dass ich besser auswählen kann, was man wissen soll (!) und was nicht. Weil ich über Jahre diese Themen studiert, über sie geschrieben, geredet und gestritten habe."
So formuliert Bob Blume in einem lesenswerten Text über den gegenwärtigen Bildungsdiskurs im Internet.
Brauchen wir einen literarischen Kanon? (Und: Schullektüren, Lesebücher.) fragt Herr Rau in seinem Lehrerzimmer.
Lesenswert sind auch die Kommentare dazu.
Zitat aus meinem Kommentar (ein klein wenig stilistisch verbessert):
"Lesebücher halte ich für so wichtig, weil die großartige „Rede des toten Christus“ und die „allmähliche Verfertigung des Gedankens“, die m.E. genauso zum Kanon gehören wie „Der Mond ist aufgegangen“ „Erlkönig“ und „Es war, als …“, sonst der Zufälligkeit des Interesses von einzelnen Deutschlehrern ausgeliefert wären.
Natürlich entsteht ein Kanon nur durch Gebrauch und davon reden, nicht durch Vorschriften.Zum Glück gibt es noch Schulnamen, so dass wenigstens an diesen Schulen das eine oder andere Werk des Schulnamensdichters (in Ausschnitten) bekannt wird. – Mir unvergesslich, wie bei einer Lesung des lyrischen und dramatischen Werks eines nicht unbekannten Dichters (irgendetwas zwischen 48 und 90 Stunden) eine Sechstklässlerin als einzige das Metrum des „Reineke Fuchs“ deutlich zu Gehör brachte (Erwachsene scheiterten daran). Natürlich gehört „Reineke Fuchs“ nicht zum Kanon; aber dass dieser Dichter nicht nur im zweiten Teil seines dem Namen nach bekanntesten Werkes mit dem jambischen Trimeter antike Versmaße verwendete, das sollte … " (Da es Suchmaschinen gibt, lasse ich zunächst die zugehörigen Links fort.)
Auf jeden Fall ist der Artikel von Herrn Rau sehr lesenswert und für die meisten Leser dürfte auch das, was dort gesagt ist, ausreichen, um sich eine gut begründete Meinung zu bilden. Mich drängt es aber dazu, am Beispiel von Shakespeare und J.S. Bach auf die Geschichte der Kanonbildung einzugehen.
Die Formulierung eines Kanons bedeutet immer ein Werturteil, und Werturteile bewähren sich nur im kritischen Diskurs (hier brauche ich ein Link, um anzudeuten, dass es um mehr als nur eine Unterhaltung geht).
Shakespeare und J.S. Bach waren zu ihrer Zeit Mode. Dass sie aber heute weltweit zu den bedeutendsten Vertretern ihrer Kunst gezählt werden, hat sich erst durch einen Diskurs Generationen nach ihrem Tod herausgebildet.
Lessing hat den zu seiner Zeit in Deutschland gültigen literarischen Kanon in seinem 17. Literaturbrief mit einem klaren "Ich bin dieser Niemand" in Frage gestellt und - letztendlich sehr erfolgreich - Shakespeare als Gegenbild herausgestellt. Die Weimarer Klassik ist ohne die Hinwendung zum Vorbild Shakespeare nicht denkbar (so sehr sie sich auch von ihm weg entwickelt hat).
J.S. Bach war durch seinen Sohn Carl Philipp Emanuel wegen dessen Epoche machenden Neuerungen, die die Wiener Klassik vorbereiteten, in den Schatten gestellt worden. Es bedurfte des J.S. Bach Revivals des 19. Jahrhunderts, um für das 20. und 21. Jahrhundert weltweit deutlich zu machen, dass Bach durch seinen Sohn nur abgelöst, nicht übertroffen worden war.
Was wäre von Georg Büchner noch überliefert, wenn er nicht für den literarischen Kanon entdeckt worden wäre? [dazu sieh Ph. Wampflers Gegenkanon*]
Nicht zufällig habe ich Shakespeare und J.S. Bach als Beispiele für die Bedeutung der Kanonbildung herausgestellt; denn für diese beiden gilt - zumindest meiner Ansicht nach -, dass sie nicht "Zwerge auf den Schultern von Riesen" waren (so sehr sie auf der Überlieferung und den hervorragenden Werken ihrer Zeit aufbauten). Sie waren selber Riesen, und uns wäre Entscheidendes verloren gegangen, wenn wir nur die (großartigen, unsterblichen und was man sonst zum Lob der Künstler nach diesen beiden anführen mag) Werke, die auf sie folgten, angewiesen wären.
So viel schon habe ich geschrieben und noch nichts dazu gesagt, weshalb man die „Rede des toten Christus“ und die „allmähliche Verfertigung des Gedankens ...“ kennen sollte, obwohl sie beide nicht von Shakespeare oder einem der deutschen Klassiker stammen.
Vorerst schreibe ich auch noch nichts dazu, sondern wende mich meinem Tagewerk zu, nicht ohne ein kleines Gedicht anzuführen:
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.“
Auch das verdient meiner Meinung nach, dem literarischen Kanon anzugehören. Und dazu braucht es meiner Meinung nach Lesebücher oder einen elektronischen Ersatz dafür. (Mehr zu Lesebüchern hier.)
Ergänzung am 24.5.:
Immer wieder gibt es Versuche, eine Kanonbildung zu unterstützen. Die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher (und die Folgeaktivitäten) gehörten dazu, Marcel Reich-Ranickis Kanon, auch Die Lieblingsgedichte der Deutschen. Außerdem der ZEIT-Schülerbibliotheks-Kanon (und daraus z.B. Georg Büchner: Lenz, Leonce und Lena, Dantons Tod, Friedrich Dürrenmatt: Besuch der alten Dame, Jurek Becker: Jakob der Lügner, Georg Christoph Lichtenberg: Aphorismen, Hermann Bote: Till Eulenspiegel).
Die Beteiligung an der Umfrage zum Lyrikprojekt und die Auflagen der beiden erstgenannten zeugen von einem Interesse an einem Kanon und davon, dass er nicht staatlich verordnet sein muss, um wirksam zu werden.
Auch Lektürelisten von Universitäten oder Deutschlehrern (Beispiel von 1960 für eine 9. Klasse) helfen dabei.
Mehr zu der Bildung eines literarischen Kanons:
Hermann Korte: Grundzüge der Literaturdidaktik (ein Hinweis von Ph. Wampfler)
Philippe Wampflers Gegenkanon
*Büchner war als Schüler an der Bildung eines Gegenkanons beteiligt, wenn er mit seinen Freunden über Goethe und Schiller sprach statt über Homer und Horaz, wie seine Lehrer es von ihnen erwarteten.
Dieser Text wurde auf Fontanefans Schnipsel entworfen.
Texte, die m.E. zu Unrecht in Vergessenheit zu geraten drohen:
Über das Marionettentheater
Campagne in Frankreich 1792