23.2.18

Plädoyer für ...

"Unter unseren Schulbüchern war eines, das sich, obgleich von außen so nüchtern und drohend sachlich wie nur irgend ein Leitfaden und Grundriß, durch eine schöne Menschenfreundlichkeit und Zugänglichkeit des Inhalts vor allen anderen hervortat. [...]

Dieses Buch, dass eine zartere und gütigere Hand, als die sonst waltende den vorgeschriebenen Lehrmitteln hinzugefügt haben mußte, hieß einfach das Deutsche Lesebuch. Es war uns gegeben einzig und allein zu dem Zweck, damit wir die Sprache, unsere Muttersprache anschauten – oder vielmehr, damit wir sie belauschten, wie sie sich lächelnd selber anschaut im Gedicht." (Thomas Mann in "Chamisso", Einleitung in "Peter Schlemihls wundersame Geschichte", 1911)

Ich weiß, weshalb man Ganzschriften lesen sollte, und heute, wo das Internet zu kurzen Aufmerksamkeitsspannen erzieht, das Smartphone, was das Lesen betrifft, sogar besonders stark, da gelten diese Argumente sogar doppelt. 
Aber wie viele gute Texte haben als Ganzschrift angeboten schon viele Schüler verschreckt (Effi, das Biest; der "schlimme" Text Die Wahlverwandtschaften ...) und wie viele Texte werden in der Schule gar nicht mehr gelesen werden, weil über Ganzschriften dafür keine Zeit bleibt.

Wer von uns hat Musils Der Mann ohne Eigenschaften schon vollständig (samt Nachwortentwurf u.a.) durchgelesen? Und wie interessant ist doch der erste Absatz!

Wann kommt die Gelegenheit für Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei?  Dabei bietet schon allein die Überschrift viel Anlass zur  Reflexion. Aber die Ganzschrift Siebenkäs zu lesen wird man zu recht keinem Schüler zumuten wollen.
Können wir wirklich auf Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden verzichten?
Natürlich können wir im Deutschunterricht nicht den vollständigen Roman Don Quijote lesen, aber können wir uns damit zufrieden geben, dass nur die Redensart "Kampf gegen Windmühlen" bekannt ist, wenn schon ein Ausschnitt aus einem Kapitel  einen Eindruck  vom Witz dieses Werkes vermittelt, der eine Anregung für spätere Lektüre bedeuten kann?

Wenn wir schon kein gedrucktes Lesebuch mehr haben, so sollten wir zumindest in elektronischer Form die wichtigsten Kurztexte, die im Curriculum nicht mehr vorkommen, bereitstellen. 

3 Kommentare:

Hauptschulblues hat gesagt…

Hauptschulblues hat vor Jahren erst das excellente Hörspiel, von Bayern 2 produziert, gehört: https://www.br.de/service/suche/index.html?query=der+mann+ohne+eigenschaften
Darauf hin fiel das Lesen des Buches sehr leicht und war genussvoll.

Walter Böhme hat gesagt…

Besten Dank! Ich habe es gleich im ZUM-Wiki-Artikel verlinkt.

Herr Rau hat gesagt…

Aber ja, unbedingt. Ich möchte auch mit Lesebüchern arbeiten, das passt zu mir und meinem Unterricht und meinen Vorstellungen vom Lernen; vielleicht geht das in Zukunft wieder, wenn Schüler und Schülerinnen Texte am Computer lesen können. (In der Schule? Zu Hause? Mit angemessenem Gerät?)