Bernhard Schlink hat in "Der Vorleser" eine Studie darüber geschrieben, wie die Scham davor, öffentlich zugeben zu müssen, gesellschaftlichen Standards nicht zu genügen, größer sein kann als die Scham, als Mörder zu gelten, und dass jemand bereit sein könnte, als Mörder verurteilt zu werden, nur um nicht als Analphabet erkannt zu werden.
Götz Aly verdanke ich den Hinweis, dass Hans-Dietrich Genscher, Hermann Lübbe und Peter Boenisch, Niklas Luhmann, Dieter Wellershoff, Martin Broszat, Horst Ehmke, Erich Loest und Siegfried Lenz offenbar in jungen Jahren in die NSDAP eingetreten sind.
Dass Günter Grass überzeugtes Mitglied des Jungvolks war, war schon allgemein bekannt, bevor er öffentlich darauf hinwies, dass er auch Mitglied der Waffen-SS war.
Dass die Aktenlage Jürgen Habermas, Walter Jens, Martin Walser, Erhard Eppler und Iring Fetscher als ehemalige NSDAP-Mitglieder ausweist, wusste ich schon länger. Teils haben sie bestritten, je davon gewusst zu haben. Dass sie sich schämen, NSDAP-Mitglied gewesen zu sein, darf man annehmen. Was Scham anrichten kann, haben Milgram und Schlink aufgezeigt.
Hilmar Hoffmann, der neuste "Fall", der bekannt geworden ist, hat sich offen dazu bekannt, dass ihm die Stimme Goebbels' "wie Seife rein" ging und dass er sich im Zusammenhang mit seinem Abitur entschlossen habe, die Mitgliedschaft in der NSDAP zu beantragen.
Götz Aly verdanke ich auch den Hinweis auf eine Äußerung Bernhard Schlinks, man müsse für eine differenzierte Beurteilung einer Person sie "auf dem Horizont ihrer Zeit" betrachten. In seinem Aufsatz "Die Kultur des Denunziatorischen" im Merkur führt Schlink dazu im Blick auf Personen aus den neuen Bundesländern weiter aus:
Es geht um Biographien, die eine differenzierte und nuancierte Betrachtung und eine moralische Bewertung im Horizont ihrer Zeit verdienen. Stattdessen wird der Blick darauf verengt, ob einer als Soldat an der Grenze eingesetzt war oder als inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit geführt wurde oder als Wissenschaftler ein »ideologisch kontaminiertes« Fach vertreten hat.
Im politischen Parteienstreit wurde Willy Brandt vorgeworfen, dass er unter Lebensgefahr aus Nazideutschland geflohen ist und dass er auf der Seite von Nazigegnern stand. Im Parteienstreit war auch der Hinweis auf eine uneheliche Geburt oder darauf, dass jemand homosexuell sei, eine gefährliche Waffe.
Auf dem Horizont unserer Zeit taugen solche Hinweise nur noch, um an nicht öffentlich zugegebene Vorurteile zu appellieren.
Das Urteil über eine Person und ihre Leistung für unsere Gesellschaft sollte sich an dem "Horizont ihrer Zeit" orientieren.
So wird man Carl Friedrich von Weizsäcker nach seinen Beiträgen zu beurteilen, die das Urteil über Atomwaffen geschärft und das deutsche Verhältnis zu Polen entschärft haben, nicht aber von der Tatsache her, dass er die Probleme der friedlichen Nutzung von Kernenergie völlig unterschätzt hat.
Zu diesen Fragen - nicht zuletzt zu Schlinks Aufsatz - gäbe es noch viel zu sagen. Vielleicht hole ich das noch nach. Schon jetzt darf ich Schlinks Aufsatz und noch mehr seinen Roman "Der Vorleser" sehr zur Lektüre empfehlen.
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