde ich auch problematisch, weil es Familien gibt, die uns ihre Lebenssituation nicht zeigen wollen. Wie es bei ihnen zu Hause aussieht, geht uns einfach nichts an. 

Ich bin seit mehr als zehn Jahren Lehrerin – und ich liebe diesen Job. Doch er frustriert mich auch immer wieder. Dabei sind die Bedingungen an meiner Schule sehr gut. Bei uns können Jugendliche und junge Erwachsene sämtliche Schulabschlüsse machen. Außerdem absolvieren Azubis hier einen Teil ihrer Ausbildung. Die Klassen sind klein, meistens so um die 20 Schülerinnen und Schüler. Unser Landkreis, der Träger der Schule, ist spendabel. Und über den Förderverein bekommen wir viel Geld von Unternehmen, deren Auszubildende bei uns lernen. Wir haben moderne Produktionsstätten, an denen Berufsschüler Erfahrungen sammeln. Es gibt überall schnelles Internet.  

Es könnte also schön sein, aber so einfach ist es nicht. Ich unterrichte vor allem Jugendliche mit niedrigem Bildungsniveau, und die kommen mit einer krassen Konsumhaltung in den Unterricht. Er soll am liebsten wie ein Kinoabend sein, immer etwas Besonderes. Wenn ich nichts Außergewöhnliches biete, kommen einige nicht. In den vergangenen Jahren sind es immer mehr geworden, die regelmäßig nicht erscheinen. Nur als die Landeszentrale für Politische Bildung mit einem Escape-Room zu Gast war, da waren dann wirklich mal alle da. 

Manche Schüler haben den Wissensstand von Siebtklässlern, sind Schwänzer, ihr persönliches Umfeld ist schwierig. Außenstehende, auch Bildungspolitiker, denken, dass diese Kids in einem Jahr mit Hauptschulabschluss und Ausbildungsplatz unsere Schule verlassen können. Das klappt aber oft nicht, und das frustriert Kolleginnen und Kollegen. Mich inzwischen nicht mehr so, weil ich weiß, wie unrealistisch diese Erwartungen sind.

Schleicher kritisiert auch, dass Pädagogen meistens Einzelkämpfer sind. Ich kann nur von meinem Kollegium sprechen, und da hat er leider recht: Wir sind Eigenbrötler, unter uns gibt es nur wenige Teamplayer. Ich kann gar nicht genau sagen, woran das eigentlich liegt. Es hängt natürlich von den Leuten ab, von der jeweiligen Person. Aber wer einmal drin ist, ist drin. Das Schulsystem ändert sich, die Schüler verändern sich, doch niemand kontrolliert, ob sich die Lehrenden auf diese Veränderungen einlassen. [...] Aber in Teams entstehen mehr Innovationen, glaubt der OECD-Bildungsdirektor. Grundsätzlich gebe ich ihm da recht. Als Teil eines Schulversuchs haben wir auch mal ausprobiert, dass zwei oder drei Lehrer gemeinsam eine Klasse unterrichten. So kann man kleinere Gruppen bilden und besser auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler eingehen. Das klingt toll. Aber dafür brauchst du natürlich doppelt so viele Lehrkräfte. Es kostet Zeit, gemeinsame Unterrichtskonzepte zu entwickeln, aber die fehlt uns im Alltag.  [...]

Ich kann mich noch gut an eine Abirede von vor fast zehn Jahren erinnern. Der Schüler, der für die Jahrgangsstufe sprach, sagte: "Für eine 1 muss man auswendig lernen. Wenn man selbst Ideen hat, ist die 1 weg. Was macht man also? Natürlich auswendig lernen." So gilt es bis heute. Wie sollen wir Lehrkräfte bei den vorgegebenen Prüfungen das eigenständige Lernen fördern?  

Dazu passt der nächste Vorwurf des Pisa-Chefs: dass viele Lehrerinnen und Lehrer Befehlsempfänger seien. Würde ich mich so definieren? Dienst nach Vorschrift? Das klingt so hart. Ich bin Landesbeamtin und damit habe ich mich verpflichtet, bestimmte Dinge umzusetzen. Ganz ehrlich: Manchmal ist es auch der bequemere Weg. Ich habe mir jahrelang riesige Mühe gegeben, ich melde mich freiwillig für "Problemklassen". Manchmal fehlt mir dafür die Wertschätzung, auch von Kolleginnen und Kollegen. 

*Die Namen der Gesprächspartnerinnen und -partner sind zum Schutz vor beruflichen Nachteilen geändert, die richtigen Namen sind der Redaktion bekannt."

Während meiner Dienstzeit habe ich allerlei Herausforderungen angenommen und bin seit 2004 auch in der Wikipedia (in mehreren Sprachsektionen sowie darauf auch in WikiversityWikibooks  und Wikisource u.ä.), seit 2005 in der ZUM, seit 2006 in diesem und einer Reihe weiterer Blogs, und seit 2011 bei verschiedenen weiteren Formen des Internetlernens und außerdem in verschiedenen Formen ehrenamtlicher Arbeit bereits während meiner Dienstzeit, doch besonders im Ruhestand engagiert. Am Engagement scheint es mir also - zumindest auf den ersten Blick - nicht unbedingt zu fehlen.

* Lernen durch Lehren ist sehr geeignet, die Lernmotivation der Lernenden zu fördern, ist aber, gerade weil die Lehrkraft die Schüler*innen nicht unterrichtet, sondern sie dafür trainiert, ihre Mitlernenden zu lehren, nach Aussage des Begründers der Methode Jean-Pol Martin  für die Lehrkraft, zumal in der Übergangsphase, besonders fordernd. Die großen Vorteile, die in der Wirtschaft entstehen, wenn erfahrene Manager*innen von Berufsanfänger*innen gecoacht werden, sind naheliegenderweise nicht auf die frühen Jahrgänge des Unterrichtswesens übertragbar. Die besonderen Probleme mit Inklusion (ich bin selbst hörgeschädigt) bedürften einer besonderen Behandlung.

Beispielkommentare:

"Ich gehe davon aus, dass die Kultusministerien wissentlich die Erkenntnisse und Regeln des Arbeitsschutzes missachten und es an Schulen keine ehrlichen Gefährdungsbeurteilungen der Arbeitsplätze gibt.

Ich habe in der Industrie gearbeitet, in der die Arbeitgeber in vielen Fällen begegriffen haben, dass die Arbeitsbelastung erfasst werden muss, um Fehlbelastungen zu mindern. Mitarbeiter werden für Belastungen bezahlt, nicht für Fehlbelastungen. Und weil Fehlbelastungen der Mitarbeiter den Unternehmen schaden, wissen heute Arbeitgeber auch, wie Fehlbelastungen definiert sind, wie man Belastungen erfasst und darin Fehlbelastungen erkannt werden.

In vernünftig geführten Unternehmen sind darum auch die Arbeitgeber an ehrlichen Gefährdungsbeurteilungen der Arbeitsplätze (also auch der Arbeitsbedingungen) interessiert." (GoetzKluge)

"Ich habe jetzt extra noch einmal das Interview von Schleicher gegengelesen. Die hier vorgetragenen Statements geben ihm im Grunde Recht. Sie wehren alle seine Pauschalisierungen ab, um ihm dann in praktisch jedem Detail zuzustimmen.

Beide Artikel zusammen geben einen desaströsen Über- und Einblick in ein dysfunktionales System namens Schule, das dann auch noch der Kleinstaaterei zum Opfer gefallen ist." (Undduso)


"Zu meiner Zeit, 1979, Dorfgrundschule mit 35 Kindern in meiner Klasse, hatten gerade mal drei die Empfehlung fürs Gymnasium erreicht (davon zwei Mädchen - eine ist auch Lehrerin geworden) .

Heute erreicht es fast die Hälfte der Grundschüler das höchste Niveau - und die Anforderungen an Schüler sind ja eher gestiegen.
Die heutigen Schüler sind also (im Schnitt) viel besser als wir damals." (Holger_Tim)

"Arbeitszeiterfassung, gut ausgestattete Büros für wirklich alle Lehrkräfte würde uns nicht nur im internationalen Vergleich gut anstehen sondern auch im Vergleich zu so gut wie jeder anderen Berufsgruppe. Würde auch die Zusammenarbeit im Kollegium stärken" (koalaozd)

22.1.24

Eine Pandemie und ihre Folgen für die politische Diskussion in unserer Gesellschaft

Weil die Pandemie sich so schnell ausbreitete, dass die akute Gefahr bestand, dass sehr schwer wiegende Folgen schon innerhalb der laufenden Legislaturperiode eintreten könnten, wurden plötzlich Regeln ausgegeben und Sanktionen für Nichtbefolgung verhängt, die schon bald als unverhältnismäßige Einschränkungen von Grundrechten verstanden werden konnten.

Einerseits wurden Ängste geschürt (Massensterben) und andererseits Risiken kleingeredet. 

Es fehlte der Mut zu einer "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede: Wir gehen schwere Risiken ein, um größere zu vermeiden. Wir erlassen kurzfristig strenge Regeln, um sie so bald wie möglich aufheben zu können.

Unmöglich ließ sich eine solche Krise ohne Fehler durchstehen. Das "Wir werden einander viel zu vergeben haben." des Gesundheitsministers Spahn war gerechtfertigt. Freilich, was sollten die Regierenden der Bevölkerung zu vergeben haben, wenn sie diese zum gewünschten Gehorsam gebracht hätte?  Das Rechthabenwollen auf beiden Seiten trieb die Bevölkerung auseinander und erschwerte Gesprächskultur.

Wie aber jetzt Meinungsfreiheit gegen Hassbotschaften verteidigen? In de Krise war es ein Leichtes, echte oder vermeintliche Fehler in Menge aufzuzählen, die sehr verärgerten, aber noch keine Hassbotschaft waren. Dass es ein Übermaß solcher Botschaften, Beleidigungen und Morddrohungen gab, ist freilich ebenso evident.

Wie kommt man andererseits wieder dazu, souverän auch mit falschen Aussagen umzugehen und kein Redeverbot für arg abweichende Meinungen auszugeben?

Wir erinnern uns: Willy Brandt, der 1969 Begeisterung mit seinem Satz auslöste "Wir wollen mehr Demokratie wagen!", musste sich bald darauf  (Januar 1972) für seinen Radikalenerlass rechtfertigen, der von vielen, die von Brandt zum "Marsch durch die Institutionen" angeregt fühlten, als Berufsverbot aufgefasst wurden. 

Es wäre töricht, aus Angst vor Exzessen plötzlich alle streng zu reglementieren. 

Die Forderung nach Neutralität von Beamten und insbesondere von Lehrern darf nicht heißen, dass sie ihre politische Meinung nicht kundtun dürften. Neutral sollen sie sein bei der Bewertung von Leistungen (so schwer das im Einzelfall sein mag), aber das Bekenntnis zu ihren politischen Überzeugungen gehört dazu, wenn es Demokratie einzuüben und vor ihren Feinden zu schützen gilt.

Das rechte Maß von deutlichem Bekenntnis und strengem Bemühen um Neutralität, ist im Beutelsbacher Konsens Überwältigungsverbot genannt worden. Ein unschönes Wort, um so beeindruckter war ich von dem Artikel des Bloggers  Bob Blume zur Frage: Müssen Lehrkräfte politisch neutral sein? Seine Ausführungen fand ich so überzeugend, dass ich mich verpflichtet fühlte, zu ihrer Bekräftigung ein wenig von dem nachzureichen, das er in kluger Beschränkung um leichterer Verständlichkeit willen zunächst zurückgehalten hat.

Sieh auch:

Weshalb ist die  Demokratie in Gefahr?

Verteidigung der Demokratie

21.1.24

Verteidigung der Demokratie

Wenn heute Parallelen zwischen den zwanziger Jahren des 20. und des 21. Jahrhunderts gezogen werden, weil auch heute unsere Demokratie verteidigt werden muss, ist das in mehrfacher Weise gerechtfertigt.
Die Weimarer Republik war eine sehr junge Demokratie, die sich schon früh gleichzeitig gegen Linke und Rechte zu verteidigen hatte. Der sogenannte Spartakusaufstand ging aus Meinungsunterschiede innerhalb des sozialdemokratischen Rates der Volksbeauftragten zurück (und zwar zwischen Mitgliedern der MSPD und der USPD), und zwar für welche Zwecke während der Dezemberphase der Novemberrevolution Gewalt eingesetzt werden dürfe. Verkürzt gesagt führte er dazu, dass nach der gewaltsamen Niederschlagung sich die MSPD gegen die USPD durchsetzte, wobei Rechtsradikale die Gelegenheit nutzten, die Linksradikalen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu ermorden.
Es folgte 1920 der Kapp-Putsch von rechts, der an einem Generalstreik scheiterte, dann die Morde an Erzberger und Rathenau und 1923 die Niederwerfung der kommunistischen Aufstände in Thüringen durch die Reichswehr und die Abwehr der Hitler-Putschs durch die militärische Macht der konservativen bayerischen Regierung.
Mit dem Ende der Inflation hatte die Weimarer Republik diese Existenzkrise der Demokratie überwunden. 
Doch gegen Ende der 20er Jahre begann dann der Kampf, der wieder nach links und rechts geführt wurde, aber nach der Weltwirtschaftskrise 1929 zum Ende der demokratischen Phase der Republik und dem Beginn der Präsidialkabinette ab 1930 und die schließlich 1933 zur Machtübergabe durch den Reichspräsidenten Hindenburg an Hitler führten. 

In der allgemeinen Erinnerung ist vornehmlich der Beginn des Terrorregimes der NSDAP geblieben. Deshalb hat man vor allem über die Fehler, die in dieser Phase gemacht wurden, nachgedacht und durch Instrumente zur Sicherung der Demokratie zur Vermeidung eines ähnlichen Vorgangs beizutragen versucht. 

Wenn heute zur Verteidigung der Demokratie gegen rechtsradikale Kräfte in der AfD aufgerufen wird, denkt man wieder vor allem an diese Phase, wo mit Hilfe des Wahlrechtes die Demokratie destabilisiert wurde.

Sieh auch: