6.11.08

9 Thesen zu Europa

Ich habe hier schon einmal 10 Thesen zu Europa geschrieben.

Diese habe ich nun einerseits auf neun gekürzt, adererseits auf den neusten Stand gebracht. Dabei hat mir Habermas' neustes Interview in der ZEIT vom 6.11.2008 sehr geholfen, aus dem ich ein paar kurze Passagen zur Begründung meiner Thesen beigebe.

Thesen zu Geschichte und Politik Europas und was unsere Schüler dazu lernen sollten
1.) Mit der Aufklärung im klassischen Griechenland (Sokrates u.a.) und der im 18. Jahrhundert hat Europa wesentlich zur Überwindung von Mythen und zur Infragestellung überkommener Weltbilder beigetragen.
2.) Dabei ist allerdings ein neuer Mythos, ein Fortschritts - Mythos entstanden, den es kritisch zu hinterfragen gilt (z. B. Stammzellendiskussion).
3.) Die europäische Expansion und der europäische Kolonialismus haben nicht nur zur Zerstörung von Kulturen geführt, sondern auch zur Ausbreitung europäischer Sprachen, Religionen, Rechts- und Verwaltungsstrukturen sowie zur Verbreitung von Ideen der Aufklärung, darunter der Menschen- und Bürgerrechte, beigetragen.
4.) Ungeachtet aller Menschenrechtserklärungen wurden Sklavenhandel und Sklaverei bis tief in das 19. Jahrhundert von Europäern betrieben und begünstigt.
5.) Völkermord trat in der europäischen Geschichte immer wieder auf. Während der europäischen Expansion im 16.und 17. Jahrhundert an den indigenen Völkern Süd- und Nordamerikas und während des Kolonialismus im 19. Jahrhundert an afrikanischen Stämmen. Singulär bleibt die systematisch betriebene industrielle Massenvernichtung des europäischen Judentums während des Zweiten Weltkriegs durch den Nationalsozialismus (Holocaust).
6.) Der „europäische Bürgerkrieg“ (E. Nolte) 1914 – 1945 hat zur bisher größten Menschheitskatastrophe geführt.

7.) Der europäische Einigungs-Prozess seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ein weithin vorbildliches Beispiel für supranationale und regionale Zusammenarbeit auf multilateraler Basis.
8.) Doch die unkoordinierte Wirtschafts- und Sozialpolitik (krassestes Beispiel: der europäische Agrarprotektionismus) zeigt andererseits, dass die Regierungen der europäischen Staaten auch im 21. Jahrhundert noch nicht zu umfassenden multilateralen Regelungen bereit sind.
9.) In der Auseinandersetzung mit Themen der europäischen Geschichte und Politik und in der Begegnung mit Jugendlichen anderer Länder sollten junge Menschen lernen, Verständnis und Toleranz gegenüber fremden Kulturen zu entwickeln, verantwortungsbewusst mit modernen Technologien und den Ressourcen der Umwelt umzugehen und ihre Identität als politisch mündiger Bürger in einem zusammenwachsenden Europa zu festigen.

Seit den Anfängen der Moderne müssen Markt und Politik immer wieder so ausbalanciert werden, dass das Netz der solidarischen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft nicht reißt. Eine Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie bleibt immer bestehen, weil Markt und Politik auf gegensätzlichen Prinzipien beruhen. Auch nach dem letzten Globalisierungsschub verlangt die Flut der in komplexer gewordenen Netzwerken freigesetzten dezentralisierten Wahlentscheidungen nach Regelungen, die es ohne eine entsprechende Erweiterung von politischen Verfahren der Interessenverallgemeinerung nicht geben kann. [...]
Seit dem späten 18. Jahrhundert haben Recht und Gesetz die politisch verfasste Regierungsgewalt durchdrungen und ihr im Binnenverkehr den substanziellen Charakter einer bloßen »Gewalt« abgestreift. Nach außen hat sie sich von dieser Substanz allerdings genug bewahrt – trotz des wuchernden Geflechts von internationalen Organisationen und der zunehmenden Bindungskraft des internationalen Rechts. Dennoch ist der nationalstaatlich geprägte Begriff des »Politischen« im Fluss. Innerhalb der Europäischen Union haben beispielsweise die Mitgliedstaaten nach wie vor das Gewaltmonopol inne und setzen gleichwohl das Recht, das auf supranationaler Ebene beschlossen wird, mehr oder weniger klaglos um. Dieser Formwandel von Recht und Politik hängt auch mit einer kapitalistischen Dynamik zusammen, die sich als ein Wechselspiel von funktional erzwungener Öffnung und sozialintegrativer Schließung auf jeweils höherem Niveau beschreiben lässt. [...]
Der weitere Verlauf der [gegenwärtigen] Krise macht ja den Makel der europäischen Konstruktion offenbar: Jedes Land reagiert mit eigenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Weil die Kompetenzen in der Union, vereinfacht gesagt, so verteilt sind, dass Brüssel und der Europäische Gerichtshof die Wirtschaftsfreiheiten durchsetzen, während die dadurch entstehenden externen Kosten auf die Mitgliedsländer abgewälzt werden, gibt es heute keine gemeinsame wirtschaftspolitische Willensbildung. Die wichtigsten Mitgliedstaaten sind schon über die Grundsätze, wie viel Staat und wie viel Markt man überhaupt will, zerstritten.

(Jürgen Habermas, DIE ZEIT Nr.46, 6.11.2008, S.54)

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