31.10.14

Wie viel Optimismus ist erlaubt?

Von sozialen Heilsversprechen wissen wir, dass sie um so mehr geeignet sind, Unmenschlichkeit zu rechtfertigen, je größer das versprochene Heil ist.

Wie steht es mit technologischen Versprechen?
Sie werden umso eher zu folgenreichen Investitionsumlenkungen führen, je größer das Potential an wirtschaftlichem Gewinn erscheint. Entsprechend werden auch Risiken umso eher vernachlässigt werden.

Das eindrucksvollste Beispiel war sicher die friedliche Nutzung der Kernkraft.
Das Versprechen war unbegrenzt viel billige Energie. Wie hätte man dies Versprechen ungehört ausschlagen können?
Und wirklich dauerte es einige Jahrzehnte, bis deutlich wurde, dass der größte anzunehmende Unfall deutlich häufiger auftreten würde, als die Berechnungen der Fachleute aussagten.

Wie ist gegenwärtig die Gentechnik einzuschätzen?

Dazu gibt es einen interessanten Aufsatz in der ZEIT vom 23.10.14 von Ulrich Bahnsen und Andreas Sentker.

Die Autoren tun so, als wären sie sich der Verantwortung der Gentechniker bewusst, und dennoch kritisieren sie die Vorsichtigen, als hätten die noch nicht begriffen, was der neuste Stand der Gentechnik ist.

Aber auch für Gentechnik gilt:
Heilsversprechen sind um so mehr geeignet, unverantwortbare Risiken zu rechtfertigen, je größer das versprochene Heil ist.

Das heißt nicht, dass die neusten Verbesserungen nicht dazu beigetragen hätten, manche Risiken zu beseitigen. Aber in den 50er Jahren hätte auch der informierteste Atomphysiker nicht voraussagen können, weshalb die Katastrophe von Fukushima möglich werden könnte.

Die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) und die Tarifeinheit

Flächentarife und Tarifeinheit scheinen mir ein deutliches Plus der deutschen Gewerkschaftslandschaft. Wir verdanken sie der britischen Labour Party, die nach 1945 versuchte, Deutschland die Zersplitterung in viele kleine Berufsgewerkschaften, wie sie in Großbritannien im Zuge der frühen Gewerkschaftsentwicklung im 19. Jh. entstanden sind, zu ersparen.

Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer erschwert durch ihre Auseinandersetzung mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) diese Tarifeinheit im Bereich der Deutschen Bahn.  Wie ist das zu bewerten?

Als die Privatisierung der Deutschen Bahn von Mehdorn vorangetrieben wurde, widersetzte sich die GDL diesem Vorhaben, während die Vorgängerin der EVG, die Transnet, sie unterstützte. 

Dazu Jens Berger auf den NachDenkSeiten:

Zum großen Zusammenstoß mit der GDL kam es 2007, als Transnet einen Tarifvertrag mit der Deutschen Bahn unterzeichnete, der es der Bahn gestattete, über fragwürdige Vertragsbedingungen neue Lokführer zu Stundenlöhnen von 7,50 Euro einzustellen. Nicht die „Lokführergewerkschaft“, sondern Transnet war laut Vertrag für diese „Lokführer zweiter Klasse“ verantwortlich, die formaljuristisch als „Mitarbeiter mit eisenbahnspezifischer Ausrichtung“ bezeichnet wurden. [...] Durch einen langwierigen Arbeitskampf konnte die GDL 2008 ihren ersten großen Sieg erringen und musste von der Deutschen Bahn in einem eigenständigen Tarifvertrag als vollwertige Arbeitnehmervertreterin anerkannt werden. Im gleichen Jahr unterzeichnete die Konkurrenz von Transnet ihren moralischen Offenbarungseid – der Gewerkschaftsvorsitzende Norbert Hansen wechselte ohne jegliche Übergangszeit mit fliegenden Fahnen die Seiten und heuerte im Vorstand der Deutschen Bahn AG als neuer Arbeitsdirektor an. Der Gewerkschafter, der zuvor seine Kollegen an die Deutsche Bahn verraten hatte, kassierte nun auf der Arbeitgeberseite seinen Judaslohn. Für die nicht einmal zwei Jahre, die er im Vorstand der Deutschen Bahn AG verbrachte, überwies ihm das Staatsunternehmen inkl. Abfindung stolze 3,3 Millionen Euro. Einen derart massiven Fall von Korruption (nicht juristisch, aber sehr wohl moralisch) hat es in der deutschen Gewerkschaftsgeschichte wohl noch nie gegeben.(Jens Berger: Bahnstreik – Ich bin ein GDL-Versteher!)
Mehr dazu bei Stephan Hebel: Tarifeinheit von oben geht nicht, FR vom 31.10, 14, S.11
"Es ist ein großer Unterschied, ob man einen Mindestlohn gesetzlich erzwingt oder die Einheit der Arbeiterbewegung. Den Mindestlohn selbst durchzusetzen, waren die Gewerkschaften objektiv zu schwach. Die Einheit in den Betrieben selbst herzustellen, waren und sind sie zu verblendet und manchmal zu dumm. [...] Hier geht staatliches Eingreifen zu weit."
Ergänzungen 
Jakob Augstein: Bahn-Streik: Ein Dank an die Lokführer, Spiegel online, 6.11.14
Der Philosoph Byung-Chul Han hat geschrieben: "Der Neoliberalismus formt aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer, einen Unternehmer seiner selbst. Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmers. Jeder ist Herr und Knecht in einer Person. Auch der Klassenkampf verwandelt sich in einen inneren Kampf mit sich selbst. Wer heute scheitert, beschuldigt sich selbst und schämt sich. Man problematisiert sich selbst statt die Gesellschaft."
 Der Klassenkampf findet nicht mehr auf der Straße statt, sondern im Inneren. Margaret Thatcher musste die Gewerkschaften noch mit Polizeigewalt bekämpfen. Das übernehmen bei uns heute die Medien.
Jens Berger: Worum geht es im GDL-Streik eigentlich? NachDenkSeiten 7.11.14
Um den Hintergrund des GDL-Streiks zu verstehen, ist es zunächst wichtig, die Begriffe Tarifeinheit und Tarifpluralität zu definieren. Die Tarifeinheit wird im Kern durch den Satz „Ein Betrieb, ein Tarif“ beschrieben. Der Grundsatz der Tarifeinheit wird vor allem dann bemüht, wenn es aus verschiedenen Gründen innerhalb eines Betriebes mehrere gültige Tarife gibt. In einem solchen Fall wurde bis 2010 von den Arbeitsgerichten der Fall nach dem Grundsatz der „Spezialität“ behandelt: Danach gilt der Tarifvertrag, der dem Betrieb räumlich und fachlich am nächsten steht. Diesen Zwang zur Tarifeinheit hat das Bundesarbeitsgericht jedoch im Jahre 2010 unter Berufung auf die im Grundgesetz zugesicherte Koalitionsfreiheit abgeschafft. Heute gilt stattdessen der Grundsatz der Tarifpluralität, nach dem in einem Betrieb verschiedene Tarifverträge gestattet sind. Ein Arzt kann also z.B. nach dem Tarifvertrag von ver.di oder nach dem Tarifvertrag des Marburger Bundes entlohnt werden – je nachdem, in welcher Gewerkschaft er ist.
Das Gleiche gilt für Lokführer, die entweder in der GDL oder in der EVG organisiert sein können. Nun will die GDL erstmals diesen Grundsatz auch auf die in der GDL organisierten Mitarbeiter des Zugpersonals geltend machen. Dazu zählen unter anderem Zugbegleiter (also Schaffner) und Mitarbeiter in der Bordgastronomie. Die Deutsche Bahn beschäftigt in diesem Bereich 37.000 Mitarbeiter, von denen 10.000 keiner Gewerkschaft angehören und 8.000 Mitglied der EVG sind. Die GDL will nun für die ihre 19.000 Mitarbeiter in diesem Bereich (die 51%, von denen seitens der GDL immer die Rede ist) Tarifverhandlungen führen. 

26.10.14

Passiver Widerstand gegen den Holcaust

Ich kann gegenwärtig nicht konzentriert arbeiten, doch da ich schlecht schlafe, stehen mir Nachtstunden zur Verfügung, die ich für Blogartikel verwenden kann, die keine große Konzentration voraussetzen. (Hilfreich war, dass in diesem Fall eine Anregung von gutefrage.net zu einem Thema  kam, mit dem ich mich schon beschäftigt, aber zu dem ich noch keinen Artikel geschrieben hatte.)

Den bekanntesten erfolgreichen passiven Widerstand haben die deutschen Frauen tausender Juden geleistet, die in die Vernichtungslager deportiert werden sollten, indem sie tagelang die Berliner Rosenstraße besetzt haben, bis die Nazis auf den Transport verzichtet haben. Die Wikipedia schreibt dazu: "Der Rosenstraße-Protest war die  größte spontane Protestdemonstration im Deutschen Reich während der Zeit des Nationalsozialismus. Ende Februar/Anfang März 1943 verlangten „arische“ Ehepartner aus „Mischehen“ und andere Angehörige von verhafteten Juden in Berlin deren Freilassung."  


Den umfassendsten passiven Widerstand haben die Judenräte geleistet, die von den Nazis dazu gezwungen wurden, ihnen bei der Erfassung und Ermordung ihrer Schicksalsgenossen zu helfen.
Zitat aus dem Wikipediaartikel: 
"Die ersten Judenräte mussten für sie vor allem die jüdische Bevölkerung ihres Ortes zählen, Wohnungen räumen lassen und ihnen übergeben, Zwangsarbeiter zur Verfügung stellen, Wertsachen konfiszieren, Tribute sammeln und auszahlen.
Durch diese Maßnahmen der Besatzer, die zudem alle staatlichen Dienstleistungen strichen und verhinderten, entstanden enorme Versorgungsprobleme in den jüdischen Gemeinden. Daher nahmen die Judenräte auch am Aufbau eigener Ersatzinstitutionen teil. Sie versuchten, die Lebensmittelverteilung zu organisieren, Krankenstationen, Altenheime, Waisenhäuser und Schulen aufzubauen. Zugleich versuchten sie mit den ihnen verbliebenen Möglichkeiten, den Zwangsmaßnahmen entgegenzuwirken und Zeit zu gewinnen. 
Dazu verzögerten sie die Umsetzung der Befehle und bemühten sich, diese abzuschwächen, indem sie Rivalitäten verschiedener Besatzungsstellen auszunutzen versuchten. Sie stellten ihre Arbeitskräfte als möglichst unentbehrlich für die Deutschen dar, um ihre Versorgungslage zu verbessern und die Deutschen zur Rücknahme einiger Kollektivstrafen zu bewegen." (Hervorhebung von mir)
Diese Arbeit war eine, die in ein fürchterliches moralische Dilemma hineinführte. Claude Lanzmann hat erst ganz am Ende seiner jahrzehntelangen Arbeiten über die Judenverfolgung eine Verteidigung der Judenräte geschrieben (Zitat aus dem Wikipediaartikel zu Lanzmann: "Mit der Dokumentation Der letzte der Ungerechten von 2013 wollte er nach eigenem Bekunden Benjamin Murmelstein, dem letzten Vorsitzenden des Judenrates von Theresienstadt, ein Denkmal setzen, da dessen Rolle bislang „sehr ungerecht“ dargestellt worden sei.[12]), weil er überzeugt war, dass ohne jahrzehntelange Kenntnis der ganzen Grausamkeit und Perfektion der Nazimordmaschine die Öffentlichkeit nie imstande sein werde, die Tragik und Leistung bedeutender Judenräte zu erfassen. "
Wolf Murmelstein hat am Beispiel seines Vaters Benjamin, der unter den Juden sehr "umstritten" (genauer gesagt: verständlicherweise, aber sehr zu Unrecht sogar verachtet und wohl manchmal auch gehasst (?) war) diese unsäglich furchtbare Arbeit geschildert (http://www.hagalil.com/archiv/2004/10/murmelstein.htm)
 vgl. Lanzmanns Artikel in der ZEIT vom 7.5.2015: In der Hölle über Benjamin Murmelstein
Ein wichtiger Hinweis noch zum Dilemma der Judenräte:
Während wir heute wissen, dass das gewaltigste Verbrechen der Menschheitsgeschichte über Jahre hin erfolgreich betrieben werden konnte, dann aber mit der Niederlage der Verbrecher endete, konnten die Judenräte nicht wissen, ob nicht vielleicht a) die Aktion relativ begrenzt wäre, regional und zeitlich b) oder völlig erfolgreich mit den Nazis als Weltherrschern am Ende.
In beiden Fällen wäre ein zwischenzeitlicher, begrenzter Erfolg weit wichtiger gewesen, als von heute aus gesehen erkennbar.
Man nehme den Vergleich der politischen KZs. Widerständler haben sich an der Häftlingsverwaltung beteiligt, um die durch der verbrecherischen Kapos so weit als möglich auszuschalten, und haben vielen Personen das Leben retten können. Das vielleicht interessanteste Beispiel ist Eugen Kogon. Er überlebte und schrieb dann nach der Befreiung das erste wissenschaftliche Werk über den SS-Staat, lange Zeit das beste Standardwerk und bis heute das einzige, das aus äußerst intimer Kenntnis des Systems von innen geschrieben wurde.
Judenräte haben dazu beigetragen, dass etwa Marcel Reich-Ranicki gerettet wurde und seine Autobiographie mit dem höchst informativen Teil über das Warschauer Ghetto schreiben konnte.
Und eine ganz ausführliche, unwiderlegliche Chronik des Ghettos Lodz ist auf diese Weise entstanden: http://www.getto-chronik.de/de
Dazu heißt es auf der dortigen Webseite: "Innerhalb der jüdischen Getto-Verwaltung wurde im November 1940 ein Archiv gebildet, zu dessen Aufgaben die Sammlung von Dokumenten und Materialien für eine künftige Darstellung der Geschichte des Gettos gehörte. In diesem Archiv schrieben vom 12. Januar 1941 bis zum 31. Juli 1944 mehrere Mitarbeiter, vorwiegend Journalisten und Schriftsteller, die Getto-Chronik, zunächst auf Polnisch, später dann auf Deutsch."
Sie durften die Hoffnung haben, dass selbst nach einer Weltherrschaft der Nazis nicht jede Moral aus der Menschheit verschwinden würde und dass - wenn ihre Überlieferung irgendwann bekannt würde - ein Widerstand gegen solch ein System entstehen würde (man vergleiche die vielen Widerstandsgruppen unter der NS-Herrschaft, die auch ohne jede realistische Erfolgsaussicht das Menschenmögliche an Widerstand versucht haben). Dieser Widerstand hätte noch nach einer jahrzehntelangen Fortdauer einer Nazi-Weltherrschaft eine Veränderung herbeiführen können, so wie es Gorbatschow mit dem Sowjetregime gelungen ist. Und ihre Chronik hätte zur moralischen Begründung eines solchen Wechsels beitragen können.
Diesen inneren Zwiespalt: mitzuarbeiten, um wenigstens passiv aufhalten zu können, und die Bewahrung eines Rests von Hoffnung halte ich für einen bis heute noch nicht genügend öffentlich gewürdigten Aspekt der Geschichte des Holocausts.

Ob man das Verstecken von Juden als passiven oder aktiven Widerstand oder einfach als Werk der Menschlichkeit bezeichnen will, mag jeder selbst entscheiden. Doch kurz auch etwas dazu:
Es wurden nur verhältnismäßig wenige Juden (immerhin über 10 000) in Deutschland versteckt, aber nach groben Schätzungen waren weit über 100 000 Deutsche bei diesem Verstecken beteiligt, denn manchmal bedurfte es Hunderte von Helfern, um "nur" eine Person zu verstecken. Ein eindrucksvolles Beispiel ist Konrad Latte.
Dazu die Wikipedia: "Während seine Schwester Gabi an Scharlach starb und seine Eltern Margarete und Manfred Latte im KZ Auschwitz ermordet wurden, überlebte Konrad Latte die Kriegsjahre im Untergrund. Unter seinen prominenten Helfern waren der Komponist Gottfried von Einem, Pfarrer Harald Poelchau, der Pianist Edwin Fischer, der DirigentLeo Borchard, die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich, die Schauspielerin Ursula Meißner und Anne-Lise Harich." Das sind freilich nur die prominenten Helfer.
Eine sehr eindrucksvolle Arbeit Peter Schneiders zu Latte handelt auch von der allgemeinen Problematik dieser Art passiven Widerstandes (Peter Schneider: Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen. Wie ein jüdischer Musiker die Nazi-Jahre überlebte. Rowohlt, Berlin, ISBN 978-3-87134-431-2)
 Unter dem Stichwort Judenretter findet man in der Wikipedia einige weiterführende Literatur zum Thema.

25.10.14

Im Krankenhaus

Die Tür des Krankenzimmers öffnet sich, man sieht den Teil einer Glatze, einen leichten Haarkranz darum und das Bett, auf dem der Mann mit dem Kopf zuerst ins Zimmer geschoben wird.

"Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen guten Morgen! Ich sehe Sie zwar nicht ..."

So zugewandt war mein Bettnachbar meistens, auch wenn er Anlass genug gehabt hätte, in seinen Problemen zu versinken: Vier Organe waren ihm heraus operiert worden, er hatte Krebs eines fortgeschrittenen Stadiums, musste wegen der fehlenden Organe zusätzliche Medikamente zu genau vorgeschriebenen Gelegenheiten zu sich nehmen, musste lernen, sich Insulin zu spritzen, dafür natürlich sich in den Finger stechen, mit dem Minicomputer den Zuckergehalt des Blutes bestimmen, auf einer Tabelle ablesen, wie viele Einheiten Insulin zu spritzen waren und sich mit der korrekten Nadelhaltung mit dem korrekten Tempo spritzen. Entsprechend musste er den Umgang mit seinem Stoma lernen.

Zugewandt war er und fröhlich. Beides waren hervorstechende Eigenschaften; aber seine Musikbegeisterung stand dem nicht nach.
Ein frisch Operierter jenseits der 75 wird im Krankenbett nicht Opernarien schmettern. Aber von Anfang an hörte man ihn immer wieder die Musik, die er gerade in seinem geliebten Bayern Klassikradio hörte, mitsingen. Wenn er von Werken sprach, die er besonders schätzte, sang er immer wieder Tonbeispiele dazu, und bei aller Wertschätzung von Beethovens Sinfonien, die er teilte ("Ich höre gerade die Eroica." Und dazu brachte er wieder die wichtigen Themen zu Gehör.). Dass Schuberts große C-Dur-Sinfonie* zu den bedeutendsten Sinfonien überhaupt gehöre, das wollte er seinem musikalisch weniger gebildeten Zimmergenossen nicht vorenthalten.

Dass meine erste persönliche Begegnung im Krankenhaus so ausfallen würde, hätte ich nach der bestürzenden Information nach der Vorsorgeuntersuchung nicht erwartet.

Als dann am Sonntag Morgen der Posaunenchor spielte, sang er jedes Kirchenlied mit und teilte allen, die ihn anriefen, aber auch dem Pflegepersonal mit: "Ich habe eine wunderbare Erfahrung gemacht. Heute morgen hat ein Posaunenchor gespielt!"

Natürlich hatte er Zeiten, wo seine ständige Appetitlosigkeit, die Aufforderung, sich einer "aggressiven Chemo" zu unterziehen, und anderes ihn einmal schweigsamer werden ließen. Aber seine Begeisterungsfähigkeit brachte es bald dazu, dass wir vor dem Frühstück erst einmal ein paar Choräle sangen.

So kleinmütig ich oft bin und auch diesmal immer wieder einmal war: Ein solches Vorbild ist eine große Stärkung.

*Diese Sinfonie wurde zu Schuberts Lebzeiten nicht aufgeführt. Erst Robert Schumann entdeckte sie wieder und konnte Felix Mendelssohn-Bartholdy dafür gewinnen, sie 1839 aufzuführen. Schumann schrieb über die „himmlische Länge der Symphonie" "wie ein dicker Roman in vier Bänden etwa von Jean Paul, der auch niemals endigen kann und aus den besten Gründen zwar, um auch den Leser hinterher nachschaffen zu lassen“. 



12.10.14

Wie hilft man sich, wenn Wikipedia Artikel löscht, die stark nachgefragt sind?

Auf gutefrage.net fragt jemand: 
Wieso lernt man im Geschichtsunterricht NUR etwas über westliche Kulturen? [...] Ist/war das bei euch an der Schule auch so? Lernen die Geschichtslehrer im Studium überhaupt etwas in die "andere" Richtung?

Meine Antwort:
"Zunächst: In den meisten Geschichtsbüchern steht eine ganze Menge über den Nahen Osten, ein bisschen über das mittelalterliche China und etwas über die Mongolen. Andere enthalten noch ein wenig mehr.Das ist natürlich viel zu wenig. Aber das ist darauf zurückzuführen, dass die Zusammenhänge zwischen den Kulturen nicht ganz einfach darzustellen sind. Zum Glück gibt es aber im Internet vielfältige Möglichkeiten, sich über die Geschichte Asiens, Afrikas usw. zu informieren. Einen kurzen Überblick gibt der folgende Artikel:http://de.pluspedia.org/wiki/Menschheitsgeschichte. Über die roten Links, die ins Leere führen, brauchst du dich nicht zu ärgern. Denn all die Artikel, auf die dort verwiesen wird, stehen in der Wikipedia. Sobald du in der Kommandozeile pluspedia durch wikipedia ersetzt, wird der passende Artikel aufgerufen.
Außerdem findest du in dem genannten Artikel viele Literaturhinweise. Besonders empfehlenswert ist: Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. C. H. Beck Verlag, München 2008.
Aber das Buch ist nicht billig und auch nicht ganz leicht zu lesen. Deshalb versuch es erst einmal mit den Artikeln im Internet."

Ich hätte natürlich auch darauf verweisen können, dass in der Tat die Universitäten heute meist noch die außerwestlichen Kulturen primär den archäologischen und den sprachwissenschaftlichen Lehrstühlen zuweisen und die Prüfungsordnungen sie ausklammern. Aber geklagt wird über diese Situation ohnehin. Wichtig ist meiner Meinung nach, dass auf Ansätze zur Veränderung hingewiesen wird. 
Ich hätte natürlich auch darauf hinweisen können, weshalb die Wikipedia ihren früheren Artikel gelöscht hat; aber das gehört nicht zum Thema Geschichtsunterricht und ich habe anderswo darüber berichtet.

6.10.14

Kurz erinnert: Manager 2007

Sy Schlüter von der CAI Analyse und Beratungs GmbH, seit 1994 in Hedgefonds tätig, erläuterte am 31.3.2007 in der Jugendzeitschrift Fluter nur wenig verklausuliert, dass er als Hedgefondsmanager versuche, den Aktienkurs einer Firma, die in Schwierigkeiten sei, noch weiter zu drücken und dass er einer gesunden Firma so viel Kapital zu entziehen versuche wie nur irgend möglich, ohne sie direkt in den Ruin zu treiben. 

Dass „Anteile eines Mittelständlers mit geliehenem Geld gekauft“ und „die Schulden für das geliehene Geld dem Mittelständler aufgebürdet werden“, hielt er nämlich durchaus nicht für unmoralisch oder gefährlich. Kritisch wurde es für ihn erst, „wenn die Umsätze nicht mehr genügen, um die Schuldenlast zu bezahlen. Einst gesunde Unternehmen können dann pleitegehen.“ Doch dann fuhr er fort: „Aber ich glaube: Auch das wird langfristig der Markt regeln. Schließlich entsteht dort, wo ein Unternehmen pleitegeht, auch die Chance auf etwas Neues.“


Und dabei blieb er nicht stehen. Auch die Demokratie wollte er durch den allgewaltigen Markt und die segenbringende Börse ersetzt wissen: „Da jede Aktie eines Unternehmens eine Stimme hat, drücken sich in den Kursen immer die Entscheidungen der Mehrheit aus, der Aktienmarkt ist daher für mich Demokratie.“

Es ist also nicht so, dass unbekannt gewesen wäre, wer die Feinde unserer Demokratie waren. Sie wurden mit Millionensummen dafür bezahlt, dass sie Wirtschaftsunternehmen in den Konkurs trieben und dass sie unsere Demokratie unterhöhlten. Und sie haben es schon damals ganz offen zugegeben.
(Erstveröffentlichung 22.4.2009)

Was hat sich seitdem geändert?
Wir reden nicht mehr über Finanz- und Eurokrise, sondern über Kriege. 
Wodurch die entstanden sind, ist schwer aufzudröseln. Doch dass die Finanzkrise und der Versuch, sich international rücksichtslos durchzusetzen auf ähnliche Mentalitäten zurückgeht, scheint mir nicht unwahrscheinlich.
Und zwar auf beiden Seiten.

Nachtrag:
"Die Menschheit hat andere Probleme zu bewältigen als die, die nur durch staatlich begünstigete Zockerei auftreten konnten."
(Hier ist die Erstveröffentlichung noch älter: 25. Februar 2009)

4.10.14

Wie viele Produkte braucht ein Kunde?

Discounter wie Aldi und Lidl bieten etwa 15 000 Produkte an, Vollsortimenter etwa 55 000.
Wer nach einer Warenumstellung bei seinem bewährten Supermarkt versucht hat, sich zu orientieren, weiß ein Lied davon zu singen. Nicht überall kennen sich Verkäufer in ihrem Laden aus und immer seltener sind sie bereit, einem wirksam bei der Suche zu helfen.
Spekulative Produkte für Privatanleger gibt es 1,2 Millionen. Da kennt sich der Verkäufer nur noch in dem Spektrum aus, wo er zu verkaufen sucht.

Nicht dass die Verkäufer gierig wären; Aber es fällt sehr schwer, wochenlang "schlechter" zu sein als der Kollege, wenn Umsatzziele gesetzt sind. Da ist die Versuchung, die Kunden nicht zu beraten, sondern zu verraten unheimlich groß, wenn offenbar alle anderen es auch so machen.
Ethik orientiert sich am Umfeld. Nur wenige halten an ethischen Grundsätzen fest, die von allen anderen im Umfeld als völlig deplatziert empfunden werden.

Und das politische System ist - besonders in der EU - so organisiert, dass sich kollektive Beschlüsse immer an dem Partner orientieren, der den geringsten Widerstand gegen seine Lobby leistet. (vgl.
Nina Luttmer: Die Beschützer der Finanz-Zocker, FR 22.5.14)
Dass Politiker immer häufigen nahezu direkt von der Regierung in die Lobby wandern und von dort auch ihre Kollegen bearbeiten, trägt nicht eben dazu bei, deren Widerstandskraft zu stärken. Schließlich hoffen nicht wenige ihrerseits darauf, auch einen solch attraktiven Lobbyposten zu bekommen. (Manchmal tut's auch ein Vorstandsvorsitz.)

Aktuell zum Thema:-

Nina Luttmer: "Die Banker leben in ihrer eigenen Welt" (über Fähigkeiten, die in der Finanzwelt verloren gehen. FR 4./5.10.14)

Aus dem Jahr 1999:
Die Gerechtigkeitsfalle, Spiegel 1999/37 vom 13.9.99