29.7.16

Ohne Streitkultur kommt Demokratie nicht aus

Worauf beziehe ich mich?

Sarah Wagenknecht hat noch einmal formuliert, was alle Organisationen von Anfang an kritisiert haben, die die Festung Europa für menschenrechtswidrig hielten. Nämlich, dass Merkels verspätete Entscheidung, die Grenzen zu öffnen, unvorbereitet war. Der lange überfällige Schritt wurde nicht von den notwendigen organisatorischen Maßnahmen begleitet. Das - vorbildliche - ehrenamtliche Engagement kann den Mangel an Mitarbeitern bei der Identifizierung der Geflüchteten und an Lehrern für den an Zertifikaten orientierten Sprachunterricht nicht ausgleichen, wie nicht zuletzt Lageso gezeigt hat. So kann angesichts der stark ansteigenden Zahlen die Integration der Geflüchteten nicht schnell genug vorangetrieben werden.

Daraufhin schrieb Spiegel online:
Aktuell führen nicht nur Verschwörungstheoretiker und Rassisten Flüchtlinge als direkte Ursache für tödliche Gewalt an. Tatsächlich greift der politische Mainstream ähnliche Ansichten auf. So sagte Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht am Montag: "Die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass die Aufnahme und Integration einer großen Zahl von Flüchtlingen und Zuwanderern mit erheblichen Problemen verbunden und schwieriger ist, als Merkels leichtfertiges 'Wir schaffen das' uns im letzten Herbst einreden wollte." [Hervorhebungen von mir]
Was mit erheblichen Problemen verbunden ist, mag zu allerlei Fehlschlägen führen, kann aber nur in einem extremen Ausnahmefall "direkte Ursache für tödliche Gewalt" sein. Und dass Sahra Wagenknecht dem "politischen Mainstream" angehöre, kann nur behaupten, wer nicht weiß, was Mainstream bedeutet, oder wer auf Kosten der Genauigkeit originell formulieren will. Wagenknecht ist so wenig Mainstream, dass sie selbst von ihrer eigenen Partei immer wieder abweicht. Das zeigen auch in diesem Fall die Reaktionen ihrer Parteigenossen.

Jetzt hat Sahra Wagenknecht sich auf Facebook noch einmal gemeldet: 
"Meine gestrige Stellungnahme zum Selbstmordattentat in Ansbach hat, wie die Kommentare zeigen, offenbar zu Missverständnissen geführt. Es ging mir weder darum, die Aufnahme von Flüchtlingen zu kritisieren noch alle in Deutschland lebenden Flüchtlinge unter Generalverdacht zu stellen. Das habe ich weder gesagt noch gemeint. Im Gegenteil, ich habe schließlich nur einen Tag zuvor im ZDF Sommerinterview unmissverständlich gesagt, dass das Asylrecht verteidigt werden muss und es keine Obergrenzen geben kann. Rassistische Parolen und pauschale Verdächtigungen von Schutzsuchenden habe ich immer wieder mit aller Deutlichkeit kritisiert. Es ging mir darum deutlich zu machen, dass die Integration einer derart großen Zahl von Menschen eine der größten Herausforderungen der letzten Jahre ist und um die Kritik an Merkel, die im letzten Herbst zwar ihr "Wir schaffen das" fleißig gepredigt, bis heute aber unterlassen hat, die notwendigen sozialen und politischen Voraussetzungen zu schaffen, die gebraucht werden, damit Integration gelingen kann. Der Staat, seine Kommunen, sein Sozialwesen, seine Frühwarnsysteme wie die Soziale Arbeit, die Bildungseinrichtungen, die Verwaltung vor Ort, der soziale Wohnungsbau und auch die Polizei: das alles wurde in den zurückliegenden Jahren weggespart und abgebaut. Und auch seit letzten Herbst ist ausgesprochen wenig geschehen, diese Fehlentwicklungen zu korrigieren. Ich war davon ausgegangen, dass man nicht in jeder Stellungnahme alles noch einmal sagen muss, aber offenbar hat das zu den Fehlinterpretationen geführt. Deshalb möchte ich das hiermit ausdrücklich richtig stellen."

Spiegel online (SPON) schreibt dazu am 26.7.: 
"Per Facebook-Eintrag wollte Sahra Wagenknecht die Debatte um ihre umstrittenen Aussagen zur Flüchtlingspolitik noch irgendwie einfangen. Sie habe das alles nicht so gemeint, schrieb sie am Dienstag, natürlich sei sie nicht gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, und sie wolle auch keinen Generalverdacht. Doch da war es schon zu spät."

Es wird höchste Zeit, dass die sich als seriös verstehenden Medien vom Stil des Aufbauschens und Skandalisierens von Boulevard und sozialen Medien entfernen und zur angemessenen Gelassenheit und Differenzierung zurückkehren. Das ist besonders jetzt wichtig, wo die Versuchung groß ist, die Serien von Gewalttaten, die jetzt in Deutschland aufgetreten ist, alle in denselben Kontext zu stellen (was Wagenknecht freilich auch nicht vermieden hat).

Vorbildlich erscheint mir in diesem Kontext der Leitartikel zu dem Amoklauf in München von Daniela Vates in der Frankfurter Rundschau vom 26.7.: 
"[...] Das Fernsehen ging auf Dauersendung, obwohl es über Stunden keine Neuigkeiten gab. Die sozialen Netzwerke sorgten für schnelle Verbreitung von Gerüchten. 2300 Polizisten waren zeitweise allein damit beschäftigt, größtenteils falschen Gerüchten nachzugehen. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die die Bundeswehr in Alarmbereitschaft versetzen ließ, kann nicht für sich in Anspruch nehmen, für Entspannung gesorgt zu haben. [...] Zwar ist jede Gewalttat ein Drama, aber nur die wenigsten rechtfertigen einen Ausnahmezustand. Er kann Nachahmungstäter sogar ermutigen [...] Wird der Ausnahmezustand die Regel, haben die Terroristen schon ohne Anschlag ihr Ziel erreicht: Freiheit einzuschränken und die Gesellschaft nachhaltig zu verunsichern." [Hervorhebung von mir]

In der gegenwärtigen Situation existiert genügend Sprengstoff; der Zulauf zu rechten Zündlern ist so groß, dass nur offene Streitkultur mit großer Besonnenheit und differenzierender Darstellung die Chance bietet, sich über die notwendigen Schritte klar zu werden und sie mit der nötigen Entschlossenheit im demokratischen Konsens zu tun. Haltlose Anschuldigungen helfen da nicht weiter. Das gilt auch für Wagenknechts Behauptung, Merkel hätte ihr "Wir schaffen das." "leichtfertig" geäußert. Wenn Merkel so lange den Kurs Festung Europa gestützt hat, dann gewiss, weil sie geglaubt hat, dass ein anderer Kurs kaum konsensfähig sei. Dass er so wenig konsensfähig war, wie sich inzwischen gezeigt hat, macht es umso dringlicher, die Nüchternheit zu bewahren - oder auch zurück zu gewinnen, die der Münchener Polizeisprecher* am Abend der Gewalttat im Einkaufszentrum so vorbildlich demonstriert hat.

mehr dazu: Wut der Linken auf Wagenknecht wächst SPON 29.7.16

*vgl. die Löschdiskussion zum Wikipediaartikel

Der Entwurf zu diesem Artikel wurde am 27.7. (in Zeitnot) in Fonty veröffentlicht. Es dauerte bis heute, bis ich dazu kam, die Flüchtigkeitsfehler auszumerzen. Für den Hinweis auf verbliebene Fehler bin ich dankbar.

8.7.16

Brexit, Ceta und was sonst zusammengehört

Lobbycontrol schreibt mir zum Stichwort Brexit:
"[...] jede Krise bietet auch eine Chance: Anstatt Probleme unter den Tisch zu kehren, wird endlich offen über den Zustand und die Zukunft der Europäischen Union diskutiert. Probleme gibt es in der Tat viele: Auch wir berichteten in den letzten Jahren immer wieder über den oft problematischen und übergroßen Lobbyeinfluss in Brüssel und die Defizite bei der demokratischen Kontrolle des Lobbyismus.
Wir sehen die Debatte um den Brexit daher auch als Chance, um die Demokratiedefizite der EU-Institutionen, ungleichen Einfluss, mangelnde Transparenz und unregulierten Lobbyismus endlich konsequent anzugehen. Denn eines ist klar geworden: Wenn die EU eine Zukunft haben will, dann darf sie kein neoliberales Europa der Konzerne sein, sondern eine öffentliche Demokratie, ein demokratisches Europa, geprägt von Bürgerinnen und Bürgern und deren Belangen.
Das war oftmals nicht der Fall. In jüngster Vergangenheit zeigte das der Umgang mit den umstrittenen Freihandelsabkommen TTIP und CETA, der weiche und sehr konzernfreundliche Kurs im Umgang mit der Auto-, Banken- und Agrarindustrie – oder das schwache Engagement gegen die Steuertricks der Konzerne. [...]

Jürgen Habermas führt das "Gefühl des Kontrollverlustes", das zum Brexit geführt hat in der ZEIT vom 7.7.16 zurück auf "die Aushöhlung der nationalstaatlichen Demokratien, die den Bürgern bisher die Chance gegeben haben, über wichtige Bestimmungen ihrer nationalen Existenz mitzubestimmen".

Spiegel online schreibt zu Ceta:
Die Kommission wollte das Abkommen als reinen EU-Vertrag zunächst ohne die nationalen Parlamente beschließen lassen, war aber unter massivem Druck eingeknickt. Doch die vermeintliche Kehrtwende war womöglich gar keine. Schon am Mittwoch zeigte sich die Kommission trotzig: Man habe sich lediglich dem politischen Druck einer großen Mehrheit der Mitgliedstaaten gebeugt. An der rechtlichen Bewertung halte man jedoch fest. "Wir glauben immer noch, dass das gesamte Abkommen unter EU-Kompetenz fällt", sagte ein ranghoher Kommissionsbeamter. Deshalb habe man dem Europäischen Rat vorgeschlagen, Ceta vorläufig in Kraft zu setzen - und zwar vollständig.Sollte der Rat mitspielen, könnte Ceta de facto auf unbestimmte Zeit gelten, auch ohne die Zustimmung der Parlamente der Mitgliedstaaten. "Der vorläufigen Anwendung ist keine zeitliche Grenze gesetzt", sagte der Kommissionsfachmann. [...]
Sollte der Europäische Rat die vorläufige Anwendung von Ceta verweigern, könnten juristische Schritte drohen. So hat die EU-Kommission den Europäischen Gerichtshof gebeten, den bereits verhandelten Freihandelsvertrag mit Singapur zu prüfen, ob er unter die alleinige Kompetenz der EU oder auch der Mitgliedstaaten fällt. Die Richter werden ihre Meinung voraussichtlich im Frühjahr 2017 veröffentlichen.Was danach in Sachen Ceta geschieht, ist offen. "Man kann nie ausschließen, dass die Kommission vor Gericht zieht, um europäisches Recht durchzusetzen", so der EU-Beamte. "Das gibt ihr Mandat her."
Die Kommission fürchtet letztlich um die Glaubwürdigkeit der EU. Die internationalen Partner seien schon jetzt "äußerst besorgt" über den Ärger um Ceta. "Sollten wir diese Debatte nicht lösen, könnten die Dinge haarig werden", so der Kommissionsbeamte. Wenn die EU keinen Handelsvertrag mit Kanada abschließen könne, habe die kanadische Handelsministerin Chrystia Freeland zu Recht gefragt, "mit wem dann?" [Hervorhebungen von mir]
Zusammenarbeit in Europa ist unverzichtbar. Demokratie aber auch.
Wenn diese EU-Kommission Zusammenarbeit verweigert, muss sie abgesetzt werden. Das sind wir Europa schuldig. 
Zuständig ist dafür das demokratisch gewählte Europäische Parlament.