13.12.11

Interview mit dem Sozialhistoriker Jürgen Kocka über historische Krisen

"... das Lernen aus der Geschichte kann dysfunktional sein, hat jedenfalls seine Grenzen, denn bei aller Ähnlichkeit sich wiederholender kapitalistischer Krisen: In ihrem Kern geschehen sie unter immer neuen Bedingungen."
Viele Fragen, viele Antworten in dem Interview von Kocka mit dem Debattenmagazin Berliner Republik: Diese Krise ist ein Moment der Wahrheit. Eine Kurzinhaltsangabe des Interviews ist mir nicht möglich.
Bemerkenswert ist die Haltung zu den gegenwärtigen Problemlösungsversuchen, sie werden nicht als falsch oder richtig bezeichnet, sondern historisch eingeordnet und verglichen oder es wird ihre Vergleichbarkeit bestritten.

Kocka vertritt die Position, dass - historisch gesehen - aus großen Wirtschaftskrisen viel gelernt wurde, und belegt das am Beispiel der Weltwirtschaftskrise ab 1929 u.a. mit folgenden Hinweisen:

Zu nennen sind neue Rechte für die Gewerkschaften, die Einführung der Sozialversicherung und die Regulierung der Banken. Und man denke an John Maynard Keynes, der seine „General Theory of Employment, Interest and Money“ 1935 vollendete und 1936 publizierte. Es war vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise, dass er seine weitreichenden politischen Empfehlungen entwickelte, die im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts und erneut in der Gegenwart zur Grundlage der Wirtschaftspolitik in vielen Ländern wurden: ein struktureller Wandel und ein Stück Reform des Systems. Auch grundlegende Ideen wie Alfred Müller-Armacks „soziale Marktwirtschaft“ oder der stark koordinierte „Rheinische Kapitalismus“ der Bundesrepublik hatten ihren gedanklichen Ursprung in den Jahren der Weltwirtschaftskrise. Das waren produktive Reaktionen auf die Misere, die in diesem Sinne als Katalysator für die Reform des Kapitalismus dienten und strukturellen Wandel erzeugten oder doch beschleunigten.

Aus der gegenwärtigen Krise sei freilich noch kaum etwas gelernt worden. Es fehlten dafür die global wirksamen reformerischen Kräfte. Occupy Wallstreet z.B. sei zu schwach.

Auf die Eurokrise bezogen sagt er:
Die Krise deckt die großen ökonomischen, sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den Ländern der Eurozone auf, die durch die gemeinsame Währung nicht gemildert, sondern nur überdeckt und sogar – durch Fehlsteuerung – verschärft worden sind. Diese Krise ist insofern ein Moment der Wahrheit, in dem dramatisch eingefordert wird, was im Grunde seit Einführung des Euros bekannt war: dass die Entscheidung für die gemeinsame Währung Entscheidungen zur Harmonisierung von Finanz- und Wirtschaftspolitik nach sich ziehen muss und ohne solche Nachfolgeentscheidungen nicht dauerhaft sein kann.

In seinem folgenden Satz stammt die Hervorhebung von mir:
Dass die Zähmung der Schuldenpolitik und die anstehenden weiteren Koordinationsschritte zwischen den Ländern der Eurozone gelingen, ist nicht ausgemacht – obwohl solche Reformpolitik ohne die gegenwärtige Krise gar keine Chance hätte.

Keine Kommentare: