22.10.11

Dürfen Beamte im Internet ihre Vernunft im Sinne der Aufklärung gebrauchen?

Maik Riecken ist bei der Beschäftigung mit Kants Schrift „Was ist Aufklärung?“ darauf gestoßen, dass dieser Text in heutigen Schulbüchern meist um bemerkenswerte Passagen gekürzt und darum seiner zeitgenössischen Bedeutung weitgehend beraubt zu einem Text einer sehr abstrahierten Aufklärung umgedeutet wird.

In seinem Blogbeitrag DidaktischeReduktion berichtet er von seinen Überlegungen und fügt hinzu:
Meine SuS sollten sich in einer Hausaufgabe ein Urteil darüber bilden, ob die durch das Deutschbuch vorgenommene Kürzung dem Text inhaltlich gerecht wird: Sie sind selbstständig zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Schön. Also waren sie durch Länge des didaktisch unreduzierten Textes inhaltlich nicht überfordert.“

Darauf nun meine Reaktion:
Durch die Aufgabe des Textvergleichs ist viel Struktur vorgegeben, die Aufmerksamkeit wird auf Kants - uns heute nach der Diskussion des Befehlsnotstandes - eher auffällige Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Gebrauch der Vernunft gelenkt und daher im Sinne des Lehrers bewältigt.
Wäre aber im Sinne der Schulung der Kritikfähigkeit nicht eine ganz andere Aufgabenstellung nötig?

Dazu meine Begründung:
Die Unterscheidung öffentlicher und privater (dienstlicher) Gebrauch der Vernunft gilt ganz gewiss beim Militär - mit Ausnahme der Gewissensentscheidung – auch heute, aber auch für Beamte und öffentliche Angestellte ist er fast durchweg Selbstverständlichkeit: Es gibt genau angegebene Kriterien dafür, wann ein Schüler zu versetzen ist, bei wie viel Prozent Leistung wie viele Punkte zu vergeben sind, ab wie viel Fehlstunden eine Lehrveranstaltung als nicht zureichend besucht und deshalb ungültig zu bewerten ist usw.
Sie sind mitnichten in allen Bundesländern gleich, teils wird mehr Ermessensspielraum zugestanden, teils weniger.
Für mich war es ein Augenöffner, im Kontext der Europäischen Schule zu sehen, wie strikt sich deutsche Lehrer an solche Regeln hielten, auch wenn es ihnen fast das Herz brach, während Lehrer anderer Nationen weit eher bereit waren, pragmatische, im Konsens der Lehrerkonferenz getroffene Entscheidungen zu tragen. (Dabei mag eine Rolle spielen, dass dort dem Schulleiter nicht selten eine freiere Stellung gegenüber der Schulverwaltung eingeräumt wird als bei uns.)

Meine Anregung für die Diskussion der Kantschen Frage wäre:
Sollte man nicht im Sinne dieser Kantschen Unterscheidung, allen, die noch von Lehrern und Vorgesetzten abhängig sind, bei Diskussionen im Netz Anonymität zugestehen, damit sie öffentlich wirklich freien Gebrauch ihrer Vernunft machen können?

Es ist die Frage, die im Zusammenhang mit Googles Forderung nach Klarnamenpflicht für Google+ (freilich in etwas anderer Zuspitzung) diskutiert worden ist.  

1 Kommentar:

Walter Böhme hat gesagt…

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Einen Kommentar zu dieser Argumentation hat Maik Riecken auf seinem Blog abgegeben: http://riecken.de/index.php/2011/10/didaktische-reduktion/comment-page-1/#comment-5426