13.8.22

Wieder einmal Literaturkanon

 Der/ein Herausgeber der FAZ Jürgen Kaube begründet die Streichung des "Faust" aus der Liste der verpflichtenden Ganzschriften im bayerischen Lehrplan damit, dass viel zu wenige Ganzschriften gelesen würden: "Die Festlegung auf fünf Ganzschriften geht aber nicht nur mit Übungsrückständen einher. Sie erzeugt auch unlösbare Pro­bleme der Auswahl." (Kaube in der FAZ vom 6.8.22)

Kaube streitet somit ab, dass ein Kanon eine Auswahlhilfe darstellt. Weiter schreibt er:

"Eine sehr deutsche Lösung dieses Problems ist es, einzelnen Werken die gesamte Last aufzuladen, den Kanon zu repräsentieren. Das bringt erneut den „Faust“ ins Spiel. Er ist die eiserne Ration der Lehrplankonstrukteure. Wenn fast nichts gelesen wird, so lautet die Devise, dann wenigstens er (oder „Nathan der Weise“)."

Außerdem schreibt er: "Welchen Sinn sollte es überhaupt haben, Literatur in Auszügen zu lesen?"

Damit tut er so, als wäre die Kenntnis eines einzelnen Aphorismus von Lichtenberg nicht sinnvoll, nur weil man nicht alle Aphorismen gelesen hat, die Kenntnis von Jean Pauls "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei" sinnlos, wenn man nicht den vollständigen Roman Siebenkäs liest. Die Engstirnigkeit von Mitgliedern der deutschen Elite möchte ich beklagen und weiß doch, dass ich mir als Abiturient noch vorgenommen hatte "die deutsche Literatur" kennenzulernen. Kaube tut so, als hätte er immer noch diesen jugendlichen Größenwahn und es wäre sinnvoll, ihn an deutschen Schulen auszuleben. 

Ich zitiere notgedrungen (?) aus einem meiner Artikel zu diesem Thema aus dem Jahr 2018:

"Warum den ganzen Ulysses, und Ilias und Odyssee,  wenn dafür (über dem Fetisch 25% der Titel für jeden "Wissens"-bereich) ungezählte Kulturen unterdrückt werden. Warum nicht ein einziges Haiku, kein Ghasel, nicht wenigstens eine Erzählung (wenn schon kein Roman) von Tolstoi oder Dostojewski? Kann es wirklich sein, dass er Jung Chang als einzige chinesische Stimme zu Wort kommen lässt, von Indien zu schweigen?

Doch mit Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus trifft er eine subjektive Vorliebe von mir so gut, dass ich mich wieder freue über die so subjektive Auswahl. 
Denn der Sinn eines solchen Kanons ist ja der, dass man sich darüber streitet."

Gerade weil Schüler möglichst vielseitig angeregt werden sollten, braucht es einen fortlaufend diskutierten und danach erneuerten Kanon.
Büchner wurde noch vorgeworfen, dass er statt der Klassiker des Altertums die tagesaktuellen Dichter Goethe und Schiller las. Das sollten wir nicht so fortsetzen. 

Hier meine bisherigen Äußerungen dazu auf diesem Blog.


9.8.22

Lehrermangel aus anderer Perspektive

"[...] Immer mehr Lehrerinnen und Lehrer arbeiten in Teilzeit oder denken darüber nach, Teilzeit zu beantragen. bpv-Vorsitzender Michael Schwägerl erklärt: „In den Lehrerzimmern schlummert eine „stille Reserve“ an Lehrpersonal. Es arbeitet in Teilzeit und wäre unter den richtigen Be­dingungen bereit, Stunden aufzustocken. Mit unserer Umfrage wollen wir herausfinden, was sich dafür ändern müsste. Bei einer ersten Durchsicht der Ergebnisse fällt auf: In Hinblick auf die Planbarkeit des Einsatzes und damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat sich an den Schulen vor Ort bereits vieles getan. Die am häufigsten genannten Motive, nicht aufzu­stocken und mehr zu arbeiten, sind anderer Natur.“

Weit über die Hälfte der Lehrkräfte in Teilzeit geben zusätzliche Organisations- und Verwal­tungsaufgaben sowie eine Vielzahl schulischer Termine außerhalb des Unterrichts als Hinde­rungsgründe an. Dazu kommen der Korrekturaufwand, auch aufgrund nachgeholter Leistungs­nachweise, und Vertretungen. Beides hat im vergangenen Schuljahr aufgrund von häufigen und lang andauernden Fehlzeiten deutlich zugenommen. Schwägerl erläutert: „Klarer könnte das Ergebnis nicht sein: Die Kolleginnen und Kollegen wollen unterrichten und möchten dafür ausreichend Zeit haben. Zusätzliche Projekte an den Schulen, geforderte Konzepte, die exter­ne Evaluation, Fachsitzungen, Schulveranstaltungen, Dienstbesprechungen – je mehr gesell­schaftliche und bildungspolitische Anliegen an die Schulen herangetragen werden, desto mehr gerät das Kerngeschäft des Unterrichtens in den Hintergrund. [...]"

 https://bildungsklick.de/schule/detail/lehrermangel-stille-reserve-aktivieren-erstes-ergebnis-einer-bpv-umfrage-mit-fast-5000-teilnehmern

Kommentare dazu auf Twitter:

PDrewes @FrauKreis: Das Bild des Lehrer, der vormittags unterrichtet und nachmittags die Stunden für den nächsten Tag vorbereitet, passt nicht zu einer Organisation des 21. Jahrhunderts. Meines Erachtens liegt der Hebel zur Veränderung eher in weniger Unterrichtsverpflichtung und mehr Teamzeit.

Jule lehrt NDS @Julelernt_lehrtEine seltsame Rechnung wird da aufgemacht, wer soll den die „Zusatzaufgaben“ übernehmen oder werden diese fallen gelassen. Gerade sie sind ja für Schulentwicklung wichtig und sollten lieber gestützt werden. Außerdem finde ich den Begriff „stille Reserve“ äußerst dubios

PDrewes @FrauKreis: Ja. Genau. Wir machen einfach keine Schul- und Unterrichtsentwicklung mehr. Traurige Belehranstalten.

Dazu:
Bob Blume, der neben der Schularbeit Bücher schreibt, mit seinem Blog ein beliebtes Lehrbuch verfasst und umfassende Öffentlichkeitsarbeit betreibt, schrieb zum Schuljahresende, er wollte etwas über die Überbelastung in der Coronazeit schreiben, aber dazu fehle ihm die Energie. Ein anderer Lehrerblogger, Herr Mess, schrieb über diese Belastung (und ergänzte, er habe vieles weggelassen, weil er es sonst nicht geschafft hätte). Er erntete begeisterte Zustimmung, nicht zuletzt von hoch Engagierten aus dem Twitterlehrerzimmer.
Die Mehrbelastung durch ständige Zusatzaufgaben und zusätzlich  fortlaufend wechselnde Vorschriften haben den meisten Kollegen, auch den motiviertesten, die Energie geraubt.
Wer Teilzeit arbeitet, erlebt, wieviel Zusatzaufgaben mit jeder Stunde Unterrichtszeit dazukommen und hütet sich, zu seinen häuslichen Aufgaben unkontrolliert zusätzliche Verpflichtungen zu übernehmen. 
Es wäre vielleicht wirklich ein Potenzial für mehr Unterricht da, aber nicht für mehr Pflichterfüllung im Coronachaos. 

8.8.22

Von Schülern organisierte Vorbereitung auf das Abitur (mit Lehrerbegleitung) und Arbeitshilfen für angehende Lehrpersonen

Methodos Startseite

Methodos Mitglieder und Lehrer*innen

Abinom Startseite

Kennengelernt habe ich diese von Schülern organisierte Vorbereitung aufs Abi

über einen Gastbeitrag bei Bob Blume von Nina Hanefeld und Schüler*innen, die bei Methodos oder Abinom lernen. (Beide Institutionen entstanden durch Teilung, kooperieren aber.)

5.8.22

De-Privatisierung von Unterricht eine Recherche von Jöran Muuß-Merholz

 https://www.joeran.de/deprivatisierung-von-unterricht/ 5.8.2022

Von der Empörung über Verachtung zum Hass? Über die Gefahren gesellschaftlicher Enthemmung

 Drei Twitterzitate als Ausgangspunkt:

"Ich bin die einzige, die eine Maske trägt. Die einzige von ca. 30 Leute im Laden. Die #Maskenpflicht fallen zu lassen war ein Ausbund falsch verpackter "FREIHEIT" und sowas von wissenschaftsfeindlich. Der Herbst wird noch so richtig "lustig"."

"Ich werde nie wieder Maske tragen! Ich werde nie wieder einen Test machen! Und vor allem: Werde ich mich nie wieder derart gängeln lassen wie die letzten 2,5 Jahre  Bin ein freier, selbstbestimmender Mensch, der am besten weiß, was wichtig & richtig ist #ichmachenichtmehrmit"

"Und Sie werden nie wieder auch nur einen Funken Verantwortungsgefühl für Ihre Mitmenschen aufbringen. "Humanität" ist aus Ihrem Wörterbuch gestrichen! Dafür habe ich nur eines: Verachtung." (Belege hier)

Empörung über den Fortfall der Maskenpflicht, Empörung über die Maskenpflicht und Verachtung für Nichtachtung der Ängste anderer.

Harry Nutt analysiert diese Entwicklung in folgendem Beitrag:

Lust an der Empörung v. Harry Nutt FR 5.8.22

"Wir machen mit im Karneval der Affekte, erschrecken aber, wenn uns aus den sozialen Medien Hass entgegenschlägt."

Nicht mehr sind "Erkenntnis und Aufklärung eine Richtschnur für politische Entscheidungen und soziales Handeln [...] Stattdessen kostümieren wir uns in den in rasantem Tempo einander ablösenden gesellschaftspolitischen Debatten für einen Karneval der Affekte, in dem die Gebote zu rationaler Begründung geringe Aussichten haben, befolgt zu werden."

Empörung wurde 2010 durch die Schrift "Empört euch!" der 93-jährigen Stéphane Hessel als positiver Affekt bezeichnet. Harry Nutt schreibt dazu:

 „Wir müssen radikal mit dem Rausch des Immer noch mehr brechen“, heißt es in Hessels Bestseller, „in dem die Finanzwelt, aber auch Wissenschaft und Technik die Flucht nach vorn angetreten haben.“ Es sei höchste Zeit, dass Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unsere Anliegen werden."

Das, was Hessel zu Recht gegen Handeln der eigenen Regierung gefordert hat, wurde 2018 mit steigendem Erfolg von Greta Thunberg gegen das Nicht-Handeln der Regierungen in aller Welt gefordert.

Im Zuge der Corona-Pandemie machten sich die Maßnahmenkritiker diesen Anspruch auf Empörung zu eigen, indem sie für sich Meinungsfreiheit und Recht auf passiven Widerstand forderten. Dazu kamen, wie Harry Nutt es formuliert "entfesselte Ausdrucksformen [...] die weitgehend ohne Etikette auskommen"  Das wiederum rief  auf der Seite derer, die die Regierungsmaßnahmen für angemessen oder sogar nicht energisch ansehen, entsprechende Reaktionen - jetzt aber nicht gegen die Regierung, sondern gegen Personen hervor.

Dabei entsteht immer die Gefahr, dass solche Enthemmung in Hass umschlägt. Von der "Verachtung" ist der Weg nicht mehr sehr weit. - Auf beiden Seiten. 


Zur Erinnerung: Hessel schrieb 2010: "Den jungen Menschen sage ich: Seht euch um, dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung sich lohnt." (S.15) (Greta Thunberg hat gefunden.)

Hessel: "Ich habe [...] bemerkt, wie die israelische Regierung reagiert, wenn die Bürger von Bil'in jeden Freitag gewaltlos*, ohne Steine zu werfen, an die Mauer gehen, die der Gegenstand des Protestes ist. Die israelischen Behörden haben diesen Marsch als 'gewaltlosen Terrorismus' charakterisiert." (S.19)

(Man beachte Freitagsdemonstationen, weil das der muslimische Feiertag ist. - *Die Proteste, die 2005 gewaltlos begannen, blieben es - auf beiden Seiten - nicht, nachdem israelisches Militär eingriff. - Hessel war Mitglied der Kommission, die ab 1946 - seit 1947  unter der Leitung von Eleanor Roosevelt eine allgemeine Erklärung der Menschenrechte ausarbeitete.)