3.1.12

Götz Aly über abhängig Beschäftigte und Rechtsterrorismus

Götz Aly ist ein verdienter und mutiger Historiker, der in der Frankfurter Rundschau vom 3.1.2012 sein verbrieftes Recht auf Meinungsfreiheit zu einem Kommentar nutzt. Er schreibt u.a.:
Anno 1907 arbeiteten von hundert städtischen Erwerbstätigen in Deutschland 4,5 Prozent der Protestanten und drei Prozent der Katholiken als Selbstständige, aber von den Juden wirtschafteten 37 Prozent auf eigene Rechnung und ohne einen Chef vor der Nase. Den Mehrheitsdeutschen fehlte es an Mut zur wirtschaftlichen Freiheit, oft auch an Geschick und Wissen. Auch deshalb erklärten sie (jüdische) Unternehmer zu Hassfiguren.
Solche Deutsche gibt es auch heute noch. Sie maulen vor sich hin: Risiko, nein danke! Staatshilfe, ja bitte! Ihnen macht Eigenverantwortung mehr Angst als Freude, sie empfinden Freiheit als Unbequemlichkeit, beneiden den unternehmerisch erfolgreichen Nachbarn, bevorzugen jedoch für sich selbst die abhängige Beschäftigung als die mit Abstand gemütlichste Lebensform. Hauptsache sie „wahren ihre Ansprüche“ auf Lohn-, Arbeitsplatz- und Rentengarantie, haben ihr Bierchen und ihr Kassler, wahlweise ihre Ökopastinaken und ihr leckeres Bioei.
Jeder kennt diese garantiert germanischen Urdeutschen, die allerorten in den Angestelltenetagen – zugleich meckernd, initiativarm und bequem – die gute Laune stören oder in steril gewordenen Universitätsinstituten, Behörden, quasi staatlichen Stiftungen oder Wohlfahrtsorganisationen vergessen, wer die Steuergelder erwirtschaftet, von denen sie leben. [...]
Nüchtern stellte die Industrie- und Handelskammer Berlin vergangene Woche fest: „Die Selbstständigkeit ist im Ausland häufig höher angesehen als in Deutschland.“ Sie wird sogar verachtet – und in dieser geistigen Brühe schwimmen unsere rechtsterroristischen Fische.
In Südengland habe ich es erlebt, dass eine Baugesellschaft mit nur 4 Angestellten innerhalb eines Jahres über 60 Häuser hochgezogen hat. Alle anderen dort Beschäftigten firmierten als selbständige Unternehmer, die sich ihre Aufträge suchen mussten.
Die Regelung, dass ein Asylbewerber nur dann einen Arbeitsplatz erhält, wenn kein Deutscher an dem Arbeitsplatz interessiert ist, führt dazu, dass viele Migranten als Selbständige arbeiten müssen.
Als Sozialdemokrat bin ich gegen solches Abdrängen in Scheinselbständigkeit und wehre mich gegen eine Verklärung solcher Zustände.
Götz Aly mag es von Talkshows gewöhnt sein, dass man nur mit überspitzten Thesen erreicht, wieder eingeladen zu werden. Ich gönne ihm das Geld, das er auf diese Art und Weise "selbständig" erwirtschaftet.
Dass er Personen, die für gewerkschaftliche Forderungen eintreten, Begünstigung des Rechtsterrorismus vorwirft, geht freilich entschieden zu weit. Seiner Sache erweist er damit einen Bärendienst.

Ich weiß, dass Götz sich bei diesen Hinweisen missverstanden fühlen wird. Er würde sich aber auch missverstanden fühlen, wenn ich darauf hinwiese, dass die Altenpflegerinnen bei der Arbeiterwohlfahrt nicht sinnvoll alle selbständige Pflegebetriebe aufmachen können und dass sie mehr von gesellschaftlich notwendiger Arbeit leisten als Mark Zuckerberg als Begründer von Facebook, der laut Aly im Unterschied zu ihnen, den schmarotzenden Geringverdienerinnen, "die Steuergelder erwirtschaftet, von denen sie leben".

Aus dem Leserbrief von Carsten Neumann, Frankfurt in der FR vom 6.1.12:
"Dabei ist ein Menschenbild, das den Mensch erst existieren lässt, wenn er Existenzgründer geworden ist, genauso unrealistisch, zynisch und verhängnisvoll wie der Glaube an die gerechte Macht der Märkte."

Die Formulierung wird Aly nicht unbedingt gerecht, aber in ihrer Überspitzung weist sie auf ein Problem hin, das in Alys Argumentationsweise steckt.

Keine Kommentare: