8.2.24

Wir digitalen Analphabeten

Artikel im Freitag vom 8.2.2024

Eigentlich wollte ich über Christa Wolf schreiben. Da bringt mich ein Zeitungsartikel davon ab. Zu sehr geht mich das Problem der Digitalisierung an. So schlimm waren die Folgen der Pandemie für die, die einen schlechteren digitalen Zugang haben.

"Ohne die Hilfe meiner Kinder Kinder ginge gar nichts, sagt sie. [...] Hannelore G*., Jahrgang 1951, 2 Kinder, Sachbearbeiterin im Ruhestand [...]"

Ich, älter als sie, habe das anders erlebt. Zwar meine erste Hinführung zum Computer bekam ich durch meinen 8-jährigen Sohn, dann aber habe ich als Lehrer eine Fortbildung gemacht und Informations- und kommunikationstechnische Grundbildung (IKG) gemacht und danach jahrelang unterrichtet. Freilich, mein Sohn hat das, was ich in einer Woche gelernt habe, an einem Abend kurz vor dem Schlafengehen aus meinen schriftlichen Materialien gelernt. Aber digitaler Analphabet war ich seitdem nicht mehr.

"Digitalisierung ist keine individuelle Entscheidung, sie kann nicht als nettes Add-on begriffen werden. Alltag, Arbeit, Auszeit – das ganze Leben wird darüber organisiert. Wir sind selbst längst Weltbürger*innen der Cloud. [...]
*Name geändert"

So ist das: Aus Weltbürgern werden Welt Bürger*innen "*Name geändert" - Nur der Name ist geändert, aber die nicht-weißen cis-Männer bleiben da, wo im IT-Bereich Entscheidungen gefällt werden, gegenüber den cis-Männern trotzdem deutlich in der Minderzahl, und entsprechend  werden ihre Interessen beim Ausbau der Digitalisierung weniger berücksichtigt. 
Das war während der Pandemie festzustellen. Die Schüler*innen mit den besseren Schulleistungen konnten - ohne die Bremse durch ihre Mitschüler*innen, auf die die Lehrkräfte Rücksicht nahmen - schneller lernen. Denen die etwas nicht gelernt hatten, fehlte die Kompetenz, dazwischen zu fragen. Sie wurden abgehängt.

Das habe ich an mir selbst festgestellt, als ich eine Internetfortbildung am Goethe-Institut in Jaunde mitmachte. Alles wurde auf Deutsch verhandelt, insofern war ich ganz unfair im Vorteil. Aber als mit einer neuen Software in einem anderen Internetraum gearbeitet wurde,
brauchte ich so lange, bis ich dort ankam, dass ich den Anschluss verloren habe. (Außerdem war ich auch weit weniger motiviert, weil ich das, was gelehrt wurde, nicht für meine Zwecke brauchte, sondern nur den Unterrichtsvorgang folgen und darüber berichten wollte.) Es war eine sehr lehrreiche Erfahrung: Mein eigenes Lernen im Internet geschieht fast immer in meinem Tempo und meist bin ich auch an dem interessiert, was es zu lernen gibt. - Aber wie um alles in der Welt soll ich - wenn ich ohnehin schon Schwierigkeiten habe, den Stoff aufzunehmen, und mich zu motivieren, - ohne Vorbereitungsphase im "home office" mit meinen drei Geschwistern in einem Zimmer - plötzlich neuen Stoff aufnehmen, wenn ich keine Möglichkeiten habe, Fragen zu stellen oder wenigstens darauf hinzuweisen, dass ich nicht mitkomme! Selbst wenn ich es könnte, kann ich es mir leisten, mich vor den anderen so bloßzustellen? - Nach meinem Realitätsschock konnte ich aus dem Fortbildungskurs ohne Gesichtsverlust aussteigen. Aber wie wäre ich zurechtgekommen,
wenn ich zwei Jahre lang immer wieder in dieser Weise beim Lernen behindert worden wäre?

Weiter im Zeitungsartikel:

"Hannelore G. erweitert konstant ihren digitalen Horizont. [...] Und sogar der Kirchenchor habe inzwischen eine Whatsapp-Gruppe, erzählt sie. In der Gruppe seien viele sogar noch älter als sie. Aber: nicht alle sind in der Gruppe. Es fehlen vor allem die, die keine Unterstützung von ihren Verwandten haben. Nicht alle aus dem Kirchenchor sind auf WhatsApp."

Die Leser*innen können sich jetzt gewiss denken, weshalb.
Einen Augenblick lang habe ich gedacht: "Ein Glück! Doch nicht bei dieser Datenkrake von Zuckerberg! Natürlich sollte die Gruppe auf Signal laufen, was meine Kinder mir empfohlen haben,"
Aber: "Digitalisierung ist keine individuelle Entscheidung, sie kann nicht als nettes Add-on begriffen werden. Alltag, Arbeit, Auszeit – das ganze Leben wird darüber organisiert."
Ich bin nicht in der Whatsapp-Gruppe unserer Kirchengemeinde. Vorläufig ist es offline viel interessanter für mich. 

" 'Digitalisierung verschärft immer dort die Ungleichheit, wo der Zugang zu digitalen Möglichkeiten eigentlich Vorteile schaffen würde, man diese aber nicht für sich nutzen kann, warnt Sandy Jahn von der Initiative D21."


Flüchtlinge oder Geflüchtete? - Was meinte Brecht dazu?

 Bertolt Brecht

Immer fand ich den Namen falsch, 
den man uns gab: Emigranten.
Das heißt doch Auswanderer. Aber wir
Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß
Wählend ein andres Land. Wanderten wir doch auch nicht ein 
in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer
Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.
Und kein Heim, ein Exil 
soll das Land sein, das uns da aufnahm.

Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen
Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste Veränderung
Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling
Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend
Und auch verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend.
Ach, die Stille der Stunde täuscht uns nicht! Wir hören die Schreie
Aus ihren Lagern bis hierher. Sind wir doch selber
Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen
Über die Grenzen. 
Jeder von uns
Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht,
Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt.
Aber keiner von uns
wird hier bleiben. Das letzte Wort
Ist noch nicht gesprochen.
(Sabine Leibholz-Bonhoeffer: vergangen erlebt überwunden, S.124)

Rückführung oder Remigration?
Brecht wollte zurückkehren, nicht zurück gekehrt werden.
Schon gar nicht wollte er remigriert werden.

"Warum löst die Regierung das Volk nicht auf und wählt ein neues?"

Mehr und mehr aus dem Volk flohen, bis die Mauer ganz verschwand. Jetzt können sie gehen oder bleiben. 

Das ist manchen nicht recht. Sie wollen, dass die, die ihnen nicht gefallen, remigriert werden. Möglichst weit nach Übersee.