30.9.13

Weshalb Lernbehinderung erfolgreich macht

Erfolgreiche Unternehmer treffen sich. Die Hälfte von ihnen wurde als lernbehindert diagnostiziert.
Malcolm Gladwell erklärt es im Sterninterview (Stern, 26.9.13, S.72) am Beispiel Legasthenie:
"Wenn du in der Schule nicht lesen kannst, musst du strategisch denken lernen. [...] Du lernst Probleme zu lösen, weil dein Leben ein ständiges Problem ist."
Das ist einleuchtend dargestellt. Das kann Gladwell. Natürlich stimmt es nicht. Denn viele scheitern an dem Versuch, die Probleme zu lösen. Weil sie nicht intelligent genug sind oder weil sie zu ehrlich sind.
Deswegen sagt Gladwell auch: "Ein einzelner Nachteil kann sich auszahlen." (S.72, 4. Spalte) Der Ton ist auf kann zu legen.
Helen Keller hatte mehrere Behinderungen und wurde sehr erfolgreich. Ihre Lehrerin war sehr erfolgreich darin, Helen Keller zu lehren. Ihr Leben insgesamt litt darunter, dass sie diesen einen unglaublichen Erfolg hatte und es danach nicht so erfolgreich weiter ging.

Zugegeben: Der Titel dieses Artikels war etwas sehr reißerisch. Zur besseren Einordnung lese man hier nach.

Übrigens: Drei Bücher von Gladwell: Tipping PointBlink und What the Dog Saw: And Other Adventures.

24.9.13

Darf eine Leistung, die nicht erbracht werden konnte, mit 6 bewertet werden?

Zu der Zeit und an den Orten, wo ich unterrichtet habe (zeitweise im Ausland) war es üblich, dass in solchen Fällen, wenn die Leistung nicht nachgeholt werden kann, ein "ohne Leistung" eingetragen wird (was rechnerisch einer 6 oder 0 Punkten entspricht).
Bei der Gesamtbewertung sollte die Lehrkraft berücksichtigen, wie diese Einzelnote zustande gekommen ist.
Wenn sonst viele Einzelbelege mit deutlich besseren Leistungen vorliegen, wird sie die fehlende Einzelleistung nicht schwer gewichten. Wenn aber sonst keine bewertbaren Leistungen vorliegen, darf sie ja nicht eine Note erfinden. - Bei Bewertung von aus dem Rahmen fallenden Leistungen sollte prinzipiell das Prinzip der Regression auf den Mittelwert angewandt werden (zur Begründung vgl. Daniel Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken, 2012, S.242/43). Das ist freilich nicht intuitiv und wird deshalb nicht überall so gehandhabt.
Unabhängig davon darf aber eine nicht vorhandene Leistung nicht besser bewertet werden als eine vorhandene, auch wenn sich die große Mehrheit intuitiv dafür entscheidet.
Sollte denn ein mehrmaliger Olympiasieger, wenn er am Wettkampftag nicht antreten kann, wegen seiner sonstigen guten Leistungen eine Bronzemedaille bekommen oder als Zehnter gewertet werden oder soll man irgendeine andere Wertung für ihn erfinden?
Die Entscheidung des Lehrers zur Einzelleistung ist also eindeutig richtig. Entscheidend ist, wie er bei der Endnote die Gesamtleistung bewertet.

Bei Gute Frage.de ist - nahe liegender Weise die große Mehrheit anderer Meinung. Ich lade zur Diskussion über diese Frage ein. 

Vorzeitiger Nachruf auf eine Partei

"Jetzt kann man bei den nächsten Wahlen noch nicht einmal mit gutem Gewissen SPD wählen. Es erscheint ja geradezu wahrscheinlich, daß sie, wenn sie nicht die absolute Mehrheit bekommt, nur weiter mit der CDU zusammengeht. - Der Staatsbankrott [...] ist nicht mit dem Versagen der CDU eingetreten, sondern erst jetzt mit dem Versagen der SPD. Solange es eine Alternative gibt, ist eine unfähige Partei nicht schlimm. Aber wenn einem auch die genommen wird ... Die FDP aber, die einzige Partei, die bei der Sache zu ihren Grundsätzen gestanden hat, ist [...] Wieviel besser wäre eine Koalition mit der FDP gewesen, wo erstmals Alternativen und nicht Kompromisse mit der CDU-Politik zum Zug gekommen wären! [...] - Außerdem hielte ich es für gefährlich, die letzte deutsche Prinzipenpartei, die außerdem Honoratioren- und (!) "Intelligenzpartei", jedenfalls noch eine Partei für Individualisten ist, auszuschalten.
So habe ich am 26.11.1966 in mein Tagebuch geschrieben. Wer könnte heute ohne Sorge, sich lächerlich zu machen, noch so etwas schreiben. Mehr noch. Kurz zuvor hatte ich geschrieben:
Von der FDP scheint mir der Anlaß gut gewählt. So wird nämlich entweder eine Minderheitsregierung der CDU bestehen bleiben müssen. Ein mörderisches Unternehmen. Oder die SPD kommt im ungünstigst möglichen Augenblick in die Regierung. Die 'große Koalition', das Schreckgespenst für die FDP, wäre ihr jetzt wohl sehr lieb. [Hervorhebung Fontanefan am 24.9.13] Könnte sie sich doch wie unschuldig an der Misere u. den Schwierigkeiten, die uns noch bevorstehen, gebärden. (30.10.1966)
Wie haben sich die Zeiten geändert. Damals ging die SPD aus der großen Koalition gestärkt hervor, um mit der liberalen FDP eine Erneuerung der Bundesrepublik zu mehr Demokratie voranzutreiben. Gestern habe ich geschrieben:
Dass die Partei, der der Graben zwischen Reich und Arm nicht groß genug sein konnte (Westerwelle), die die Energiewende nach allen Regeln der Kunst torpedierte (Roesler) [...], und die ihre verdienten Mitglieder Hirsch und Baum seit Jahren im Regen stehen lässt, wenn es um liberale Themen geht, dass die aus dem Bundestag raus ist, begrüße ich sehr.
Die  Prinzipenpartei, die "Intelligenzpartei", die Partei für Individualisten hat sich aufgelöst. Übrig geblieben sind nur noch die Prinzipien und die Individuen, die zu ihnen stehen. Hirsch und Baum gehören gewiss dazu. Über andere wage ich nicht zu urteilen.
Vorzeitig ist der Nachruf, weil diese Partei ja wieder entstehen könnte. Das wäre freilich für die jetzige FDP eine Herkulesaufgabe.

Vielleicht kommt der Nachruf aber auch zu spät, weil nichts mehr dazu beitragen kann, die Partei aufzurütteln.

15.9.13

Vereinfachte Erläuterung der Hintergründe des Wartburgfestes von 1817 unter Bezug auf den Bürgerkrieg in Syrien und den deutschen Bundestagswahlkampf

Wenn du vieles gelesen hast und vieles dir sonderbar vorkommt, bist du schon auf der Vorstufe zum Weisen.

Wenn man die Vorgänge in und um Syrien und die Vorgänge im deutschen Bundestagswahlkampf entsprechend darstellen würde, käme noch viel Unverständlicheres heraus.

Zunächst also:

Die Burschenschaftler lebten in einem Regime, das sie für ungerecht hielten wie heute Ägypter und Syrer ihres und Al-Kaida-Kämpfer die politische Weltordnung insgesamt.

Sie empfanden sich als Vertreter der Freiheit und beriefen sich auf Luther als Freiheitskämpfer (gegen die religöse Diktatur der Papstes).

Sie veranstalteten eine Demonstration - wie 1832 die Demokraten beim "Hambacher Fest".

Aber, wie es bei Demonstrationen und Fußballspielen so ist, es finden sich immer welche, die noch eindrucksvoller demonstrieren wollen als die anderen. Die verbrannten dann also den Korporalsstock, mit dem die einfachen Soldaten geprügelt wurden, und Schriften, die - aus ihrer Sicht - das herrschende Regime verteidigten. (Da hätten sie auch den halben Goethe mit verbrennen können.)

Schließlich tötete Sand noch den Schriftsteller Kotzebue. Dieser war seinerzeit erfolgreicher als Goethe; aber Sand tötete ihn nicht deswegen, sondern deshalb, weil er - wie Goethe - ein Höfling war und den Herrschenden nach dem Munde redete.

Heine bemerkte zu Recht: "Wo Bücher brennen, da brennen bald auch Menschen."*

Man hat das auf den Holocaust bezogen, aber es war nur eine metaphorische Redeweise für: "Wer Bücher vernichtet, statt sie zu widerlegen, der ist auf der Vorstufe dazu, Menschen zu vernichten, statt sie zu überzeugen."

Luthers Verbrennen der Bannbulle war - so gesehen - die Vorstufe der Glaubenskriege.

Die Nazis haben dann Heines Metapher in der Wirklichkeit nachgebildet: Zuerst haben sie Bücher verbrannt, dann Millionen von Menschen erst getötet und dann verbrannt.

Nicht der Protest der Burschenschaftler war falsch, sondern die Wahl der Mittel. So kam es zu noch schärferer Unterdrückung, und die führte zunächst zur (gescheiterten) deutschen Revolution von 1848 und dann zu mancherlei Fehlentwicklungen. Je nach Standpunkt, kann man die deutschen Einigungen von 1871 und 1990 dazu rechnen.

Nur: Auch wenn die Burschenschaftler sich auf Luther beriefen, Luther war nicht der Grund des Protestes. Auch wenn die Nazis Bücher verbrannt haben wie Luther und die Burschenschaftler, so hatten sie doch ganz andere Ziele.

Auch als guter Katholik kann man heute vieles, was Luther in seiner Zeit an der Kirche auszusetzen hatte, auch für falsch halten.

Wenn dir das, was ich geschrieben habe, auch sonderbar vorkommt, brauchst du mich deshalb noch nicht beim Geheimdienst zu melden, der liest sowieso schon mit.**

*Wörtlich zitiert: "Dort wo man Bücher verbrennt, // verbrennt man auch am Ende Menschen." - Almansor, Vers 243f (sieh: Wikiquote)
**Mitlesen ist weit besser als zensieren und der Öffentlichkeit vorenthalten. Manches Vorgehen gegen Whistleblower ist freilich noch schlimmer als Zensur. - Dass noch mehr mitgelesen und entschlüsselt wird, als der Normalbürger annahm, hätte man sich denken sollen. Das Schlimme ist die Verharmlosung durch die deutsche Bundesregierung und die Behandlung von Whistleblowern in den USA. Wenn man Snowden verspricht, ihn weder zu foltern noch zu töten, so ist das, nach dem, was man Manning angetan hat, eher eine Drohung als irgend etwas anderes. Zwar werde ich weder Obama als Befürworter von Folter und Putin als Demokraten bezeichnen, doch dass 2013 Obama das Foltern zulässt und Putin einen Demokraten aus den USA vor seinen Verfolgern schützt, das hätte ich bei Obamas Wahl 2008 nicht für möglich gehalten.

Wenn man das, was in und um Syrien alles geschieht so ausführlich kommentieren würde wie Merkels Halskette und Steinbrücks Stinkefinger, so würde das niemandem helfen, diese Vorgänge zu verstehen.
Die Medienberichte vernebeln das, worum es im Wahlkampf geht, wo möglich, noch besser als die Wahlprogramme der Parteien.

9.9.13

Schülererfahrungen mit Lehrern und Schule

Die SZ hat Schüler darüber reden lassen (9.9.13) und trotz teils problematischer Diskussionslenkung interessante Ergebnisse zu präsentieren. 
Bezeichnenderweise hatte keiner Erfahrung mit LdL.

Und zur Frage nach dem deutschen Bildungssystem* kommt von Georg Veile** die Antwort:
Ich habe in der vierten Klasse eine Hauptschulempfehlung bekommen. Obwohl ich den Notenschnitt fürs Gymnasium gehabt hätte, waren die Lehrer der Meinung, ich hätte eine Sprachbehinderung und würde das Gymnasium nie packen. Ich hab mich gewehrt und bin auf die Realschule gegangen. Dort hatte ich einen Lehrer, der mich extrem gefördert hat - und zwei Jahre später habe ich bei "Jugend forscht" gewonnen.
Offenbar spielen Personen eine sehr wichtige Rolle, manchmal wichtiger als die des richtigen Schulsystems.*** 
Und doch ist für die Mehrzahl das Schulsystem entscheidend. 

*Das deutsche Bildungssystem gilt als eines der ungerechtesten in Europa. Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? 
**Georg Veile, 20 Jahre, holt nach einer Lehre zum Bankkaufmann am Technischen Gymnasium in Aalen (Baden-Württemberg) das Abitur nach. Würde als Rektor an seiner Schule Hitzefrei einführen – das gibt es an beruflichen Gymnasien nicht.
***"Und wir hatten damals auch Hilfe: einen Nachbarn, der hat Sozialpädagogik studiert und uns unterstützt. Auch mit seiner Hilfe bin ich in der Zehnten aufs Gymnasium gewechselt. Ich wüsste nicht, wo ich ohne ihn heute stünde."

mehr zur Bildungsrecherche der SZ

In diesem Kontext verweise ich auf die gegenwärtig in der Bloggerszene geführte Diskussion zur
Gestaltung von Lernprozessen

6.9.13

Die neue Schere

Die Schere zwischen Arm und Reich mit ihren gefährlichen gesellschaftlichen Folgen ist bekannt. Wir tun uns freilich schwer damit, sie zu schließen.
Eine zweite Schere hat sich aufgetan, vor der viele Betriebe noch die Augen verschließen. Die Schere zwischen den Ansprüchen der Betriebe und der Bereitschaft und den Fähigkeiten der Arbeitnehmer. Das zeigt sich besonders bei den Hochqualifizierten und den Minderqualifizierten.

Das ist mein Thema beim Corporate Learning Camp in Frankfurt am 27./28.9.13 (#clc13)
(Zur Erläuterung von Barcamp sieh: Barcamp als Wundertütenkonferenz von Katja)

Die Hochqualifizierten sind immer häufiger nicht bereit, den Druck eines Managements hinzunehmen, dem sie nicht die nötige Kompetenz zutrauen. Wenn bei unübersichtlichen Problemlösungen  von vorn herein eine Zeitvereinbarung getroffen werden soll, verweigern sie sich immer öfter.* Wo das nicht geschieht, kommt es leicht zu Flops wie bei Toll Collect, wo das Management völlig unrealistische Zeitvorgaben akzeptierte, weil es den Mitarbeitern keinen Spielraum zu Widerspruch ließ. (Der Streitwert des noch andauernden Verfahrens liegt bei rund sieben Milliarden Euro.)
Die Schere zeigt sich bei Minderqualifizierten, seit der Fachkräftemangel so groß geworden ist, dass sich Betriebe nicht mehr leisten können, alle, die den hohen Anforderungen noch nicht gerecht werden, in die Arbeitslosigkeit abzuschieben. Dazu heißt es in der Süddeutschen Zeitung:
Dass Schulabgänger ohne Qualifizierenden Hauptschulabschluss gar nicht eingeladen werden, ist längst Vergangenheit. Der Fachkräftemangel lässt  [den Pokuristen] Turm auch über Unpünktlichkeit, penetrantes Duzen und Widerworte hinwegsehen - anfangs zumindest. Ausbilder müssten die Erziehungsleistung übernehmen und den Jugendlichen Respekt vor Vorgesetzten und richtiges Benehmen erst beibringen, sagt Turm. Dann funktioniere auch die Zusammenarbeit. Betriebe und Berufsschulen müssten auffangen, was in der Erziehung verpasst wurde. (SZ vom 6.9.13)
 Die Lösung wird oft in Nachqualifizierung gesehen, die über selbständiges Lernen der Mitarbeiter geschehen soll. Im Fall der Hochqualifizierten wird das nicht funktionieren, weil die sich ohnehin selbständig qualifizieren. Da ist wohl eher eine Umstellung des Managements erforderlich. Bei den Minderqualifizierten wird mehr gebraucht als ein offenes Angebot.
Im Fall eines Schülers mit gescheitertem Hauptschulabschluss (Durchschnittsnote 5) half ein Sonderkurs, der ihn zum Hauptschulabschluss mit 1 qualifizierte, berichtet die Süddeutsche: "Gerade schwierige Schüler würden engagierte Mitarbeiter, wenn sie eine Chance bekommen."

Der Fachkräftemangel steigt. Wie kann man darauf reagieren?

Das Problem hat Gunter Dueck aus einer etwas anderen Perspektive formuliert.

Um nur kurz anzudeuten, weshalb Dueck m.E. das Problem etwas zu blauäugig aus Arbeitgebersicht sieht,
ein Beispiel aus dem Bereich öffentliche Schulen:
Durch PISA erfuhr man, dass Finnland weit besser abschnitt als Deutschland. Außerdem, dass in Finnland hoher Wert darauf gelegt wird, Schüler und Lehrer nicht durch enge Anforderungen zu gängeln, sondern ihnen für Lernen und Lehren viel Freiraum zuzugestehen.
Die Reaktion der Schulverwaltungen war u.a., länderweite Vergleichstests für 3.-Klässler mit genauen Vorgaben zur Auswertung durch die Lehrer zu erstellen. (Anderes lasse ich unerwähnt.)
Das ist ein sehr problematisches Verhalten des Lerncoaches Schulverwaltung.
Nun aber meldet sich ein anderer: die kritische Öffentlichkeit fordert von den Lehrern, sie sollten ihre Macht nutzen und die Regelungen der Schulverwaltung außer Acht lassen.
Irgendwie scheint mir da bei manchen die Botschaft vom selbstbestimmten Lernen in den falschen Hals gekommen zu sein.

Anmerkungen:
*Bei der Vorausschätzung der Arbeitszeit für Projekte verschätzen sich Softwareentwickler zwischen 50 und 500 Prozent.  (vgl.  Positionspapier von Björn Schotte zum Management 2.0 MOOC.)
Nach Kahnemann (Schnelles Denken, langsames Denken, 2012) sind diese Schätzfehler aus der Innensicht darauf zurückzuführen, dass die Beteiligten nicht voraussehen können, welche Störungen auftreten können, weil alle in sich sehr unwahrscheinlich sind, aber erfahrungsgemäß die Wahrscheinlichkeit, dass irgendeine größere Störung auftritt, sehr hoch ist. Die Außensicht betrachtet vergleichbare Fälle und die Zeiten, die für sich für diese ergaben. (S.305/06)

4.9.13

Ist Merkel marktkonform und alternativlos?

"Marktkonforme" Demokratie und "alternativlose" Bankenrettungen sind die zwei Begriffe, mit denen Angela Merkel meiner Meinung nach sehr präzis beschrieben hat, wie sie den Stellenwert ihrer Politik im Kontext von Gesellschaft und Wirtschaft sieht.
Wie nach Lenin die Gewerkschaften der Transmissionsriemen der Politik zur Masse der Werktätigen sein sollten, so versteht sie sich offenbar als Transmissionsriemen, der Forderungen "der" Wirtschaft (will sagen: der mächtigsten* Konzerne) möglichst effektiv umsetzt und Reibungsverluste, die durch Bedenken in der Bevölkerung entstehen könnten, verhindert.

Carolin Emcke hat nun mit Hilfe einer Sprachuntersuchung von ca. 2800 im Internet greifbarer Äußerungen Merkels herausgearbeitet, dass sie das Aufkommen von Widerspruch und Bedenken vor allem durch Unschärfe erreicht.
Emcke formuliert "Merkels Sprache arbeitet mit einer permanenten Immunisierung gegen [...] jeden Zweifel" und weist darauf hin, dass sie damit ihre rhetorische Forderung nach "Freiheit in Verantwortung" durch ständiges Weichspülen aller Kontroversen und die Unterstellung, all ihre Entscheidungen seien "alternativlos" als Worthülse entlarvt.

Meine Antwort auf die Titelfrage lautet also: Merkel ist marktkonform, aber nicht alternativlos.
Das gilt m.E. sogar innerhalb der CDU. Doch so lange sie noch Wahlen gewinnt, wird das kein CDU-Mitglied zugeben.

Um den Appetit auf Carolin Emckes Beitrag noch etwas zu steigern, hier noch zwei Zitate.
Das erste stammt von Angela Merkel und bezieht sich auf die Frage, ob sie das Entstehen einer nationalistischen Bewegung befürchte.
Merkel:  "Wir befinden uns in einem sehr komplizierten Prozess, in dem viele Menschen daran zweifeln, dass alles ein gutes Ende nehmen wird. In solchen Momenten wird die Sehnsucht nach einfachen kurzen Lösungen groß. Die aber gibt es nicht, sondern nur einen Prozess aufeinanderfolgender Maßnahmen."
 Carolin Emcke dazu:  "Angela Merkel weiß [die] Duldung der Beherrschten durch eloquente Dethematisierung kontroverser Themen zu erzielen."

 Spannend ist auch, was Emcke über Merkels Verwendung des Wortes "spannend" zu sagen weiß.

*Mir ist klar, dass meine Aussage, Merkel orientiere sich an den "mächtigsten Konzernen" ihrerseits unter Unschärfe leidet. Natürlich liegt das an fehlendem Insiderwissen. Ich weiß nicht, wer den größten Einfluss auf Merkel hat. Schwerlich weiß sie es selbst.
Etwas präziser wird die Aussage aber, wenn man festhält, dass die Konzerne mit der mächtigsten Lobby, nicht die mit der größten Bilanzsumme, gemeint sind. Dabei dürfte es klar sein, dass es nicht um Bestechung geht. Angela Merkel besticht man nicht mit Geld und nicht mit Jobs. (Darin unterscheidet sie sich meiner Überzeugung nach von manchem anderen Politiker.) Mächtig wird eine Lobby aber durch Definitionsmacht. Wenn es gelingt, Merkel etwas als wirtschaftlich alternativlos darzustellen, dann wird sie dem folgen.
Insofern dürfte Josef Ackermann lange Zeit einer der mächtigsten Lobbyisten in Berlin gewesen sein, wenn nicht der mächtigste. Beim Umgang mit der Eurokrise orientiert sie sich gewiss an ihrem Beraterstab, doch werden der und sie bestimmt wesentlich durch Experten aus Bankenkreisen beeinflusst. (Es gibt dafür eine ganze Reihe von Hinweisen, die durch die Presse gegangen sind.)
Genauer kann ich nicht bestimmen, was die mächtigsten Vertreter der Wirtschaft sind.

2.9.13

Merkel gibt Missstände zu und wirbt damit um Vertrauen

Ich habe nicht gezählt, wie oft Angela Merkel im gestrigen Doppelinterview mit Peer Steinbrück erklärt hat, dass die gegenwärtige Situation alles andere als befriedigend sei und dass "wir" deshalb weiter daran arbeiten "müssen". Aber es war ihre durchgängige Verteidigungsstrategie.
Selbst der Hinweis darauf, dass Horst Seehofer schon jetzt eine Koalition ausgeschlossen hat, wenn Merkel sich nicht seinen Vorstellungen fügt, brachte sie nicht davon ab, weiter zu behaupten, dass die schwarz-gelbe Koalition die bestmögliche sei, auch wenn sie erkennbar mit einer Großen Koalition liebäugelte und das schon deswegen, weil Steinbrück sie für sich ausschloss. - Wenn die Union erst einmal genügend Stimmen bekommen habe, werde man ja schon sehen, wie die Koalitionsverhandlungen mit der CSU laufen würden.

Steinbrück wirkte durchweg informiert, hatte eine große Zahl von Argumenten, auf die Merkel nur mit ihrer Standardantwort "wir müssen noch daran arbeiten" reagierte. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie deshalb beunruhigt wäre. Unbesorgt gesteht sie ihre Unwissenheit zu. Wer wird von einer schwäbischen Hausfrau schon erwarten, dass sie über amerikanische Geheimdienste Bescheid weiß oder gar von einer Physikerin, dass sie etwas davon versteht, wie das Internet funktioniert.

Dennoch hörte man auch von Merkel Klartext:

  • Wir werden den Arbeitnehmern helfen, in dem wir die Arbeitgeber "ermuntern zu Reformen".
  • Jeder muss von seiner Arbeit leben können, doch die Bundesregierung wird sich da nicht einmischen.
  • Jeder, der sich ungerecht behandelt fühlt, kann das bei der Bundesregierung melden. 

Zwar gibt es viele Missstände, doch die Bundesregierung wird nicht mehr tun, als andere dazu aufzufordern, sie abzustellen. Dafür dass sie das tun kann, bittet Angela Merkel um zwei Stimmen für ihre Partei.

Wer das "Duell" als Boxkampf sehen wollte, sah eine Titelverteidigerin mit schier unendlichen Nehmerqualitäten.
Wer es als Show sehen wollte, sah Stefan Raab als Sieger.
Wer das Interview als politische Veranstaltung gesehen hat, sah die Medienberichterstattung über den Fettnäpfchenkönig Steinbrück durch diesen widerlegt. Doch Informationen waren ziemlich rar: Merkel ist gegen die Pkw-Maut, Seehofer dafür. Steinbrück ist für einen allgemeinen Mindestlohn, Merkel dagegen.
Wer sich kurz und knapp darüber informieren lassen will, welche Partei am meisten mit seinen eigenen Vorstellungen übereinstimmt, kann das beim Wahl-O-Mat tun.
Wer mehr Zeit hat, kann nachlesen bei CDU, SPD, Grünen, FDP, Piratenpartei, die Linke oder gleich alle bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg verlinkten Wahlprogramme nachlesen.

Wer die gegenwärtige Bundesregierung als die erfolgreichste der Geschichte der Bundesrepublik angesehen hat, wird sich von diesem Doppelinterview nicht beirren lassen. Warum auch?

Nachbetrachtung zum Doppelinterview von Internet-Law, 2.9.13