23.4.21

Erinnerungskultur: Holocaust und Kolonialismus

 Enttabuisiert den Vergleich! ZEIT 31.3.21

Die Geschichtsschreibung globalisieren, das Gedenken pluralisieren: Warum sich die deutsche Erinnerungslandschaft verändern muss. (Von  und )
"[...] Wir verneinen keineswegs die singulären Elemente des Holocausts, allerdings glauben wir nicht, dass sie vergleichende Ansätze zur Geschichte und Erinnerung des Holocausts allgemein verhindern. Im Gegenteil: Vergleichende Perspektiven, die Ähnlichkeiten und Unterschiede herausarbeiten, bieten die besten Voraussetzungen dafür, zu verstehen, was am Holocaust singulär war. Und sie bieten somit die besten Chancen zur Prävention von Genoziden. [...]" 
 Thomas SchmidDer Holocaust war kein Kolonialverbrechen Aktivismus und Wissenschaft gehören nicht zusammen. Eine Erwiderung auf Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer, ZEIT Nr.15 8.4.21
"[...] Denn nur wer vergleicht, kann Unterschiede erkennen, Gemeinsamkeiten wahrnehmen. Kann sehen, dass beide, Holocaust und Gulag, Massenmorde waren. Aber auch den grundlegenden Unterschied erkennen: In den Gulag wurden Menschen deportiert, weil sie Kulaken oder Händler oder Intellektuelle oder "Konterrevolutionäre" waren. Obwohl ihr Tod in Kauf genommen wurde, war der Zweck des Unternehmens nicht ihre Vernichtung. Im Holocaust dagegen wurden Juden allein deswegen ermordet, weil sie Juden waren. Dieser Wille der Deutschen, ein ganzes Volk auszulöschen, ist einmalig in der Geschichte. So blutig und mörderisch der Kolonialismus auch war – Ziel war nicht die Vernichtung um der Vernichtung willen. Deswegen ist der Holocaust singulär. Er war ein antisemitischer Genozid.
Wie kommen die beiden Autoren auf die abwegige Idee, wer dieser Meinung sei, betreibe damit absichtlich das Herunterspielen, Verharmlosen und Verleugnen der kolonialistischen Verbrechen? Ihre These lautet, dass es "diskursive Kontinuitäten und Funktionsäquivalenzen" zwischen Holocaust und Kolonialismus gibt. Holt man die wolkige Formulierung auf den Boden zurück, dann ist damit nichts anderes als dies gemeint: Nicht der Holocaust ist der große Zivilisationsbruch, sondern der ihm vorausgehende und ihn einschließende Kolonialismus. Der Holocaust wäre dann nur ein Spezialfall des Kolonialismus, ginge gewissermaßen in diesem auf. Gegen diese Sichtweise spricht die Tatsache, dass Hitler zwar den Osten unterwerfen, aber nie ein Kolonialreich errichten wollte. Und die Juden nicht unterwerfen und ausbeuten, sondern vernichten wollte. [...]"
Schmid verzichtet dabei darauf, auf Hannah Arendt einzugehen, die die Wurzel des nationalsozialistischen Totalitarismus im kolonialistischen Rassismus sieht, ob aus Unkenntnis oder weil ihre Analyse nicht zu seiner Argumentation passt, vermag ich nicht zu beurteilen. 
"Der kontinentale Imperialismus findet seinen Ausdruck im völkischen Nationalismus der „verspäteten Nation“. Besonders die Nationen in Ost- und Mitteleuropa konnten noch auf keine nationale Geschichte zurückblicken. Hier finden nach Arendt diejenigen politischen Kräfte ihre Anliegen wieder, denen es nicht gelang, sich bisher national zu emanzipieren. Sie erläutert in diesem Zusammenhang, wie der demokratische Volksbegriff der Aufklärung seitens der völkischen Bewegung abgelehnt und romantisch aufgeladen wird und zeigt auf, wie dieser völkische Nationalismus den Antisemitismus biologistisch, rassistisch werden lässt, den Rassismus antisemitisch und in einem Antisemitismus der Vernichtung mündet. Aus dem Völkischen Nationalismus konnte sich die Ideologie der „Volksgemeinschaft“ entwickeln." (Arendt und Geschichte des völkischen Nationalismus)
Mehr zur Debatte:
Diskussion über die Jerusalem Declaration: Die Missgeschicke des Bewusstseins sind vielfältig von M. Brumlik u. G. Krell, FR 22./23.4.21
darin zu Thomas Schmid (s.o.): "[...] Dagegen wendet Schmid ein, der Holocaust sei kein Kolonialverbrechen, das Projekt einer „multidirektionalen Erinnerung“ somit wissenschaftlich nicht seriös. Nun sprechen die beiden Autoren an keiner Stelle von einer Kausalbeziehung zwischen Kolonialismus und Holocaust und betonen immer wieder, es gehe ihnen darum, das Spezifische einer Gewaltgeschichte zu erinnern, ohne eine andere zum Schweigen zu bringen. Sie möchten gleichwohl Parallelen oder auch Zusammenhänge zwischen diesen Verbrechen eruieren, so vor dem Hintergrund der europäischen Ideengeschichte. So ist die Ab- und Entwertung von Juden, aber auch von anderen Gruppen von Menschen, häufig außerhalb von Europa, schon seit Reformation und Aufklärung ein verbreiteter Aspekt in der politischen Theorie und der Philosophie. 
 Muss man Thomas Schmid daran erinnern, dass die Nazis in den Dreißigerjahren Funktionäre in die USA schickten, um die dortigen Rassegesetze zu studieren und teilweise wörtlich zu übernehmen? Oder an Hannah Arendt, die im europäischen Imperialismus in Afrika Ansatzpunkte für den Vernichtungsrassismus der Nazis sah? [...]
Damit keine Missverständnisse entstehen: Die Formulierung, die Thomas Schmid aus aktuellen Diskussionen referiert, der Holocaust sei ein „white on white crime only“, stufen auch wir als rassistisch ein. Wenn weiße oder schwarze Linke meinen, es gebe keinen schwarzen Rassismus (auch unter Schwarzen), dann regen wir an, einmal bei Frantz Fanon das Kapitel „Missgeschicke des nationalen Bewusstseins“ nachzulesen. Und natürlich gibt es historische und aktuelle Menschheitsverbrechen nicht nur vom „Westen“ oder von Weißen. 
 Wir sind dafür, Antisemitismus entschieden zu bekämpfen, aber auch, die israelische Besatzung und die weitere Landnahme von Gebieten, die völkerrechtlich den Palästinensern zugesprochen worden sind, zu kritisieren. Und wir plädieren dafür, postkoloniale Kritik ernst zu nehmen und fair zu rezipieren sowie mit ihr selbst kritisch und selbstkritisch umzugehen."

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