27.4.19

Bildung in Zeiten von Digitalisierung und Klimawandel

"Bildung ist Bildung ist Bildung ist Bildung." (Rose is a rose is a rose is a rose. - Gertrude Stein) habe ich - wenn auch nicht wörtlich - der Redeweise von "digitaler Bildung" oder "digitalisierter Bildung" entgegengehalten.
Jetzt haben mich Martin Lindner (Die Bildung und das Netz) und Axel Krommer (Der Bildungsdiskurs als Kippfigur) davon überzeugt, dass David Weinberger mit Small Pieces Loosely Joined” (2002) eine Veränderung der Bildungsbedingungen beschreibt, die eine solche Redeweise rechtfertigt.
Vorläufig lasse ich die Links als zureichende Begründung* meines Sinneswandels gelten, will aber später noch etwas mehr darüber hinzufügen, weshalb er mir berechtigt erscheint.

*Weshalb sehe ich in Links eine Rechtfertigung? Jedes Link verweist auf einen Begründungszusammenhang, der an und für sich einer ausführlicheren Erläuterung bedürfte. Aber der umfassende Schatz, den Allgemeinbildung früher zum Verständnis von Texten mit vielen unausgesprochenen Voraussetzungen beitrug, kann unter den Bedingungen der Internetkommunikation durch Links angedeutet und bis zu einem gewissen Grad ersetzt werden. Die drei unterschiedlichen Links, die ich zu Bildung gesetzt habe, können deutlich machen, wie weit der Bildungsbegriff inzwischen auch ohne die Redeweise von "digitalisierter Bildung" aufgefächert ist und inwiefern Bildung eben nicht Bildung, aber doch Bildung ist. 
Dass Bildung durch die Wikipedia in anderer Weise granularisiert und zugänglich geworden ist als in gedruckten Enzyklopädien, macht der Artikel der englischsprachigen Wikipedia A rose is a rose is a rose is a rose deutlich, der voll von Verlinkungen ist und dabei unter anderem auf Gertrude Steins Bezug auf ein Shakespearezitat* verweist.
*Bemerkenswert, dass dieses Zitat aus "Romeo und Julia" erst ab dem 18. Jahrhundert in dieser Form überliefert worden ist und dass es offenbar außer in der englischen Wikipedia nur in Farsi und Zentralkurdisch ebenfalls einen Wikipediaartikel dazu gibt.

14.4.19

Von Gruppenarbeit, Leistungsbewertung und Plagiaten

Wissenschaftliche Arbeit besteht mehr und mehr in Zusammenarbeit.
Die "Fotografie" des (Schattens des) schwarzen Lochs bietet ein schönes Beispiel: Mehrere "Teleskope", zwischen denen ein Abstand von rund 10 000 km bestand, haben jeweils einen Teil zu dem "Foto" beigetragen. Die Auflösung eines einzigen Teleskops mit "nur" 50 m Durchmesser wäre dafür viel zu gering gewesen.
Natürlich ist nicht fotografiert worden, sondern es sind Daten ermittelt worden, die von mehreren Teams zusammengetragen wurden und dann von einem Team ausgewertet wurden, das mit einer Software arbeitete, die in Teamwork erstellt wurde.
Auch wer an einem großen Teil der Arbeitsvorgänge teilgenommen hat, wird im Normalfall nicht beurteilen können, wer die wichtigste Einzelleistung erbracht hat.
Freilich spricht viel dafür, dass die wesentlichste Einzelleistung der Entwurf der gesamten Konzeption ist. Meist schreibt man den wohl dem zu, der die Konzeption den Institutionen vorlegt, die die notwendigen Forschungsmittel zur Verfügung stellen.*

Beispiele zu Forschung, Lehre, Publikation und zur Beurteilung des Leistungsanteils:
Ein Professor verteilt Themen zu mehreren Seminararbeiten. Danach übernimmt er Argumentationen und Formulierungen daraus.
Ein Professor bespricht mit einer Person, die eine Doktorarbeit schreibt, dessen fortlaufende Arbeit und greift einen Teil dessen, was er sich in diesen Gesprächen erarbeitet hat, in einem Aufsatz auf.
Ein Professor führt in der Vorlesung vor, wie er Quellen interpretiert, danach verteilt er eine Reihe von Themen, zu deren Bearbeitung im wesentlichen diese Interpretationstechniken herangezogen werden müssen.
Ein Professor setzt eine von seinem Institut bezahlte Hilfskraft ein, um festgelegte Arbeitsschritte zu erledigen und dann ein Ergebnis zu formulieren.
Wer kann beurteilen, wie groß der Anteil der verschiedenen Personen am Endergebnis ist?

Mir unvergessen:
Beim wörtlichen Zitat wurde kein Hinweis auf das Urheberrecht am Zitat und kein Hinweis auf die Bearbeitung des Themas in einem Seminar gegeben.
Von den Arbeitsergebnissen der bezahlten Hilfskraft wurde kein Ergebnis irgendeines eines Arbeitsschritts verwertet, aber für ihre (angebliche) Mitarbeit an dem Buch wurde ihr dort gedankt.
Diese Hilfskraft war ich, und unvergessen ist mir auch die Bezeichnung "Lehramtskandidat", mit der ich genannt wurde, um klar zu machen, dass es nicht um eine "nur" studentische Hilfskraft ging.

Dagegen hatte ich, bevor ich es eben nachgelesen habe, nicht mehr im Kopf, dass ich in der Einleitung zu einer Quellensammlung zur Königserhebung, die ich herausgegeben habe, genau die Prinzipien der Behandlung des Themas wiedergegeben habe, die ich zuvor in Vorlesung und Seminar des Professors gelernt hatte, selbstverständlich (?), ohne sie als sein Gedankengut zu kennzeichnen, da ich ja erwähnt hatte, dass die Sammlung aus seiner Seminarübung hervorgegangen war. Heute gibt es da andere Vorstellungen von Plagiat.

Wie ist der Anteil von Greta Thunberg an der Entstehung der weltweiten Schülerstreiks zu bewerten?
Gewiss stammt die Konzeption der weltweiten Organisation nicht von ihr, aber auch nicht die publizistische Arbeit, die erforderlich war, dass ihr Schulstreik national und international so bekannt wurde, dass sie bei der Weltklimakonferenz und beim Weltwirtschaftsforum sprechen und ihre Initiative weltweit bekanntmachen konnte.
Andererseits ist aber schwer vorstellbar, dass ohne das vorbildhafte Praxisbeispiel einer 16-Jährigen der Gedanke eines Schülerstreiks hätte Fuß fassen können.
Dass sie monatelang Einzeltäterin war, unterscheidet sie von so viel beredteren Sprecherinnen der Gelbwestenproteste und der Klimaaktivisten.


* Im Fall des "Fotos" des schwarzen Lochs hat man freilich der 29-jährigen Katie Bouman eine wichtige Rolle bei der Erstellung der nötigen Software zugeschrieben und damit einen Shitstorm gegen sie ausgelöst. Ich nehme an, dass Andrew Chael ihre Leistung besser beurteilen kann als diejenigen, die sie jetzt angreifen. Ich selbst kann es natürlich nicht beurteilen. - Freilich könnte die Berühmtheit von Greta Thunberg begünstigt haben, dass man im Kontext mit dieser wissenschaftlichen Leistung eine Frau besonders herausgestellt hat. Katie Bouman ist freilich primär eine hochqualifizierte Wissenschaftlerin, nicht eine Aktivistin, die die Mehrzahl der Regierungen der Welt angreift. Bei ihr gilt wohl eher "Eine kluge Frau hat Millionen geborene Feinde: alle dummen Männer." (Marie von Ebner Eschenbach), während Greta angegriffen wird, weil sie den Leugnern des menschengemachten Anteils des Klimawandels das Leben etwas schwerer macht und 14-jährige Mädchen (Beispiel) dazu "verführt" hat, sich für Politik zu interessieren.

3.4.19

Notwendige Selbstkritik der Millenials?

Claudia Schumacher schreibt in der ZEIT selbstkritisch:

"[...] meine Generation, die sogenannten Millennials. Selbst erst zwischen Mitte 20 und Ende 30, sehen wir plötzlich alt aus. [...]
Wir waren zwar progressiv, lebten unsere Werte aber bescheiden im Privaten aus. Radikal waren wir nie, da war kein neuer Gesellschaftsentwurf, keine Vision. Und wenn die Welt dann doch mal verbessert werden sollte, dann meistens nur die eigene: Bei ein bisschen Nischenmusik setzte jeder in der Mietwohnung seine eigenen Akzente, fand seinen Stil auf Pinterest und plante schöne Hochzeiten mit acht Brautjungfern auf der eigens dafür eingerichteten Website. Achtsam entdeckten wir Millennials unseren Selbstwert: Kulturell hat die Menschheit uns das Selfie, den Selfie-Journalismus und ich-erzählerische Memoiren zu verdanken." (Sie lassen uns echt alt aussehen, ZEIT 3.4.19)

Diese Selbstkritik wäre freilich ungerecht. Denn ohne die KlimaaktivistInnen, die bereitstanden, als Greta Chancen hatte, weltweit gehört zu werden, hätte der Schülerstreik nicht organisiert werden können. Und das waren weitgehend Millenials "zwischen Mitte 20 und Ende 30", aber natürlich auch ungezählte Ältere aus früheren Generationen, die angeblich so unpolitisch waren. 

Aber Claudia Schumacher geht es letztlich nicht um Selbstkritik als fishing for compliments wie bei Wilhelm Busch, sondern um Aktivierung ihrer Generation. Deshalb schreibt sie weiter:


"Bisher verläuft der Protest friedlich. Wenn die mächtigen Babyboomer aber weiter so egoistisch handeln, Industrie, Landwirtschaft, Verkehr nicht härter regulieren, kaum fossile Energieträger einsparen – wenn also nichts passiert und die Zeit noch knapper wird, dann könnte sich der Widerstand radikalisieren. In ein paar Jahren sind die Klima-Kinder keine Kinder mehr.
Die Frage ist, ob die Millennials dann weiterhin mit ironischen Beobachtersprüchen auf der Couch rumlungern werden, gefangen in sich selbst und ihrer lustigen Social-Media-Ersatzwelt. Für Lösungen sind die Millennials, anders als die Kinder auf der Straße, schon jetzt alt genug. Wollen wir uns endlich einbringen, politisch handeln und zur Rettung schreiten? Oder wollen wir lieber bereits heute zum Establishment zählen und sitzen bleiben? So um die 30 käme man ja eigentlich noch mal hoch von der Couch. Wie man als Generation sein Schicksal in die Hand nimmt und vorgefertigte Nachrufe in den Wind schießt, lässt sich praktischerweise gerade von den Jüngeren lernen."
(Sie lassen uns echt alt aussehen, ZEIT 3/4.4.19)
Und in der Tat: Das Engagement von Greta Thunberg und den weltweit streikenden Schülern bliebe ohne Chance auf rechtzeitige Verhaltensänderung, wenn sich jetzt nicht alle Generationen angesprochen fühlten: Das kann so nicht weitergehen!

Deshalb heißt es in einem anderen Artikel derselben Ausgabe der ZEIT:
"Doch die Klimademos zeigen die enorme Kraft einer Generation, die einfach nicht lockerlassen will. Und auf lange Dauer, das lehrt der Blick in die Geschichte, kann in einer Demokratie nicht gegen die Straße regiert werden."
(Plötzlich Bewegung, ZEIT  3./4.4.19)

Es gibt noch einmal eine Chance.

Die Schülerstreiks sollen beendet werden!

"Die Klimaschutzproteste von Schülern müssen nach Worten von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) früher oder später ein Ende finden. Dass die Schüler in der Unterrichtszeit demonstrierten, bewerte er kritisch, sagte Kretschmann am Dienstag in Stuttgart."
„Vor allem kann das nicht ewig so weitergehen.“
https://www.welt.de/politik/deutschland/article191245663/Fridays-for-Future-Gruener-Kretschmann-hat-genug-von-den-Schulstreiks.html


Er hat Recht: Die Schülerstreiks sollen beendet werden!

Sie sollen aufhören, sobald die Regierungen zu ihren Versprechungen stehen und ernsthaft handeln. 

23 Jahre hat sich die internationale Staatengemeinschaft gemüht, ein internationales Klimaschutzabkommen zustande zu bringen.
2015 in Paris war es so weit: Es gab einen allgemeinen Beschluss mit konkreten Zusagen aller Länder, was sie dafür leisten wollen.
2017 aber traten die USA und Deutschland von ihren Verpflichtungen zurück.
Alle Klimaaktivisten waren der Überzeugung: "Das kann nicht so weitergehen!"

Aber es ging so weiter.

Dann fand Greta Thunberg eine neue Methode, der Forderung Ausdruck zu verleihen: einen Schulstreik. Sie hielt ihn monatelang durch, bis die Weltöffentlichkeit auf ihren Protest aufmerksam wurde.
Seit dem 15. März 2019 streiken weltweit Schüler, um ihrer Forderung Ausdruck zu verleihen:
Nicht Reden - das kann so nicht weitergehen -, sondern Handeln.

Je früher sie damit aufhören können, desto besser ist es für uns alle.