"[...] Ich bin hochbegabt und hochsensibel. Das weiß ich aber erst, seit ich 40 Jahre alt bin. Dabei gab es schon früher Anzeichen. Beispielsweise habe ich oft nicht verstanden, wie andere denken, war schon immer schlecht im Small Talk. Ich nehme Dinge schnell persönlich und steigere mich viel schneller und tiefer in Situationen hinein als andere. Ich habe mich oft anders gefühlt als die Menschen in meinem Umfeld, irgendwie fremd. Diesem Gefühl bin ich aber lange nicht nachgegangen. Wo hätte ich auch ansetzen sollen? [...]
Vielen Hochbegabten fällt es schwer, mit ihren Mitmenschen zu kommunizieren und interagieren, weil sie deren Denkmuster nicht verstehen. Sie denken quasi auf einem anderen Level als ihr Umfeld. Zwar können sie sich oft kognitiv anderen anpassen, zum Beispiel als Jugendliche in der Klasse oder später bei der Arbeit. Sie imitieren die anderen und versuchen generell, nicht aufzufallen. Das kostet sie allerdings viel Energie, die an anderer Stelle fehlt. [...]
Während all dieser Jahre konzentrierte ich mich auf meine Defizite. Wie oft habe ich mich gefragt, wieso es scheinbar für alle anderen so viel leichter ist als für mich, was stimmte denn nicht mit mir, ich war doch nicht gerade dumm? Ich konnte nicht erkennen, dass nichts an mir zu wenig war, da war kein Defizit. Sondern ein Zuviel. [...]
Der Hochbegabtenverein Mensa verteilt regelmäßig Gutscheine für verbilligte IQ-Tests an seine Mitglieder, damit sie sie an potenzielle, noch unentdeckte Hochbegabte weitergeben. Als mir solch ein Gutschein zufällig bereits das zweite Mal angeboten wurde, nahm ich ihn an und machte den Test. [...]
Schon drei Tage später bekam ich das Ergebnis: Ich bin hochbegabt. Selten habe ich mich so erleichtert gefühlt. Endlich konnte ich einen großen Teil meiner Fehlschläge, meines vermeintlichen Versagens, all der seltsamen Momente in meinem Leben rückblickend einordnen und neu bewerten. Und etwas in Zukunft anders machen. Diese Gaben vielleicht sogar nutzen!
Seitdem sind vier Jahre vergangen, und in dieser Zeit war ich nochmals in zwei Jobs. Mir war die Idee gekommen, dass eine Arbeitsstelle, die mir nicht sonderlich viel bedeutet, eine Lösung sein könnte. Ich wollte einfach meinen Job machen und pünktlich abends den Laptop zuklappen. Mich auf mein Privatleben fokussieren. Also ließ ich mich von einem Versicherungskonzern anwerben. Dass es mir als hochsensiblem Menschen gar nicht möglich ist, einen so wichtigen Teil meines Lebens – meine Arbeit – emotionslos anzugehen, wusste ich da noch nicht. [...]
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