In den Kommentaren zu ihrem Artikel kommt es zu einem aufschlussreichen Austausch darüber, wie weit der Lehrer im Lernprozess zurücktreten sollte. Bevor ich meine eigenen Lernerfahrungen darstelle, möchte ich daher zunächst dies Gespräch dokumentieren:
apanat: "Ohne auf den gesamten Dialog zum Artikel eingehen zu können, möchte ich zu einer Passage des Artikels nachfragen: Heißt “Mit einer solchen Persönlichen Lernumgebung (PLE) [...] lässt es sich lebenslang selbststeuernd lernen und arbeiten. Das PLN ist dabei unter ständiger Rekonstruktion. Eine solche Lernumgebung ist die heute mögliche Lösung des Problems, dass jeder Mensch individuell und zugleich kollaborativ lernen muss, wenn er zu kreativen Leistungen fähig sein soll.”, dass man kollaborativ arbeitet, wenn man autodidaktisch Marx studiert. Kann es also tote Lernpartner geben?"
kmesch: "Die Frage erledigt sich doch durch genauere Lektüre des Artikels von selbst:
“Lernen ist Dialog, Kommunikation mit anderen Menschen und mit den Artefakten (Produkten) Anderer. Diese Anderen können also auch schon Verstorbene sein, wie Kant, Goethe oder Hegel und Marx. Sie antworten nur leider nicht mehr.”
Lisa Rosa: "Um es mal philosophisch zu sagen: Die Artefakte (also die Produkte der Menschen, und natürlich auch Bücher von Marx z.B.) sind historisch vergegenständlichte Tätigkeit (Arbeit) und Wissen. Gewissermaßen die versteinerten kulturellen Lebensäußerungen. Natürlich ist es eine reduzierte Sicht, wenn wir sie bloß als “Lernmittel” sehen würden (typisch für Lehrer), anstatt als vergegenständlichte lebendige Kultur, die zu uns “spricht”. Wenn wir das nicht hätten, wären wir keine Menschen, und wir sind Menschen, indem wir uns diese Artekfakte aneignen und weiterentwickeln. Insofern ist alles (menschliche) Lernen gesellschaftlich."
apanat : "Anders gefragt: Sind Lernpartner immer Partner in einem symmetrischen Dialog oder gibt es asymmetrische Dialoge? Wenn ja, haben in asymmetrischen Dialogen die Partner nicht stark unterschiedliche Rollen, so dass ich u.U. Geld dafür bezahlen oder fremde Hilfe (vielleicht auch staatliche) in Anspruch nehmen muss, um die Dialogpartner zu finden, die ich brauche?
Kann man dann noch sinnvoll von Persönlicher Lernumgebung und Persönlichem Lernnetzwerk sprechen oder kann ich für solch ein Lernnetzwerk, wenn ich das nötige Geld nicht habe, auf Institutionen angewiesen sein?"
kmesch: "In einem PLN können ganz unterschiedliche “Lernpartner” auftreten, von eher unbekannten Content-Anbietern bis hin zu hochangesehenen Institutionen wie MIT, Stanford, Harvard etc. Bei den Institutionen gibt es häufig eine Wahlfreiheit zwischen kostenfrei und kostenpflichtig, z.B. bei MOOCs, die einfach lernerisch verfolgt werden können oder kostenpflichtig zu einem Zertifikatserwerb genutzt werden können. Für die Kollaboration spielt dies grundsätzlich keine Rolle."
Lisa Rosa: Ja. Und dazu noch – und das ist ja das Interessanteste im Gegensatz zu den qua System festliegenden Rollen in der Schule: Die Rollen können wechseln. Nicht per Dekret oder Gnade oder Vereinbarung („jetzt machen wir mal LdL, haha, da sind die Schüler mal die Lehrer“). Sondern ganz automatisch der jeweiligen Situation und Funktion im Lernprozess folgend. Mal gibt einer was Orientierendes rein (in dem Moment ist er „Lehrer“), mal ein anderer. Es wechselt so häufig, und alle sind sowohl gebende („Lehrer“) als auch nehmende („Schüler“), dass es gar nicht mehr bemerkt oder gar benannt werden muss.
Auch in einem guten Lernprojekt in der Schule, wo ein Projektleiter die Vorausplanung gemacht hat und strukturelle Vorentscheidungen getroffen hat, wechseln die Lernenden- und Lehrendenrollen in allen Phasen und ständig.
Dies ist auch ein Grund dafür, warum die Schule sich so schwer tut, Projektlernen im Dewey- und Nachfolger-Sinn mehr als „ausnahmsweise“ und „randständig“ zum Normalinstruktionsunterricht einzubauen: Es untergräbt die Lehrerautorität als Besserwisser und Befehlsgewalt. Das verträgt das System nicht – jedenfalls nicht in der bisherigen Form.
Lisa Rosa: Mal nur zur letzten Frage: Wieso Geld? Das PLN in Zeiten der Digitalität ist potenziell unendlich groß und “kostet” nur Netzzugang und Zugangsgerät. Alles, was in meiner möglichen erreichbaren Umwelt an Menschen und Artekfakten vorhanden ist, kann Teil meines PLN werden. Ein PLN in Zentralafrika ist demnach ganz anders kulturhistorisch begrenzt als meins. Das PLN gibt es doch auch nicht-digital, nur dass man es früher nicht so nannte. Begrenzungen zu erweitern gehört auch zu den Herausforderungen des digitalen Zeitalters.
Und derzeit kann man PLNs neben den Bildungsinstitutionen bauen und pflegen. Was wohl passieren wird, wenn die Schule das PLN-bauen als Aufgabe erkennt und die PLNs ihrer Schüler in ihre Institution einbindet (anstatt sie zu ignorieren, zu missachten oder zu bekämpfen)?
apanat: @Lisa Rosa Wenn alles ” in meiner möglichen erreichbaren Umwelt an Menschen und Artekfakten [...] zu meinem PLN” dazu gehören kann, sind also Lehrer, sofern ein PLN besteht, nicht mehr erforderlich. Oder habe ich etwas missverstanden?
Lisa Rosa: Ja @apanat : Da hast Du missverstanden. Denn meine Lehrer (z.B. meine derzeitige Yogalehrerin, die ich mir selbst gewählt habe, oder ein Professor aus meinem Studium, der mir immer noch sehr wichtige Lernimpulse und -Hilfen gibt Lehrer ) gehören zu meinem PLN. (auch wenn sie nicht zum digitalen gehören, wie die Yogalehrerin!)
Vielleicht hängst du sehr am “Lehrer”, wie er in der Schule systemdefiniert ist und wie du ihn selbst in der Praxis “gibst”? Ich meine mit Lehrer in unserem Diskussionszusammenhang einfach alle Menschen, von denen ich etwas lerne. Wir müssen also immer dazusagen, welchen “Lehrer”-Begriff wir grad verwenden.
Aber warum reitest du so auf der Frage herum, dass ich meinen sollte (deiner Meinung) nach, die Lehrer würden verschwinden, nicht mehr gebraucht, gar abgeschafft? – ich habe niemals soetwas gesagt, und es ergibt sich auch nicht indirekt aus meinen Äußerungen!. Natürlich braucht es Lehrer! Aber wir könnten und müssten sie anders definieren und sie müssen andere Rollen als in der Schule bislang gewohnt, einnehmen, und sie müssen eine Menge andere und neue Kompetenzen haben.
apanat:
Du schreibst:
“Wir müssen also immer dazusagen, welchen “Lehrer”-Begriff wir grad verwenden.
[...]. Natürlich braucht es Lehrer! Aber wir könnten und müssten sie anders definieren und sie müssen andere Rollen als in der Schule bislang gewohnt, einnehmen, und sie müssen eine Menge andere und neue Kompetenzen haben.”
Jetzt sind wir auf der richtigen Spur: Wenn ich ein PLN habe und mir meine Lernpartner aussuche, wobei wir uns gegenseitig mal als Lehrer und mal als Lerner gegenübertreten, dann ist der Lehrer ein Lernermöglicher, der Lernanregungen gibt, die ich nutzen kann oder nicht. Das ist eine neue Lehrerrolle, nicht mehr die des Lehrers, der von dem, was er weitergibt, so überzeugt ist, dass er dafür begeistert, auch wenn man dabei etwas lernt, was zunächst fremd und überflüssig erscheint, weil er Verständnishilfen gibt, dass einem die Augen geöffnet werden.
Ob man die Erfahrung gemacht hat, dass es solche Lehrer gibt und dass sie eine wichtige Funktion haben, die durch ein Persönliches Lernnetz nicht erfüllt werden, macht den Unterschied aus, welche Rolle man einem Lehrer zuschreibt.
Adorno – mir persönlich nicht gerade sympathisch – hat in den 50er Jahren des 20. Jh. die Rolle eines solchen Lehrers gespielt, der lange vor der Studentenrevolte einen maßgeblichen Teil der jungen Sozialwissenschaftler einen kritischen Blick gelehrt hat, den sie im Nachkriegsdeutschland im reinen peer-to-peer-Verhältnis ohne Lehrer seines Kalibers sehr viel schwerer hätten erwerben können.
Zwar propagiere ich ein solches Schüler-Lehrer-Verhältnis nicht als das (!) richtige, aber ich gehe doch wohl recht in der Annahme, dass du es jedenfalls nicht propagierst? Oder habe ich dich jetzt immer noch falsch verstanden?
Lisa Rosa: Haha, du hast offenbar bisher ganz schön um den heißen Brei herumgeredet bzw dich an ihn herangeschlichen, scheint mir.
Warum sollte ich denn etwas gegen mitreißende Lehrer haben? Die sind leider selten. Und sie reißen ja auch nicht alle Schüler mit, denn manche lassen sich nicht gerne mitreißen, sondern suchen ihre Gegenstände und Wege lieber selbst.
Wie auch immer, Dein Diskussionsgegenstand ist das leidige “Lerne freiwillig und mit Begeisterung, was die Schule von dir zu lernen verlangt”. Das diskutieren wir so häufig, und hier, gerade in diesem Blogpost, passt es eigentlich meiner Ansicht nach gar nicht. Es geht hier mal um etwas anderes -eingangs hatte ich ja genau darauf Bezug genommen …
Hier können wir mit nochmaliger Erinnerung an Lisa Rosas Artikel Lernen 2.0 Didaktik der Autodidaktik das Gespräch verlassen. (Meine Kommentare werden auf Blogs, die bei wordpress gehostet werden, immer unter apanat geführt. Ich wehre mich inzwischen nicht mehr dagegen.)
Nach der Blogparade über Motivation kam es hier also noch zu einem Austausch über die Lehrerrolle. Es wäre mir recht, wenn der in Kommentaren oder - möglichst hier verlinkten - Blogartikeln hier weiterginge.
Offenbar bedarf es einiger Klärungen, wenn man Lernerfahrungen einordnen will. Dass meine nicht auf “Lerne freiwillig und mit Begeisterung, was die Schule von dir zu lernen verlangt” konzentriert sein werden, wird sich zeigen.
Nachtrag vom 20.3.13:
Lisa Rosa: "Natürlich sind die Niveaus der Modellvorstellungen verschieden. abhängig von der (Denk-) Lebenserfahrung. Diese Conceptions seiner Schüler muss der Lehrer aber genau kennen und darum nachfragen, sonst kann er nicht dran ansetzen, um sie mit dem Schüler auf ein höheres Komplexitätsniveau zu bringen. darum geht es aber immer." (in dieser Google+-Diskussion)
apanat/Fontanefan dazu: Und deshalb, weil man nur auf dem passenden Lernniveau erfolgreich weiter lernen kann, ist die Rede von der "Didaktik der Autodidaktik" so missverständdlich.
Mehr dazu in Spannagels Aufsatz vom 10.3. und den im Netz verstreuten Diskussionen dazu, unter anderen auch in meinem Beitrag auf diesem Blog (vom 13.3.).
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