31.10.15

OER in einer "kritischen Phase" - über das ZUM-Treffen 2015

Kritisch ist die Phase nicht, weil alles den Bach hinuntergehen könnte, sondern weil sich entscheidet, ob über Synergieeffekte ein Durchbruch gelingt, oder ob jede einzelne Initiative ihre eigene Sache mehr oder minder erfolgreich weiter betreibt. 
In einem Gastbeitrag haben auf dem ZUM-Blog unter Möglichkeiten einer Zusammenarbeit von OER-Initiativen Heiko Przyhodnik und Hans Hellfried Wedenig inhaltliche Möglichkeiten aufgezeigt.

  1. Inhaltlich ergänzende Zusammenarbeit (Gleicher inhaltlicher Schwerpunkt)
  2. Funktionsbedingte Zusammenarbeit (Unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte)
  3. OER-Initiativen-Zusammenarbeit allgemein
Beim ZUM-Treffen 2015 geht es unter dem Motto "Die Kräfte bündeln - OER-Initiativen stärken" durchaus um alle drei Punkte, vor allem aber um den Prozess. Gelingt es, ihn so weit voranzutreiben, dass eine neue Stufe der Zusammenarbeit gelingt, oder bleibt mehr oder minder alles beim Alten? 

Gegenwärtig spricht man von der Ukrainekrise, der Eurokrise, der Griechenlandkrise, der Flüchtlingskrise. Und gerade bei der Flüchtlingskrise wird das Wort Krise von vielen gescheut, weil man die Gefahr des Umschlags von einer euphorischen Willkommenskultur in Überanstrengung, Resignation und Hasskulturen sieht. 
Allzu oft haben historische Krisen (z.B. die Julikrise 1914) in Katastrophen geführt. Aber wenn wir an die Kubakrise denken, sehen wir, dass gerade eine Krise die Chance für etwas ganz Neues bietet. Die reale Gefahr, dass der Dritte Weltkrieg mit weltweiter atomarer Vernichtung ausbrechen könnte, hat dazu geführt, dass die Supermächte Regelungsmechanismen gefunden haben, die auf Jahrzehnte diesen Weltkrieg verhindert und mit der Wende von 1989/91 ihn sogar sehr unwahrscheinlich gemacht haben. Gerade weil die Ergebnisse dieses Prozesses gegenwärtig auf dem Spiel stehen, ist zu erkennen, wie stark und weitreichend die Wirkung der Kubakrise war.
Die Flüchtlingskrise und die Umweltkrise (Klimakonferenz in Paris) können noch langfristigere Folgen haben, ohne dass wir das heute übersehen können. Die Chance eines Neuanfangs ist dabei immer inbegriffen.
In dem Sinne sehe ich das ZUM-Treffen 2015 nicht als eine Entscheidung über alles oder nichts, sondern als einen wichtigen Punkt in einem Prozess, der große Möglichkeiten in sich birgt, aber sich auch festfahren kann. 

29.10.15

Familie Mann und die Familiensynode in Rom

In der neusten Nummer der ZEIT (Nr.44 vom 29.10.15) finden sich vier Artikel, die ich schon jetzt mit großem Interesse gelesen habe.
Zum einen eine Besprechung von Tilmann Lahme: Die Manns. Geschichte einer Familie. Dann die Seite Glauben & Zweifeln* mit drei Artikeln.
Michael Maar berichtet über Die Manns, dass Lahme auf jede Interpretation verzichtet habe, sondern nur Tatsachen sprechen lasse. Und schon sein Artikel reicht aus, um meine nicht ganz bescheidene Kenntnis der Familie Mann um wesentliche Facetten zu erweitern. Maars Fazit:
Die Liebe überhaupt, wo bleibt sie in dieser düsteren Moritat? "Du sollst nicht lieben" - das war die Bedingung des Teufels im Doktor Faustus dafür, dass Adrian Leverkühn der Durchbruch in der Kunst gelang. Sie galt wohl auch für den Mann, dessen Werk wir verehren und der für seine Familie ein Unglück war.
Evelyn Finger schreibt über den jüngsten der vier Präsidenten der Familiensynode, Luis Antonio Tagle und zitiert ihn:
Jede Familie hat ihre Wunden, sichtbare und unsichtbare. Es ist die Sache der Kirche, diese Wunden zu heilen, statt Schuld für Verletzungen zuzuweisen. 
Lahme und Maar haben Wunden der Familie sichtbar gemacht, die der Öffentlichkeit so genau noch nicht bekannt waren. Sie haben nicht versucht, diese Wunden zu verstecken, wie frühere Biographen es oft mit  den Wunden ihrer Helden getan haben, oder zu heilen, wenn sie Nazitätern - wie es nicht ganz selten vorkam - zur Heilung ihrer Wunden zu einem Exil in Argentinien verhalf.

Ich bin gegen an die Öffentlichkeit zerren und bewundere die Noblesse von Uwe Johnsons Frau, die - meiner Kenntnis nach - nie öffentlich zu den Vorwürfen Stellung genommen hat, die ihr Mann ihr nach der Trennung gemacht hat. Ich bin auch für heilen, auch wenn es um Wunden Schuldiger geht. (Eindrucksvoll hat Schlink in Der Vorleser vorgeführt, wie viel Recht auf Heilung eine Nazitäterin haben kann.) Dennoch habe ich Beispiele angeführt, wo man wohl eher für das Sichtbarmachen und gegen das Heilen sein kann. Und dennoch möchte ich weiter zitieren, wie Luis Antonio  Tagle fortfährt, als er über das Heilen gesprochen hat.
Verurteilen ist leicht. Helfen ist schwer. Es erfordert nicht nur Geduld, sondern Mut. Das christliche Credo lautet: Begegne dem anderen voller Gnade!
Ich nehme noch einmal meine Eltern als Beispiel. Beide sind jetzt 85 und noch recht stark, sie reisen immer noch, aber allmählich schwinden ihre Gesundheit, ihre Energie, ihr Gedächtnis. Ich muss zugeben, manchmal macht mir das Angst. Wer will seine Eltern schon schwach sehen? Ich hoffe, dass ich neue Wege finde, mit ihnen umzugehen, auf ihre Nöte zu reagieren - ohne sie zu bevormunden und ihre Freiheit einzuschränken. 
 In der Öffentlichkeit ist Kritik wichtig, privat Vergebung und Heilen. Die Kirche sollte das prophetische Wort finden, wenn sie über Ungerechtigkeit auf dieser Welt spricht. Wenn sie zu denen spricht, die nicht den kirchlichen Weg zum Heil gehen konnten, sollte sie sprechen, "ohne sie zu bevormunden und ihre Freiheit einzuschränken".
Das gilt auch für uns gegenüber Pegida, den Reformverweigerern in der Kirche und alle anderen, gegen die uns zu wenden, wir politische Gründe haben. Öffentlich kritisieren, aber ohne ihre Menschenwürde zu missachten und zu Gewalt gegen sie zu greifen. Privat sich um Verständnis zu bemühen, wie wir es auch mit unseren eigenen Schwächen und Fehlern tun sollten.

*Die ZEIT im Vorbericht über diese Seite:
Familiensynode: Die unvollendete Revolution – Die Familiensynode in Rom findet einen Kompromiss. Er klingt weich, könnte aber alles ändern. Dazu: Der Textchef der Synode, Bruno Forte, spricht über das Ende des Duckmäusertums.

24.10.15

Was sich aus den Erfahrungen mit der deutschen Einigung für den Umgang mit dem Flüchtlingsproblem lernen lässt

1. Vor dem Übergang von den zwei Staaten DDR und BRD gab es ein Flüchtlingsproblem mit teils chaotischen Verhältnissen.
2. Das Versprechen, es werde zu "blühenden Landschaften" kommen, war einerseits falsch, andererseits zutreffend.
a) Die "blühenden Landschaften" kamen nicht so früh, wie angekündigt, aber sie kamen.
b) Sie kamen, aber nicht für alle. Schon gar nicht in gleicher Weise.
3. Der Gegensatz zwischen Ost und West ist inzwischen unwichtiger geworden als der zwischen Arm und Reich und der zwischen Nord und Süd. (Wobei diese Pauschalisierung differenziert werden müsste in: zwischen Gewinnern der Veränderung und den Verlierern.)
4. Gewinner war die ältere Generation aus der DDR zwar zunächst über die Öffnung der Märkte und Rentenerhöhungen. Die Umstellungen waren aber eine eine ungeheure Kraftanstrengung für die Älteren und für viele (meiner Kenntnis nach nicht die Mehrheit) zumindest subjektiv die Mühe nicht wert.
Der langfristige Gewinner war die jüngere Generation der DDR. Sie wuchs in die neue Situation hinein und hatte über freie Wohnortswahl die Möglichkeit, sich ihre Chance im erweiterten Wirtschaftsraum zu suchen.
5. Gewinner der Umstellung waren freilich nicht zuletzt die Schnäppchenjäger, die Großbetriebe für 1 DM kauften und sie dann abwickelten und aus dem Verkauf der Immobilien viele Million Gewinn machten.

Bisher habe ich freilich nur beschrieben, was - aus meiner Sicht - Erfahrungen der deutschen Einigung waren. Was lässt sich daraus lernen?
Vorweg gesagt eins: Auf keinen Fall ein einfaches Dasselbe-in-Grün. Aber es gibt doch Anhaltspunkte.
1. Wer die Umstellung verhindern will, kämpft auf verlorenem Posten. (Beispiel: Lafontaine)
2. Wer die Gegner der Umstellung nur ausgrenzt, statt ihnen Wind aus den Segeln zu nehmen, aber auch. (Die Ausgrenzung der PDS im Osten begünstigte die Entstehung einer gesamtdeutschen Linken. Deren Erfolgsfigur wurde ein Mann aus dem Osten, Gregor Gysi.)
3. Die alten Unterschiede werden sich schon bald zugunsten neuer nivellieren. Bei Angela Merkel und Joachim Gauck wird zwar immer wieder ihre Herkunft aus dem Osten betont, aber was sie erfolgreich macht, ist ihre politische Orientierung und ihr politischer Stil.

Mit dieser Darstellung versuche ich keine Prognose. Aber ich möchte anregen, die gegenwärtige Umstellung als Teil eines längerfristigen Prozesses zu sehen.

Der Historiker Andreas Kossert über die Integration von Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg
"Integration ist ein langer Prozess. Die materiellen Probleme waren vergleichsweise schnell überwunden, aber die mentalen Spuren von Heimatverlust und Vertreibung blieben teilweise über Generationen sichtbar. Deshalb ist es wichtig, sich klarzumachen, was es früher, aber auch heute bedeutet, eine Heimat zu verlieren. Diese Erfahrung war in Deutschland für Millionen Menschen eine kollektive, von der aber viel zu selten die Rede ist. "

20.10.15

Wünsche der Wirtschaft an die Bildungsinstitutionen

Verfehlte Bildungspolitik: Jeder siebte junge Mensch ohne Berufsabschluss SPON 19.10.15

Natürlich haben Arbeitgeber ein Interesse daran, genügend gut ausgebildete Bewerber für de von ihnen angebotenen Arbeitsplätze zu bekommen. Schließlich kann man ja nicht ständig mit Zeitarbeitern jonglieren und Entlassungen in den Vorruhestand vornehmen, wenn man damit riskiert, dass einem dann demnächst die Fachkräfte fehlen werden.  
Aber ist es angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse und der ständig ansteigenden Anforderungen an Flexibilität und Nachqualifizierung realistisch, dass mehr als 85% eines Jahrgangs den Anforderungen gerecht werden, ohne dass betrieblicherseits mehr dafür getan wird? Weder Schüler noch Lehrer werden von Jahr zu Jahr so viel intelligenter und motivierter, dass sie die steigenden Anforderungen erfüllen können. 
Leider ist auch die Ausbildung an den Universitäten durch Bachelor und Modularisierung nicht erfolgreicher geworden. Die schwarze Null diktiert Einsparungen, wo angesichts der Zukunftsaufgaben (z.B. Inklusion und Integration von Migranten, gerechte Bezahlung von Erziehern) erhebliche Mehraufwendungen notwendig wären. 
Nicht alles, was z.B. der Lehrerblog Bildungslücken treffend als Schwächen des gegenwärtigen Systems aufzeigt, ist nur der Borniertheit der Schulverwaltung zuzuschreiben. 

Hochschulzugang für Flüchtlinge - Die Sache mit dem Zeugnis taz.de 19.10.15
"Bildung ist der Schlüssel zur Integration, heißt es. Aber was, wenn ein Flüchtling aus Syrien in Deutschland sein Wirtschaftsstudium fortsetzen will?"

Sieh oben: "Natürlich haben Arbeitgeber ein Interesse daran, genügend gut ausgebildete Bewerber für de von ihnen angebotenen Arbeitsplätze zu bekommen."
In diesem Fall bin ich voll auf der Seite der Migranten. Freilich müsste weit mehr dafür getan werden, dass sie rechtzeitig sprachlich und informativ auf die sehr unterschiedlichen Studienbedingungen  vorbereitet werden. 
Man erlasse mir, darzustellen, wie stark sich die Bildungssysteme der Welt im einzelnen unterscheiden. Ich kenne nur eindrucksvolle Beispiele. 

19.10.15

Der Friedenspreis für Navid Kermani

Navid Kermani erhielt am 18.10.2015 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels

Der Wortlaut seiner Rede war zunächst nicht freigegeben worden. Daher geht dieser Blogartikel im Folgenden ausführlich auf seine Rede vom 23.5.14 ein. Inzwischen ist die Rede aber auf der Seite des Friedenspreises zu finden. Ich werde noch auf sie zurückkommen. 

Mancher erinnert sich an die Vorgänge um den Hessischen Kulturpreis von 2009, den Kermani nach den Einwänden seiner Mitpreisträger Karl Lehmann und Peter Steinacker schließlich doch bekam. 
Kermani sprach am 18.10. die gegenwärtige Flüchtlingssituation an. Im Zuge der Verhandlungen über Flüchtlingslager in der Türkei, über die Erklärung der Türkei als sicheres Drittland und über Transitzonen und hot spots für Flüchtlinge wäre der Wortlaut seiner Friedenspreisrede an dieser Stelle besonders interessant. Vorläufig muss ich darauf verzichten, darauf einzugehen. Aber ich darf an seine Rede im Bundestag zur Feierstunde "65 Jahre Grundgesetz" erinnern. Die Hervorhebungen habe ich hinzugefügt.

Kermanis Rede am 23.5.2014 (Wortlaut) fing nach der Begrüßung so an:


"Das Paradox gehört nicht zu den üblichen Ausdrucksmitteln juristischer Texte, die schließlich größtmögliche Klarheit anstreben. Einem Paradox ist notwendig der Rätselcharakter zu eigen, ja, es hat dort seinen Platz, wo Eindeutigkeit zur Lüge geriete. Deshalb ist es eines der gängigsten Mittel der Poesie.
Und doch beginnt ausgerechnet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit einem Paradox. Denn wäre die Würde des Menschen unantastbar, wie es im ersten Satz heißt, müsste der Staat sie nicht achten und schon gar nicht schützen, wie es der zweite Satz verlangt. Die Würde existierte unabhängig und unberührt von jedweder Gewalt. Mit einem einfachen, auf Anhieb kaum merklichen Paradox ‑ die Würde ist unantastbar und bedarf dennoch des Schutzes ‑ kehrt das Grundgesetz die Prämisse der vorherigen deutschen Verfassungen ins Gegenteil um und erklärt den Staat statt zum Telos nunmehr zum Diener der Menschen, und zwar grundsätzlich aller Menschen, der Menschlichkeit im emphatischen Sinn. Sprachlich ist das ‑ man mag es nicht als brillant bezeichnen, weil man damit einen eminent normativen Text ästhetisierte – es ist vollkommen, nichts anderes.
Überhaupt wird man die Wirkmächtigkeit, den schier unfassbaren Erfolg des Grundgesetzes nicht erklären können, ohne auch seine literarische Qualität zu würdigen. Jedenfalls in seinen wesentlichen Zügen und Aussagen ist es ein bemerkenswert schöner Text und sollte es sein. Bekanntlich hat Theodor Heuss die ursprüngliche Fassung des ersten Artikels mit dem Argument verhindert, dass sie schlechtes Deutsch sei. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ hingegen ist ein herrlicher deutscher Satz, so einfach, so schwierig, auf Anhieb einleuchtend und doch von umso größerer Abgründigkeit, je öfter man seinen Folgesatz bedenkt: Sie muss dennoch geschützt werden. Beide Sätze können nicht gleichzeitig wahr sein, aber sie können sich gemeinsam, nur gemeinsam, bewahrheiten und haben sich in Deutschland in einem Grade bewahrheitet, wie es am 23. Mai 1949 kaum jemand für möglich gehalten hätte. Im deutschen Sprachraum vielleicht nur mit der Luther-Bibel vergleichbar, hat das Grundgesetz Wirklichkeit geschaffen durch die Kraft des Wortes. [...]"
Danach allerdings folgten die Worte:
"Ein wundervoll bündiger Satz ‑ „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ ‑ geriet 1993 zu einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinandergestapelt und fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: dass Deutschland das Asyl als Grundrecht praktisch abgeschafft hat.
Muss man tatsächlich daran erinnern, dass auch Willy Brandt, bei dessen Nennung viele von Ihnen quer durch die Reihen beifällig genickt haben, ein Flüchtling war, ein Asylant?
Auch heute gibt es Menschen, viele Menschen, die auf die Offenheit anderer, demokratischer Länder existentiell angewiesen sind. Und Edward Snowden, dem wir für die Wahrung unserer Grundrechte viel verdanken, ist einer von ihnen.
Andere ertrinken im Mittelmeer ‑ jährlich mehrere Tausend ‑, also mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch während unserer Feststunde. Deutschland muss nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen; aber es hat genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen, statt die Verantwortung auf die sogenannten Drittstaaten abzuwälzen."
Kermani ist ein würdiger Preisträger des Friedenspreises.

17.10.15

Über den Ursprung der Redeweise "Schlagt ihn tot, den Hund"

Ich füge mal "Schlagt ihn tot, das Weltgericht fragt euch nach den Gründen nicht" aus der "Herrmannsschlacht" von Heinrich von Kleist hinzu. (Mehr dazu: hier)
Allgemein steht dahinter das Bedürfnis nach Vernichtung des anderen als energischste Form der Selbstbehauptung.
Da der Hund vermutlich das erste Wesen einer fremden Art ist, das der Urmensch zu seinem Diener (und nicht nur zum Nutzvieh) zu machen verstand, steht hinter "Schlagt ihn tot, den Hund" wohl die Vorstellung, dass dem anderen Wesen nur Überlebensrecht zugestanden wird, wenn es zur Ausweitung meines Ego dient (im Kantschen Sinne, wenn es zum Mittel gemacht wird). 
Gedanklich ist die Erniedrigung des Gegners zum Hund wohl erst aufgekommen, als eine Vorstellung der Gleichberechtigung aller Menschen (sei es über christliche, sei es über allgemein humanitäre Vorstellungen) in den Köpfen auftauchte und die Vorstellung, mit der Versklavung verliere ein Mensch seine Zugehörigkeit zur Art Mensch, nicht mehr so gut funktionierte.
Mehr dazu bei gutefrage.net, insbesondere auch zu Goethes Gedicht mit den Zeilen "Schlagt ihn tot, den Hund! / Es ist ein Rezensent" .
Von dort lässt sich trefflich eine Linie zu Martin Walsers "Tod eines Kritikers" und allgemein zu Autoreneitelkeit und zu kollegialer Herabsetzung ziehen, so etwa, wo Thomas Mann und Robert Musil ihren geschäftlich erfolgreicheren, aber im künstlerischen Anspruch weniger ambitionierten Kollegen Stefan Zweig schmähten. - Wie sympathisch dagegen Wieland, der trotz Goethes "Götter, Helden und Wieland" diesen in einem Privatbrief in höchsten Tönen lobte, und die Anekdote über Haydn, wonach er - als er von einer herabsetzenden Äußerung Beethovens über seine Person - wie folgt reagiert haben soll: "Was hat er schon geschrieben! [und dann nach einer Aufzählung seiner Werkkategorien mit immer positiveren Kennzeichnungen endete mit:] Und seine Sinfonien. Seine Sinfonien sind göttlich!"
Solcher Umgang mit Kollegen war von einem Autor, der wie Kleist, Nietzsche oder Musil sich von der Öffentlichkeit verkannt fühlen musste, nicht zu erwarten.
Die Vorstellung, dass dem anderen Wesen nur Überlebensrecht zugestanden wird, wenn es zur Ausweitung meines Ego dient, liegt auch der Ablehnung von Hilfe für Flüchtlinge zugrunde. 
‘s ist Krieg! ‘s ist Krieg!
O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
‘s ist leider Krieg –
und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!

7.10.15

Wie umgehen mit Migranten? (2)

Fortsetzung des Artikels Wie umgehen mit Migranten?

Jens Schneider, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück, schreibt in seinem  Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 6.10.15 auf Seite 31 auch Folgendes:
"Auf alle Ebenen trifft man auf Menschen, die in wichtigen Aspekten "anders" sind als man selbst und mit denen man gleichzeitig auch vieles gemeinsam hat [...]Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind nicht mehr allgemein, sondern kontext- und situationsgebunden. Das zu lernen und souverän zu meistern ist eine Herausforderung, die die Noch-Mehrheitsgesellschaft nicht weniger betrifft als Migranten und Flüchtlinge." (Hervorhebung von mir)

Hier stimme ich Schneider unbedingt zu. Vielleicht berücksichtigt er aber nicht genug, dass die Flüchtlinge sich für die Situation, in die sie hineinkommen entschieden haben (freilich meist aufgrund einer völlig unerträglichen Alternative).

Umso wichtiger ist es, dass Migranten im Gastland auf Personen treffen, die sich ihrerseits bewusst entscheiden, auf Menschen, die anders sind, zuzugehen. 
Dazu möchte ich auf eine Studie von Misun Han-Broich hinweisen, die in ihrem Aufsatz 

"Engagement in der Flüchtlingshilfe – eine Erfolg versprechende Integrationshilfe" auf die besondere Bedeutung der Motivation der ehrenamtlichen Helfer hinweist:

 "Durch den Aufbau persönlicher Beziehungen stehen die Ehrenamtlichen den Flüchtlingen insbesondere bei der Überwindung ihrer seelisch belastenden Vergangenheits- und Gegenwartsprobleme zur Seite. Obwohl Ehrenamtliche nach ursprünglicher Aufgabenvereinbarung keine therapeutische beziehungsweise psychosoziale Arbeit explizit zu leisten haben, sondern eher konkrete Hilfestellungen (Bildungs- und Betreuungsarbeit, Begegnung, praktische Lebenshilfe und so weiter) geben sollen, zeigt sich die größte Wirkung ihrer Arbeit gerade nicht in diesen (die praktische Integration betreffenden) kognitiv-kulturellen und sozial-strukturellen Bereichen, sondern vielmehr im seelisch-emotionalen Bereich. [...] Sie können durch die persönliche Art ihrer Kontakte eine einzigartige Beziehung zu Flüchtlingen aufbauen, indem sie gezielt auf Menschen zugehen, persönliche Berührungspunkte herstellen und mit den Flüchtlingen eine ganzheitliche Begegnung [10] erleben. So tragen sie zur seelisch-emotionalen Stabilisierung und Integration insbesondere auch der traumatisierten Flüchtlinge bei. In der Ehrenamtsbeziehung findet eine Begegnung statt, in der sich Ich und Du als gleichberechtigte Subjekte begegnen und keiner dem anderen bewertend gegenübersteht. [...] Intrinsisch motivierte Ehrenamtliche können nachhaltige patenschaftsähnliche Beziehungen – im Sinne der Ersatz- und Therapiebeziehung – zu jungen Flüchtlingen aufbauen, sie seelisch-emotional stabilisieren und dann auf allen weiteren Stufen des Integrationsprozesses wirkungsvoll begleiten und unterstützen. Hierfür muss ein konzeptioneller Rahmen geschaffen werden, der eine professionelle Zusammenarbeit der Ehrenamtlichen mit den hauptamtlichen Flüchtlingsbetreuern ermöglicht."
Auch sie tendiert dazu, die Möglichkeiten der Helfer etwas zu optimistisch zu sehen. In nicht wenigen Fällen dürften Personen ohne professionellen Hintergrund und ein professionelles Umfeld überfordert sein. Deshalb plädiere ich dafür, dem Ausbau dieser Strukturen eine weit höhere Priorität zu geben, als bisher erkennbar ist. 
Ohne eine in die Breite gehende Bereitschaft, auf Flüchtlinge zuzugehen, wird die Aufgabe aber auch nicht gelöst werden können.


"Man muss die Integrationssysteme Bildung und Arbeitsmarkt öffnen [...] Hier besteht die Möglichkeit, der problematischen demographischen Entwicklung in Deutschland, der Überalterung der Gesellschaft, entgegenzusteuern." fordert Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln.
Diese Möglichkeit, eine wirklich großartige Chance, besteht aber nur, wenn die personellen Voraussetzungen dafür geschaffen sind, dass sich die Menschen in diesen "Integrationssystemen" nicht permanent überfordert fühlen. Die Inklusion aller Behinderten und die Integration aller eintreffenden Flüchtlinge wird nicht gelingen, wenn das Bildungssystem unter dem Diktat der schwarzen Null und der Minimalsteuern für Unternehmen ausgehungert wird. 

Chrismon: Migration


6.10.15

Wie umgehen mit Migranten?

Jens Schneider*, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück, schreibt einen bedenkenswerten Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 6.10.15, S.30/31.

Darin heißt es u.a.:
Erfahrene Einwanderungsgesellschaften [...] machen sich keine Gedanken über "Parallelgesellschaften" oder "Integrationsverweigerer", weil sie wissen, dass die Erwartungen an die erste Generation nicht allzu hoch sein können. [...]
Ganz anders ist dagegen die Haltung gegenüber der zweiten Generation: Die im Land groß werdenden Kinder sollen sich zugehörig fühlen. Es wird auf sie gewissermaßen ein Anspruch erhoben, weil mit dem Zugeständnis der ungeteilten Zugehörigkeit auch Forderungen und Erwartungen einhergehen können [...]
Ich stimme zu, empfehle die Lektüre des gesamten Artikels und möchte doch dem gegenüber einen etwas andere Analyse anbieten. Die liefere ich in der Fortsetzung dieses Artikels nach (sieh unten!).

Nur eins schon jetzt: Je geringer die Erwartungen an die erste Generation sind, desto problematischer sind deutlich höhere an die zweite. Die Schule kann nur bedingt gegen eine häusliche Kultur der Fremdheit Erfolg haben. Das gilt besonders für die sogenannten "bildungsfernen" Migranten.
Natürlich ist die vorbildliche Rolle, die Navid Kermani in der Bundesrepublik als Angehöriger der zweiten Generation spielt, so und so eine extreme Ausnahme. Aber alles, was nur in diese Richtung geht, setzt im Regelfall voraus, dass schon die erste Generation aufgeschlossen war und sich nicht ganz abgeschottet hat.

*  sieh auch: Jens Schneider, Maurice Crul, Frans Lelie: generation mix. Die superdiverse Zukunft unserer Städte und was wir daraus machen.

In einer Vorstellung des Buches heißt es:
[...] Im Zentrum steht einmal die Frage, unter welchen Umständen sich die zweite Generation am wirkungsvollsten entfalten kann. Zum anderen geht es um die Frage nach der sozio-kulturellen Integration. Wie stark fühlen sich die Angehörigen der zweiten Generation mit der Gesellschaft verbunden, in der sie leben, wie sehen die sozialen Beziehungen in den immer diverser werdenden Städten aus und welche Sichtweisen auf interethnische und interreligiöse Beziehungen herrschen vor? [...]
Während im Buch noch Fragen zur Beschreibung gestellt werden, werden im Artikel schon "Forderungen und Erwartungen" an die zweite Generation gestellt. Sind diese ohne weiteres berechtigt, nur weil es um die zweite Generation geht? Kann nicht "Migrationshintergrund" eben doch ein entscheidender Faktor für unzureichende Integration der zweiten Generation sein?

Bei Personen mit guten Bildungsvoraussetzungen wird schon in der ersten Generation eine befriedigende Integration gelingen. So ist bei Flüchtlingen aus der DDR, die in die BRD kamen, fast ausnahmsweise die Integration gut gelungen. Entsprechendes gilt praktisch durchweg für die Generation von DDR-Bürgern, die als Kinder oder in der Ausbildungsphase die Einigung erlebten. Entsprechendes sehe ich im Bekannten- und Verwandtenkreis hinsichtlich der Integration in nicht allzu fremde Kulturen im Laufe weniger Jahre.
(Ein Sonderbeispiel sind die Brüder Thomas und Heinrich Mann, für die sich ein eigener Artikel lohnen würde.)
Aber wie steht es mit Bauern aus Anatolien, die nach Istanbul zogen? Sie ziehen nur innerhalb ihres Landes um, aber integrierte Großstädter werden sie nicht, häufig auch nicht die zweite Generation. Wie es mit darauf folgenden Generationen steht, mag die darauf spezialisierte Forschung beantworten. Entsprechendes gilt aufgrund der Erfahrungen, die Deutschland mit den "Gastarbeitern" gemacht hat. - Lag es immer nur daran, dass ihnen das Stigma Migrationshintergrund anhing?
Gelingt es denn allen nativen Deutschen, sich auf die Einwanderungsgesellschaft einzustellen? Ist allein Schulunterricht für das Gelingen oder Nichtgelingen verantwortlich zu machen?
(zur Fortsetzung dieses Artikels)

Grundlegende Probleme im Zusammenhang mit Flüchtlingen und Flucht schneidet der Friedensforscher Harald Müller (bis Ende September Leiter der HSFK) in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 4.10.2015 an.