28.12.13

Die Wahrheit ist selten einfach oder: Chodorkowski III

Bei dem Satz "Von jeder tiefen Wahrheit gilt auch das Gegenteil" habe ich mir geholfen, indem ich ihn für eine tiefe Wahrheit erklärt habe. Es gibt zu viele Beispiele, wo er zu passen scheint und zu viele, wo er nicht recht passen will.*
Bonhoeffers "Was heißt die Wahrheit sagen?" führt vor, wie fragwürdig Kants kategorischer Imperativ in einem totalitären System wird.
Václav Havels "Versuch, in der Wahrheit zu leben" heißt nicht ganz zu Unrecht in der Originalversion leicht paradox "Die Macht der Ohnmächtigen".
Lessing hält die Kenntnis der Wahrheit für übermenschlich. Menschensache sei nur das Streben nach Wahrheit.  

So gesehen scheint der Anspruch, Chodorkowski richtig zu beurteilen, vermessen. Dennoch will ich nach zwei Anläufen einen dritten unternehmen.

Marieluise Beck berichtet in der ZEIT vom 27.12.13 darüber, was Berater von Chodorkowski halten.
Arseni Roginski, der Anfang der 80er Jahre selbst im Lager gefangen war, meint, dass es Michail Chodorkowski schon in der Jelzin-Zeit "nicht mehr um noch mehr Reichtum ging. Er sah, dass dieser begabte junge Mann zu verstehen begann, dass ein korruptes Russland, indem wenige sich den Reichtum aufteilten, in den Ruin getrieben würde." (Beck) "[...] er hat eine neue Welt gesehen hinter dem Stacheldraht russischer Lager. Gewalt unter Häftlingen. Das Ausgeliefertsein der Insassen an das Lagerregime. Wirst du beschuldigt, hast du keine Chance. Wirst du erpresst, gibt es niemanden, an den du dich wenden kannst. Wird dir Gewalt angetan, bist du schutzlos. Chodorkowski ist nicht verbittert oder hart geworden. Aber entschieden. Entschieden, dass diese existenzielle Erfahrung seine Richtschnur sein wird für künftiges Handeln. Noch sind seine beiden Yukos-Partner nicht frei." (Beck, ZEIT, 27.12.13)

Diese zusätzlichen Informationen entwerten nicht die Kritik der "Nachdenkseiten", die ich hier zitiert habe, sie relativieren sie aber. Was dort steht, bleibt - trotz des Versuchs, bei de Seiten zu Wort kommen zu lassen - unvollständig ohne die hier angeführten Zusatzinformationen; aber selbstverständlich erlauben auch die nur ein sehr unvollständiges Bild. Auch seine Webseiten auf Englisch und Russisch, liefern vermutlich im wesentlichen Einseitiges und verfälschen daher vielleicht nur. (Daher hier noch einmal ein kritischer Kommentar Jakob Augsteins, der darauf verweist, dass andere Dissidenten sich von vornherein nicht bereichern wollten.)

Es steht zu hoffen, dass Chodorkowskis Taten das positive Bild Marieluise Becks erhärten werden.
Vielleicht wird er aber auch erst der, als den sie ihn jetzt schon sieht.

*Der Satz ist von mir vereinfacht und daher falsch zitiert. Im Gespräch zwischen Heisenberg und Bohr sagte Bohr: "Das Gegenteil einer richtigen Behauptung ist eine falsche Behauptung. Aber das Gegenteil einer tiefen Wahrheit kann wieder eine tiefe Wahrheit sein."

Tweets zu Chodorkowski 

11.12.13

Alphabet - der Film

Der Film Alphabet wird beworben mit dem Satz "Bei ihrer Geburt sind 98% der Menschen hochbegabt."

Natürlich ist das eine unbegründbare Aussage, denn es gibt keine Möglichkeit, unter der Geburt einen Intelligenztest durchzuführen. 
Im Film wird dann auch nur noch berichtet, dass Kinder, je jünger sie sind, desto unangepasster denken. Danach wird Unangepasstheit als Hochbegabung definiert und danach auch noch mit Genialität gleichgesetzt.

Der Film enthielt aber wunderschöne Natur- und Kinderbilder und zeigte einen lebensprühenden Hochschulabsolventen mit Down Syndrom.

Die Erwachsenen denken - nach Durchlaufen von Schule und Ausbildung - zu 98% angepasst, berichtet der Film.

Der Film war freilich zu mindestens 99% auf eine Meinung ausgerichtet und bot Argumenten der Gegenseite weniger als 1% der Zeit.

Wenn aber Zuschauer durch die schönen Bilder und durch die sympathischen Menschen von einer wichtigen Aussage im Film überzeugt werden, soll es mir recht sein.

"Die Verkürzung des Lebens auf die Ökonomie ist eine der schlimmsten Entwicklungen in unserer heutigen Welt", sagt  (dem Sinne nach) der Telekom-Manager Thomas Sattelberger mit jahrzehntelanger Erfahrung als Personalchef. 

Man könnte dafür triftigere Argumente finden als der Manager und als der Film. Aber schließlich ist der Film ein Medium der Überwältigung, nicht der Argumentation.

Und ich erspare es mir am späten Abend, die Argumente, die ich in meinen Blogs verstreut dafür genannt habe, zusammenzusuchen, und wiederhole nur:

"Die Verkürzung des Lebens auf die Ökonomie ist eine der schlimmsten Entwicklungen in unserer heutigen Welt."

Übrigens war das Kino gerammelt voll. Hoffentlich kommt die Botschaft an, trotz aller Defizite des Films.

Vielleicht hilft dazu das Unterrichtsmaterial (pdf), das Presseheft mit Interviews mit  Gerald Hüther und Thomas Sattelberger, einem Statement des Regisseurs Erwin Wagenhofer und manchen anderen Infos oder gar das Rundschreiben eines Ministeriums oder das Lob einer Ministerin.

Bemerkenswert erscheint mir, was unter dem Label "Worum geht es?" erscheint: 
... neuerdings weht an den Schulen ein rauer Wind. „Leistung“ als Fetisch der Wettbewerbsgesellschaft ist weltweit zum unerbittlichen Maß aller Dinge geworden. Doch die einseitige Ausrichtung auf technokratische Lernziele und auf die fehlerfreie Wiedergabe isolierter Wissensinhalte lässt genau jene spielerische Kreativität verkümmern, die uns helfen könnte, ohne Angst vor dem Scheitern nach neuen Lösungen zu suchen. [...] Fast alle Bildungsdiskussionen sind darauf verkürzt, in einem von Konkurrenzdenken geprägten Umfeld jene Schulform zu propagieren, in der die Schüler die beste Performance erbringen. Wagenhofer hingegen begibt sich auf die Suche nach den Denkstrukturen, die dahinter stecken. [...] wie wir lernen, prägt unser Denken.

Diese Art von Kritik an bürokratischem Denken und an Ökonomisierung hat m.E. Sinn. Indoktinierung schreckt mich ab.

Ausführlicher kritisiert Der Tagesspiegel.

Die Süddeutsche ergänzt:
In "Alphabet" erzählt der spanische Lehrer und Schauspieler Pablo Pineda Ferrer, der trotz Down-Syndrom einen Hochschulabschluss geschafft hat, charmant vom Widerstand dagegen, sich "hinten anzustellen"; und von denen, die ihm auf seinem Weg geholfen haben.
Er ging auf eine Standardschule.

Wer wird es Pablo Pineda Ferrer übelnehmen, dass auch er in Konkurrenzkategorien denkt und sich nicht damit zufrieden gibt, das zu tun, was er kann, sondern auch gesellschaftliche Anerkennung dafür fordert?

Ergänzung vom 18.12.13:
Die Kritik an der Überbewertung des Dauervergleichs durch die PISA-Studien erscheint umso berechtigter, wenn man berücksichtigt, dass die seit 10 Jahren diskutierten Ergebnisse für Deutschland so wenig abgesichert sind, dass alle Veränderungen, die in diesem Jahrzehnt festgestellt worden sind, streng genommen nichts aussagen, da sie innerhalb des Messfehlerbereiches liegen. (vgl. dazu TeachersNews: Unstatistik des Monats)

10.12.13

Deutschland Hemmschuh beim Klimaschutz

"Deutschland ist bei der EU-Klimaschutzpolitik längst ein Problemfall und kein Musterschüler mehr" zitiert Spiegel online Regine Günther, die Leiterin Klimaschutz und Energiepolitik beim WWF.
"Das Europäische Parlament hat am Dienstag der Reform des Emissionshandels zugestimmt und den Weg für den Entzug von Verschmutzungsrechten frei gemacht." (Spiegel online vom 10.12.13)
Ein bescheidener Schritt in Sacher Wiederbelebung des "fehlerhaft konstruierten Emissionshandels" (so die Organisation Germanwatch). 
Der Koalitionsvertrag von Union und SPD sieht freilich vor, dass keine weiteren Schritte gegangen werden sollen. 

8.12.13

Zur Erwartungstheorie von Kahneman und Tversky

Ich beziehe mich auf die Darstellung von Daniel Kahneman in "Schnelles Denken, langsames Denken" (S.331-461).

Kahneman spricht von nicht-rationaler Risikofreude bzw. Risikoscheu bei Möglichkeitsgewinnen und Verlustrisiken. Dabei macht er aber keinen Unterschied zwischen mathematisch fixierten Wahrscheinlichkeiten (wie bei einer Lotterie) und Wahrscheinlichkeiten aufgrund der Gewinn- und Verlustgeschichte ähnlicher Fälle (wie bei Prozessrisiken). Bei Prozessen ist jede Konstellation (Fall, Kläger, Beklagter, Richter) unterschiedlich. Kein noch so erfahrener Anwalt kann die Wahrscheinlichkeit für den Ausgang eines Prozesses mit mathematischer Sicherheit angeben.
Insofern ist es rational, statt einer bestimmten Wahrscheinlichkeit einen Korridor von Wahrscheinlichkeiten anzunehmen. Doch völlig zu Recht weist er auf die hohe Bedeutung der Situation vor dem eintretenden Ereignis hin. Selbstverständlich ist es schön, eine Hoffnung auf ein erfreuliches Ereignis nähren zu können und die Sorge vor einer Katastrophe abmildern zu können, daher Risikofreude bei denkbaren positiven Ergebnissen und Risikoscheu vor negativen.
Weshalb ist die Furcht vor Terrorismus im Verhältnis zu seiner Wahrscheinlichkeit gegenüber Verkehrsunfällen so groß?
Verkehrsunfälle gehören seit Beginn unseres Lebens zu unserem Lebensrisiko, und die meisten haben in ihrem bisherigen Leben weniger Erfahrungen damit gemacht, als es der Gesamtwahrscheinlichkeit über ihr gesamtes Leben hin entspricht. ("Es is noch immer alles jut jegange.") Der Terrorismus ist ein erst neu in unser Leben eingedrungenes Risiko. Dass man bisher noch nie Opfer war, will insofern nicht viel heißen. Außerdem ist die Berichterstattung über Terrorismus sehr viel ausführlicher als die über Verkehrsunfälle (schon weil die extrem viel häufiger sind). Dass bisher alles gut gegangen ist, ist insofern keine rechte Beruhigung.

Zu Kahnemann sieh auch: Fontanefans Schnipsel

War der Übergang von der römischen Republik zur Kaiserzeit eine Revolution?

Der Übergang zur Kaiserzeit war eine Umwälzung, aber keine Revolution, die eine neue Gesellschaftsschicht an die Macht brachte.
Die Revolution hatte mit den Gracchen begonnen. Sie brachte das Ende der Herrschaft der Senatoren (Landbesitzer)  zugunsten von Militärdiktaturen, die die Großhandels- und Unternehmerschicht förderten und das Volk bei Laune zu halten versuchten. Die Kaiserzeit bedeutete den Abschluss dieser Revolution (ähnlich wie Napoleon die französische Revolution beendete).
Anders als Napoleon überreizten die römischen Kaiser aber lange Zeit ihre Macht nicht, vielmehr gelang es ihnen, die Eliten der Provinzen in die Herrschaftsschicht zu integrieren. (Prinzipat und Dominat waren verschiedene Ausformungen dieser Diktaturform.)
Spätestens zur Zeit Diokletians kamen aber deutliche Zeichen imperialer Überdehnung ans Licht, die auch durch die Reichsteilung und Konstantins Reformen zum Zusammenbruch des Westteils des Reiches führten.

Dass das byzantinische Reich danach noch 1000 Jahre fort bestand, zeigt freilich, wie solide diese Herrschaft angelegt war.

(angeregt durch eine Frage auf gutefrage.net; dort auch eine ausführliche Antwort)

2.12.13

Zur Abstimmung der SPD-Mitglieder über den Koalitionsvertrag

Die Argumente, dass SPD-Mitglieder keinen größeren Einfluss auf die Politik ihrer Partei haben dürften als andere Bundesbürger, braucht man wohl nicht ganz ernst zu nehmen. Bei dieser Argumentation bayerischer Juristen wollte ja selbst Horst Seehofer nicht mitmachen. Schließlich könnte es ihm nicht recht sein, wenn die CDU-Mitglieder  gleichberechtigt mit über die CSU-Politik entscheiden dürften.

Aber das macht die Entscheidung für die SPD-Mitglieder nicht einfacher.

Die Politik der Bundesrepublik steht schon länger vor zwei zentralen Problemen, die zugleich die zentralen Probleme der Weltpolitik sind:
  • vor der globalen Erwärmung
  • und vor der sich weiter auftuenden Schere zwischen Arm und Reich in unserem Land und international

Aktuell hat die Bundesrepublik mit zwei weiteren Herausforderungen zu tun:
  • der Eurokrise
  • der Ausspähung der gesamten Bevölkerung – einschließlich der Bundeskanzlerin – durch ausländische Geheimdienste.

Die globale Erwärmung wird von einer schwarz-roten Bundesregierung sogar befördert werden und zwar durch die Begünstigung von Pkws mit hohem Schadstoffausstoß und die Förderung der Verbrennung der besonders zur globalen Erwärmung beitragenden Kohle.
Was die Schere zwischen Arm und Reich betrifft, hat die SPD-Führung darauf verzichtet, Steuererhöhungen zu fordern, sondern wälzt die Mehrbelastungen auf die Beitragszahler der Sozialversicherungen ab.

Dennoch ist es gerade für ein SPD-Mitglied nicht leicht, gegen den Koalitionsvertrag zu stimmen. Denn 
die Ablehnung des Koalitionsvertrages könnte die SPD schädigen, vielleicht sogar ihre Rolle als eine der beiden großen Parteien der Bundesrepublik aufs Spiel setzen.

Diese Situation ist von der SPD-Führung herbeigeführt worden, ohne dass die Mitglieder darauf Einfluss nehmen konnten.
  1. Die Chance, eine Wechselstimmung zu erzeugen, hat sie weggegeben, als sie von vornherein eine Zusammenarbeit mit der Linken ausschloss und mit Steinbrück einen Kandidaten wählte, der selbst innerhalb der SPD nicht wirklich integrationsfähig ist.
  2. Sie hat außerdem die Koalitionsverhandlungen begonnen, obwohl die Mehrheit der sich äußernden Mitglieder sich dagegen aussprach. (vgl. Medienberichte)
Freilich könnten sie auch aus taktischen Gründen gegen ihre Überzeugung stimmen oder auf eine Teilnahme an der Abstimmung verzichten.
Das erste kann man freilich nur tun, wenn man die taktischen Gründe versteht, aufgrund deren die SPD-Führung die Koalition für notwendig hält. Diese Gründe werden freilich geheim gehalten. 

Das zweite bedeutete, sich in einer Weise aus der Verantwortung zu stehlen, die weit schlimmer wäre als die Verweigerung einer gültigen Stimmabgabe bei einer Wahl. Denn in der Öffentlichkeit entstünde der Eindruck, die Koalitionsentscheidung wäre den SPD-Mitgliedern unwichtiger, als es in Wirklichkeit der Fall ist.  

Um ihre Mitglieder dennoch zur Abstimmung für die Große Koalition zu bewegen, führt die Parteiführung zusammen mit den SPD-Ministerpräsidenten gegenwärtig in Regionalkonferenzen  einen Wahlkampf gegen das SPD-Wahlprogramm und droht - leicht verklausuliert - mit einem Rücktritt der gesamten Führungsriege, falls die Mehrheit der abstimmenden Mitglieder am Wahlprogramm festhält. 
Plötzlich haben auch die Medien, die den SPD-Spitzenkandidaten noch höchst kritisch begleitet hatten, entdeckt, wie wichtig doch die Regierungsbeteiligung der SPD sei. 

Sollen sich die SPD-Mitglieder nun darüber freuen, als wie wichtig sie jetzt gelten, oder sollen sie wütend sein, dass sie so unter Druck gesetzt werden?
Jedenfalls werden sie jetzt die Vorzüge der Bundestagswahl zu schätzen wissen, wo sie ihre Stimme frei und geheim abgeben durften. 
Denn wenn sie jetzt am Wahlprogramm ihrer Partei festhalten, wird es heißen, sie stimmten gegen ihre eigene Führung. Wenn sie jetzt aber der Führung folgen, wird es heißen, in Wirklichkeit seien die SPD-Mitglieder mehrheitlich für Angela Merkel als Kanzlerin. 
Vielleicht sollten sie sich einfach daran halten, was laut verkündet wird, nämlich, dass sie aufgrund der Inhalte des Koalitionsvertrages entscheiden sollten. Dann müsste ihnen die Entscheidung ziemlich leicht fallen (sieh oben!).

Kritik von Campact.de am Koalitionsvertrag:
  • Schwarz-Rot plant einen Frontalangriff auf die Energiewende. Nach der Photovoltaik geht es der Windkraft an den Kragen. Die Koalition setzt auf Kohlekraft und will mit neuen Subventionen verhindern, dass alte Kohlemeiler eingemottet werden. Erneuerbare Energien will sie mit einem Ausbaudeckel blockieren.
  • Der Vertrag enthält zwar Kritik an der Förderung von Erdgas mittels Fracking. Doch die konkret aufgeführten Hürden für die Industrie sind niedrig.
  • Trotz des NSA-Skandals werden die Abgeordneten die Geheimdienste in den kommenden vier Jahren nicht wesentlich wirksamer kontrollieren können.
  • Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorratsdatenspeicherung gekippt. Die Große Koalition will sie wieder einführen.
  • Kurz nach der Wahl spendeten Auto-Industrielle große Summen an die Union. Im Koalitionsvertrag findet sich kein Satz zur Begrenzung solch dubioser Parteispenden.
  • Auch das von SPD und CSU befürwortete generelle Gentechnik-Verbot steht nicht im Koalitionsvertrag.

Zu der Art, wie der Koalitionsvertrag im Fernsehen diskutiert wird. (SPON, 3.12.13)

Kritik an Abschottung vor Flüchtlingen und mangelnde Integration für Migranten (SPON, 9.12.13)
Dabei wiegt für mich die Abschottung (de facto mehrtausendfache unterlassene Hilfeleistung mit Todesfolge) noch schwerer als die mangelnde Integration. Bei der Integration geht es vornehmlich um das Schneckentempo der Verbesserungen. Bei der Abschottung um massive Menschenrechtsverletzung, an der wir alle mitschuldig werden, ohne uns recht wehren zu können.  

19.11.13

Georg Büchner und Edward Snowden

Wer aktiv versucht, die Vorrechte der Herrschenden einzugrenzen oder gar zu beschneiden, der bekommt die Machtmittel der Herrschenden zu spüren, wenn er nicht einen sehr sehr langen Löffel hat.
Insofern haben die Fälle Büchner und Snowden strukturelle Ähnlichkeiten. (Darüber habe ich in diesem Blog und anderswo geschrieben.)
Dankenswerterweise hat Jan-Christoph Hauschild in seiner Arbeit Georg Büchner - Verschwörung für die Gleichheit (2013) auch über eine Ähnlichkeit geschrieben, auf die ich noch nicht eingegangen bin. Er schreibt:
In gewisser Weise ist Büchner also lebendiger als viele, die unter uns weilen. [...] Längst führt Büchner eine multible Existenz; er ist ortlos, wie ein Virus. Viren aber, man weiß es, sind unberechenbar: Sie werden von Mensch zu Mensch übertragen, verbreiten sich mit epidemischer Geschwindigkeit und machen an keinen Ländergrenzen halt. [...]Was macht das Büchner-Virus mit uns? Wenn wir es wissen, wird es zu spät sein. (S.338)
Snowden lebt an einem unbekannten Ort, er ist weitgehend abgeschnitten von öffentlichen Medien, was er wir von ihm erfahren, ist strenger Kontrolle unterworfen. Doch er hat das als mögliche Zukunft vorausgesehen und seine Botschaft mit dem entsprechenden Material an andere weitergegeben, die sie verbreiten können. So ist seine Botschaft um die Welt gegangen, obwohl er - unfreiwillig - in der Macht eines Diktators ist.
Aber nicht nur Snowden hat wie Büchner heute eine "multiple Existenz". Seine Antagonisten sind in gewaltiger Überzahl. Und sie sind in unsere Kommunikation eingedrungen wie Viren in Computer, um uns ihnen dienstbar zu machen.
Wenn Hauschild für die fortwirkenden Gedanken und Intentionen Büchners das Wort Viren gebraucht, so gewiss, weil es zu Büchners Profession als Biologe und Mediziner passt. Gut denkbar, dass er dabei auch an Computerviren gedacht hat, vermutlich aber noch nicht so sehr an die NSA. In einer Weise stimmt der Vergleich zwischen Büchner und Geheimdiensten aber ohnehin nicht. Zwar haben sie, wie gesagt, eine "multiple Existenz", doch ortlos sind sie mitnichten. Ihre Antennen finden sich traditionell in den Botschaften oder - etwas abgelegener von den Schaltzentralen der Macht - in gigantischer Größe und mit zahlreichem Personal in den Abhörzentren. Was machen sie mit uns?
Wenn wir es wissen, ist es nicht notwendigerweise zu spät. Angesteckt vom Büchner-Virus könnten wir uns wehren. So wie Snowden sich gewehrt hat.

Hauschild schreibt über Büchner auch:
In den Durchsetzungsmöglichkeiten seiner politischen [...] Ideen hat sich Büchner gewaltig getäuscht. [...] Misst man das subjektiv Gewallte am objektiv Erreichten, erscheint die Frühgeschichte der sozialen Bewegung [...] kaum anders als eine Kette von Misserfolgen. (S.333)
Doch nach all diesen Misserfolgen hat sich die Welt verändert. Zwar nicht nur zum Guten, aber auch nicht nur zum Schlechten.

Paul von Hindenburg - Fluch oder Segen für die Entwicklung Deutschlands?

War Hindenburg ein Segen für Deutschland? Diese Frage wurde auf der Plattform gutefrage.net gestellt. Die Antwort versteht sich von selbst. Doch die Begründung kann - wie ich dort gesehen habe -  sehr unterschiedlich ausfallen. Es folgt mein Versuch einer etwas differenzierteren Begründung.

Man braucht nicht unbedingt moralische Kategorien zur Beantwortung der Frage.
Er stand für Monarchismus und Militarismus. Beide waren schon 1914 ein Hemmschuh für Deutschlands Weiterentwicklung.

Wenn es ihm als Reichspräsidenten gelungen wäre, zu verhindern, dass Hitler Reichskanzler wurde (wie es seine Absicht war, dem "böhmischen Gefreiten" hielt er für durchaus ungeeignet), dann wäre es vielleicht nicht zum Zweiten Weltkrieg und nicht zum Holocaust gekommen.

Es ist ihm nicht gelungen. Mit dieser Aufgabe war er überfordert. Dabei hatte er genau die Position inne, die vom politischen System her, bestens geeignet war, Reichskanzler zu machen oder zu verhindern.

Aber aufgrund seiner Herkunft und seinen persönlichen Überzeugungen war er unfähig, mit den Kräften zusammenzuarbeiten, die noch am ehesten die Demokratie hätten bewahren können.

Freilich, gerade die hatten - um Hitler zu verhindern - sich für Hindenburgs Wiederwahl eingesetzt.
Ein wichtiger Grund dafür, anzunehmen, dass Hindenburgs Person für die Entwicklung der Geschichte seit 1933 gar nicht so wichtig war.

11.11.13

Mehr zum ZUM-Treffen 2013: Kursbestimmung

Fortsetzung dieses Artikels
In der OER-Diskussion ist deutlich geworden, dass die ZUM im deutschen Raum die erste Institution war, die freie Unterrichtsmaterialien im Internet angeboten hat und nach der Einführung der cc by-sa-Lizenz auch das umfangreichste Angebot zu OER-Materialien bietet.
Dennoch hat die ZUM die theoretische Diskussion zu OER mehr begleitet als offensiv vorangetrieben; denn das Schwergewicht ihrer Arbeit lag auf der Erstellung von Inhalten und nicht auf der Durchsetzung einer einheitlichen Lizenzierung aller Unterrichtsmaterialien.
Die diesjährige Tagung sollte der Klärung der Frage dienen, ob an dieser Strategie Wesentliches verändert werden muss.
Aus dem Referat von Michael Beurskens ging hervor, dass in einigen Fragen noch rechtliche Unsicherheiten bestehen, da dazu noch keine höchstrichterliche Urteile vorliegen.
So viel wurde aber deutlich: eine non-commercial-Lizenzierung (z.B. cc-nc-sa) lässt so viele Fragen ungeklärt, dass jemand, der Materialien mit dieser Lizenz verwendet, wenn er nicht selbst der Urheber ist, keine Rechtssicherheit hat. Denn fast jede Verwendung kann als in gewissen Sinne kommerziell aufgefasst werden. Daher wurde beschlossen, bei der Lizenzierung grundsätzlich cc by-sa zu wählen. Das ZUM-Wiki hat bereits diese Lizenz eingeführt. Andere Seiten und Wikis der ZUM-Familie brauchen diese Lizenz aber nicht zu übernehmen.

10.11.13

Internetbekannte und OER in neuem Licht - #zum13

Wer in pädagogischen Fragen im Netz unterwegs ist, und mehrmals zu Treffen der ZUM (Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet e.V.) gekommen ist, kennt schon das Phänomen: Bekannte Gestalten aus dem Netz werden plötzlich zu guten Bekannten mit liebenswerten persönlichen Eigenschaften.
Diesmal (9./10.11.13 in Königswinter) wurde es wieder deutlich ausgesprochen von einem Gast der ZUM, der noch auf der Tagung zum Mitglied wurde.
Aber auch die Open Educational Ressources (OER), alias die offenen Bildungsinhalte, verwandelten sich für mich während des Treffens. Am Beginn der Tagung glaubte ich noch, ich hätte die wesentlichen Zusammenhänge zu den OER und ihren Lizenzen alle schon einmal gehört, aber nur noch nicht zureichend verstanden, doch dann wurde mir während der Tagung zum einen vieles verständlicher, was ich bisher nur halb begriffen hatte, vor allem aber wurde mir klar, dass es für viele Detailfragen noch kein geltendes Recht gibt, weil dazu noch keine höchstrichterlichen Entscheidungen vorliegen.
Klar wurde mir das durch den Vortrag (hier die Slides) von Michael Beurskens, der gegenwärtig eine Lehrstuhlvertretung für Wirtschaftsrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat.

Der alte und neue Vorstand der ZUM (M. Schütze, K. Kirst, M. Eirich, K. Dautel, N. Anskeit)
Die Teilnehmer des Treffens
Der Tätigkeitsbericht des Vorstandes als Prezi

Link zu ZUM-Schach

Mehr dazu hier und in diesem Artikel

7.11.13

Probleme, über die zu reden sich lohnt

Natürlich redet man über Wulff, Schavan, diesen Fußballmanager, über den Saal, in dem über die NSU verhandelt wird, und und ..., weil man für zwei Tage bis sechs Wochen man ständig über sie hört und liest. Auch über Koalitionsverhandlungen.

Aber auch darüber, weshalb auf jeden Fall zuviel SPD und zuwenig SPD im Koalitionsvertrag stehen wird? Zuviel, weil die CDU-konformen Ziele der SPD "alternativlos" werden (Tina Hildebrandt, ZEIT), und zuwenig, weil die CDU-Alternativen gar nicht erst verhandelt werden (Gesine Schwan, SZ).

Man redet über Fragen, über die es leicht ist, sich eine Meinung zu bilden (Plagiat, Justizirrtum), weil der Zeitgeist sie gerade vorgibt.
Doch wie geht man mit der Frau um, die als Mädchen den Vater zu Unrecht der Vergewaltigung beschuldigt hat und als Frau ihre Lüge zugibt. (ZEIT, 7.11.13) Sie soll ihre "gerechte Strafe" bekommen? Ist aber nicht der Richter schuldiger als das Mädchen, das von seiner Mutter lügen gelernt hat? Doch wie soll der Richter bei Straftaten vorgehen, wo Aussage gegen Aussage steht?  Soll man Gutachter für Irrtümer zur Rechenschaft ziehen? Sollen Richter ihrem Bauchgefühl folgend gegen Gutachter entscheiden?

Rolle der Judenräte: Kollaboration mit den Nazis mit welchen Folgen? (Lanzmanns Film "Der letzte der Ungerechten")

An einem Tag finde ich in den Zeitungen mehr als acht Themen angemessen problematisiert, zu denen ich wochenlang nur Nachrichten und Schnellmeinungen gelesen und vernommen habe. Wie werde ich die verarbeiten?

Auswählen. Zunächst zwei Themen: die Parallelen zwischen Snowden und Büchner und die Notwendigkeit einer Erneuerung der deutschen und europäischen Politik (egal, ob in mutigem Scheiternlassen der Koalitionsverhandlungen oder in einer neuen außerparlamentarischen Opposition). Und von Zeit zu Zeit ein Blick auf eindrucksvolle Problematisierungsversuche zu Fragen, die nicht offenkundig zu den großen Zukunftsfragen gehören.

4.11.13

Selbstbestimmtes Lernen

Eltern werden Kurse angeboten, wie sie ihren Kindern richtiges Lernen beibringen können. (SZ 4.11.13)

Ich trete ein für mehr Lernen durch Lehren und gegen übertriebene Unterstützung.

Dennoch:
In den seltensten Fällen wird man auf Gebieten, die einen nicht interessieren, mit selbstbestimmtem Lernen weit vorankommen.
Und auf Gebieten, für die man Interesse gewonnen hat, wird man selbständig lernen, auch wenn die vom Lehrenden gewählte Methode das gar nicht vorsieht.

Es geht daher, m.E. nicht darum, Kindern selbständiges Lernen beizubringen, sondern darum, es ihnen nicht abzugewöhnen.


31.10.13

Thomas Assheuer, das Internet und die Menschenrechte

Thomas Assheuer berichtet in der ZEIT vom 31.10. 13, es habe ein Versprechen gegeben, danach
"schaffe das Internet eine Zone radikaler Freiheit. Hier könne sich der Bürger unbeobachtet bewegen; fern von den Argusaugen des Staates, ohne Polizei, Gesinnungskontrolle und den sanften Terror der Mehrheit, kurz: ohne den großen Anderen, all die unsichtbaren Disziplinarmächte, die den Bürger unter Beobachtung stellen, die sein Reden und Denken regulieren und ihn auf Linie bringen. Das Internet sei ein Geschenk des Himmels, ein machtfreier Raum in der übermächtigen Moderne."

Ich habe im Netz etwas anderes wahrzunehmen geglaubt:
Die ständige Warnung: Wer das Netz kontrolliert, beseitigt das Grundrecht auf Freiheit. Der Staat darf hier nicht Spielregeln setzen, weil er sonst seine Aufgabe, Schutz des Schwachen gegen den Stärkeren, unmöglich machen würde.

Facebook war für mich die Speerspitze derer, die behaupteten und zum Teil wohl auch meinten, da die Privatheit sowieso nicht zu schützen sei, solle man sie bewusst freiwillig aufgeben.

Es war Bundesinnenminister Friedrich, der behauptete, der Schutz der Privatheit und des Briefgeheimnisses sei Aufgabe jedes Einzelnen. Ob er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass Merkel abgehört wurde, wo doch schon Helmut Schmidt seiner Aussage nach (Zeit vom 31.10. 13) ständig davon ausging, dass er abgehört wurde?
Wahrscheinlicher ist wohl, dass Friedrich glaubte, dass der Öffentlichkeit die Kenntnis über die Abhörpraktiken weiterhin vorenthalten werden könne. Zumindest für die Dauer des Wahlkampfs.

Trotz der bei Assheuer folgenden weiteren Absonderlichkeiten. Sein optimistischer Schluss gefällt mir:
"Natürlich könnte man den Teufel aus dem Netz austreiben. Man müsste es nur wollen."

Schon Locke antwortete auf Hobbes Vorstellung von der Unkontrollierbarkeit des absoluten Staates mit dem Konzept  des Gesellschaftsvertrages. Man müsste ihn nur schützen wollen.

Diejenigen, die nur stört, wenn Merkels Handy abgehört wird, gehören leider nicht zu den Verteidigern der Menschenwürde. Die, die gleich darauf verzichten, freilich auch nicht.

Dazu auch: Überwachungsstaat und Geheimdienst

27.10.13

Erinnerungskultur im Kontext von Holocaust und NS-Herrschaft

Da ich heute veranlasst worden bin, mich ein wenig mit dem Thema Erinnerungskultur zu beschäftigen, ist mir aufgefallen, wie wenig ich auf dem Höhepunkt der gegenwärtigen Diskussion bin und wie wenig die verschiedenen Diskussionen aufeinander Bezug nehmen. Das eine ist mein Problem, das andere werde ich nicht ändern.
Aber vielleicht gibt es Interessierte, die ein paar Hinweise auf Diskussionszusammenhänge interessant finden.

Deshalb hier ganz kurz:
Erinnerungskultur (vgl. auch: Gegen das Vergessen) ist ein Konzept, das sich deutlich von den Konzepten Geschichtskultur (vgl. Hinweise zur Abgrenzung von Erinnerungskultur), Geschichtsbewusstsein  und Globales Geschichtsbewusstsein unterscheidet.

In Deutschland wird mit Erinnerungskultur meist das Gedenken an Holocaust und NS-Zeit assoziiert, z.B. Mahnmale, die an die Deportation von Juden aus Deutschland erinnern.
Aber es gibt auch andere institutionalisierte Erinnerungen daran wie
Zur Erinnerung an den Holocaust ein paar eigene Texte:
Ein Geheimnis (Vorstellung einer Erzählung)

Zur Erinnerung an Widerstand in der NS-Zeit:
Friedrich: Wer wir sind (Umfassende Darstellung zu Personen des Widerstands) 
Zum Diskussionszusammenhang Erinnerungskultur nenne ich noch:
Geschichtspolitik Geschichtsperspektive  Historisierung
Geschichtlichkeit  Identitätsbewusstsein  
        

26.10.13

Der Papst und der Bischof von Limburg

Es ist nicht lange her, da gab es schon einen Konflikt zwischen dem Papst und dem Bischof von Limburg.
Freilich stand damals die veröffentlichte Meinung in Deutschland mehrheitlich auf der Seite des Bischofs von Limburg, denn es ging um Schwangerschaftskonfliktberatung und der Bischof hieß Franz Kamphaus. Vom Papst war noch nicht abzusehen, dass er schon so bald heilig gesprochen werden würde. (27.4.2014)

Damals hat Johannes Paul II. dem Bischof eine Funktion entzogen und in die Hände eines anderen gelegt.Er hat darauf verzichtet, dem Bischof sein Amt zu nehmen.

Ein großer Unterschied bestand freilich: Papst wie Bischof sahen sich primär verantwortlich für die ihnen anvertrauten Seelen, und es war eher der Bischof, der in der Nachfolge von Franz von Assisi lebte. So sah es jedenfalls eine Predigt aus der Zeit, die mir vorliegt.

Mag sein, dass gerade wegen dieses Vorgängers das Kirchenvolk im Bistum Limburg so rebellisch geworden ist, obwohl Kamphaus selbst sich durchaus nicht als Rebell sah.

Nachtrag 2013:
Das Verhältnis zwischen Papst und Bischof von Limburg hat sich 2013 verkehrt. Jetzt vertritt der Papst eine Rolle nahe an Franziskus von Assisi, der Bischof verliert sich in traditioneller Repräsentation.
Zu Papst Franziskus vgl. seinen Fragebogen an die Gemeinden.
Zum Presse-Echo auf die Papstumfrage vgl. u.a. ZEIT vom 7.11.13


18.10.13

Georg Büchner zu ehren

"Das Bundeskriminalamt hat vor 20, 30 Jahren sogar offiziell einmal gegen einen Herren Georg Büchner ermittelt. Ein Flugblatt war mit seinem Namen unterschrieben. Irgendwann wurden dann die Ermittlungen gegen Georg Büchner eingestellt." (Jan-Christoph Hauschild: "Büchner war ein Vorkämpfer";
Hauschilds  Interview vollständig als Audiodatei.)
Als Revolutionär gescheitert hat Büchner sich nicht sofort mit aller Kraft nur noch seiner naturwissenschaftlichen Arbeit widmen können, sondern er musste sich erst noch seinen Frust von der Seele schreiben (und versuchen, sich für seine Flucht Geld zu beschaffen).
Welche Ehre, dann nicht nur durch diese Frustprodukte weltberühmt zu werden, sondern als (zunächst) gescheiterter Revolutionär nach rund 150 Jahren  immer noch von der Polizei gesucht zu werden!

Georg Büchners erster Schritt der Flucht konnte es sein, die hessischen Landesgrenzen zu überschreiten, sicherer war er in Straßburg, noch sicherer in der schon recht demokratischen Schweiz.

Edward Snowden musste seine erste Etappe schon weiter wählen, nach Hongkong. Sicherer war er erst in einer - gegenwärtig noch recht stabilen - Diktatur. Dass eine Flucht in ein demokratisches Land - etwa nach Südamerika - für Snowden zu gefährlich war, zeigte sich, als das Flugzeug des bolivianischen Staatspräsidenten Morales von Österreich zur Landung gezwungen wurde und alle demokratischen Länder Europas dem Flugzeug, in dem der US-Geheimdienst Snowden vermutete, eine sichere Landung verwehrten.

Wir ehren Büchners Andenken - anders als das Bundeskriminalamt - dadurch, dass wir uns für einen Vorkämpfer der Freiheit aus seinem Geist wie Snowden einsetzen. War Büchners Hessischer Landbote dem Frieden der Hütten gewidmet, so Snowdens Whistleblowing dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, einem - wie wir sehen - im deutschen Grundgesetz unzureichend geschütztem Grundrecht (vgl. aber EU).
Karl Gutzkow brachte zu Büchners Unterstützung Dantons Tod heraus (zu spät, um mit dem Honorar Büchners Flucht finanzieren zu helfen, das tat Büchners Mutter). Snowden unterstützten Wikileaks und Glenn Greenwald vom Guardian. Letzterer bekam deshalb einigen Ärger, weshalb er jetzt finanziert vom ebay-Gründer Pierre Omidyar ein eigenes online-Medium gründen will.
Ich wünsche Greenwald viel Erfolg dabei und Edward Snowden, dass er seine mutige Aktion anders als Büchner länger als drei Jahre überlebt und hoffentlich bald in Freiheit, nicht mehr verfolgt von der mächtigsten Demokratie und im Stich gelassen von allen anderen.

Mehr zu Georg Büchner, besonders Briefauszüge

Tweets zu Büchner mit vielen Literatur- und Medienhinweisen
darunter von mir  hervorgehoben: Woyzeck, das Buch als Magazin, wdr5, taz,
Danton u. Robespierre in Dantons Tod (Trailer in YouTube)

Literaturhinweise:
Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner - Verschwörung für die Gleichheit, Hoffmann und Campe 2013, 352 Seiten, ISBN 978 3 455 50184 1.
Rezensionen des Werks
Frühe Kritik an Hauschilds Sicht und frühe Gegenrede
Hermann Kurzke Georg Büchner Geschichte eines Genies Cover: Georg Büchner C. H. Beck Verlag, München 2013
Rezensionen des Werks

Fortsetzung dieses Artikels in:

Fluchtwege, Asyl, Korrespondenz - Büchner, Snowden, Assange, Harrison und Manning

9.10.13

Wer liest noch nicht Frau Weh?

Um eins klarzustellen: Frau Wehs Blog ist keine Pflichtlektüre für Pädagogen und braucht es auch gar nicht zu sein. Dafür liest er sich einfach zu gut.
Aber wenn man gerade mal der Meinung ist, dass das Lehrerdasein doch ein recht hartes ist, tut es gut, ein wenig in ihrem Blog zu lesen.
Heute empfehle ich "Welche Pille würdest du wählen?" auf die Gefahr hin, dass alle meine Leser zu Frau Weh abwandern.

Und hier noch ein Zitat aus "Das Bildnis der Frau Weh":
Als ich endlich das neueste Foto einklebe, wird mir auf einmal bewusst, was sich verändert hat. Es sind nicht die ersten Falten, nicht die Kleidung oder die Frisur.Es ist Gelassenheit.

7.10.13

Zeitzeugen - Tonbandprotokolle vom Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-1965

Es gibt immer weniger Holocaustüberlebende, die als Zeitzeugen von den Lagern berichten können.
Doch jetzt sind die Tonbandprotokolle vom Frankfurter Auschwitzprozess online gestellt worden.
181 Holocaustüberlebende waren damals nach Frankfurt gereist, um ihre persönlichen Erfahrungen darzustellen.

Ich teile nicht den Optimismus, dass schon bald alle in die Kultur des selbstverantwortlichen Lernens entlassen werden könnten, ohne dass dadurch für unsere Kultur ein Verlust entstünde. Selbst für Habermas dürfte nicht nur Adorno als Vorbild und Lehrer wichtig gewesen sein.
Aber ich bin froh, dass jetzt vermehrt Jugendlichen wie Erwachsenen auch der Weg zu Originalquellen und eigener Nachforschung erleichtert wird.


In diesem Kontext nenne ich:

Kollektives Gedächtnis (LeMO, Zeitzeugenberichte vom 1. Weltkrieg bis heute)
Das Generationenprojekt

und verweise im übrigen auf den Artikel Zeitzeugen im Geschichtsunterricht im ZUM-Wiki.

Zur Arbeit mit Zeitzeugen allgemein verweise ich auf die kritische Anmerkung von Hans Mommsen in der ZEIT vom 30.8. 2012, S. 4 zum Thema „Der Wille zur Erinnerung“:
 „Unabhängig davon, dass die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses von Zeitzeugen begrenzt ist und sie die infrage stehenden Handlungskomplexe schwerlich überschauen können – dies ist eben die Aufgabe des historischen Fachmanns – tendiert das sich auf sie abstützende Gedächtnis dazu, komplexe historische Zusammenhänge zu personalisieren und indirekt nationale Gesamtverantwortung zu verdrängen. […] Die Versuchung, die anstehende Erinnerungsarbeit [gemäß Kontext: seitens der nachfolgenden Generation] primär Zeitzeugen zu überlassen, impliziert ein apologetisches Element.“
Das "apologetische Element"  dürfte freilich gerade bei den Holocaustüberlebenden schwerlich den Wert des Zeitzeugnisses mindern.


5.10.13

Gegenwärtig spricht man über die Todesopfer, die die "Festung Europa" auf dem Gewissen hat

Man spricht über Flüchtlingstote und über den Klimawandel. Die NSA tritt zurück, Snowden ist so gut wie vergessen.
"Um es auf grausame und schonungslose Art zu sagen: Die Debatte wird sich abkühlen, sobald der Winter kommt" (ein EU-Diplomat laut SZ vom 5.10.13)

Irgendwie gilt das für alle Debatten. Doch zum Glück nicht ganz.
Ich halte es jedenfalls für wichtig, dass - angestoßen von Papst Franziskus und der letzten Flüchtlingskatastrophe - endlich auch maßgebliche Politiker* erkennen und aussprechen, dass die rechtlichen Regelungen zum Umgang mit Flüchtlingen geändert werden müssen. Die Frage ist freilich, wie.

Nicht maßgeblich ist die Bürgermeisterin von Lampedusa Guisi Nicolini, die sagte:
"Die Fischer sind weitergefahren, weil unser Land schon Prozesse wegen der Förderung illegaler Einwanderung gegen Fischer und Reeder geführt hat, nachdem sie Menschenleben gerettet haben." (Bergsträßer Anzeiger, 5.10.13)

So gut oder schlecht es mir gelungen ist, habe ich die Themen für den Unterricht aufgearbeitet:

Flüchtlinge, Strafandrohung und Strafen für Fluchthelfer

Klimawandel

Geheimdienst, Überwachungsstaat, Snowden

Ich werde weiterhin daran arbeiten, die Artikel halbwegs auf dem Laufenden zu halten, und im übrigen nicht zu resignieren. Gelegentlich werden diese Themen auch hier zur Sprache kommen.

*«Wir werden laut unsere Stimme in Europa erheben, um die Regeln zu ändern, die die ganze Last der illegalen Einwanderung auf die Länder des ersten Eintritts abwälzen» (Angelino Alfano, Innenminister und Vize-Regierungschef von Italien laut BA, 5.10.13) - Freilich ist ihm Italien wichtiger als die Flüchtlinge. Merkel sind die deutschen Wähler wichtiger als Italien und die Flüchtlinge. 
Barack Obama sagte in Jerusalem, als er über den Nahostkonflikt sprach:
"Als Politiker kann ich Ihnen eines versichern: Politische Führer werden keine Risiken eingehen, solange die Menschen dies nicht von ihnen verlangen." (SZ, 5.10.13)
Nachtrag von Dezember 2013:
Campino von den Toten Hosen spricht von über 19 000 Toten, die seit 1988  auf der Flucht nach Europa umgekommen sind. Weil es - nahe liegender Weise keine verlässliche Statistik dazu gibt - schließlich liegen keine Passagierlisten vor -, bin ich für jede halbwegs ernst zu nehmende Zahl für einen größeren zusammenhängenden Zeitraum dankbar.
2004 sprach die Organisation Pro Asyl für das Jahrzehnt für das zurückliegende Jahrzehnt von 5000 Opfern allein im Mittelmeerraum.

Anhang:
Festung Europa  (meine Anmerkungen dazu)
Flüchtlinge
Klimawandel, Klimakriege
Geheimdienst

3.10.13

Inklusion und getrennter Unterricht brauchen keine Alternativen zu sein

In Finnland bekommt jeder zweite Schüler Förderunterricht. Dennoch hat Finnland in den letzten 30 Jahren knapp zwei Drittel seiner Förderschulen geschlossen. Aber Timo Saloviita, der für "eine Schule für alle" eintritt, ist in Finnland Außenseiter.
Im finnischen Mainstream liegt Sakari Moberg, der wie Saloviita an der Universität von Jyväskylä lehrt und für einen Mittelweg zwischen Inklusion und getrenntem Unterricht vertritt, nämlich Sonderunterricht von Fall zu Fall (mehr dazu in ZEIT, 2.10.13, S.84).

vgl. dazu auch: Inklusion bei phoenix

Aktuelle Studie zu Inklusion und Förderschulen, 7.5.14 - M.E. besteht ein starkes politisches Interesse an einer Studienergebnis, das Vorteile der Inklusion zeigt. Die verhaltene Reaktion der Wissenschaftler gegenüber einer solchen Verwendung ihrer Studie scheint mir erfreulich. 
Über die Aussagekraft der Studie wird nur nach genauer Kenntnis der Untersuchungsbedingungen zu urteilen sein. (8.5.14)

30.9.13

Weshalb Lernbehinderung erfolgreich macht

Erfolgreiche Unternehmer treffen sich. Die Hälfte von ihnen wurde als lernbehindert diagnostiziert.
Malcolm Gladwell erklärt es im Sterninterview (Stern, 26.9.13, S.72) am Beispiel Legasthenie:
"Wenn du in der Schule nicht lesen kannst, musst du strategisch denken lernen. [...] Du lernst Probleme zu lösen, weil dein Leben ein ständiges Problem ist."
Das ist einleuchtend dargestellt. Das kann Gladwell. Natürlich stimmt es nicht. Denn viele scheitern an dem Versuch, die Probleme zu lösen. Weil sie nicht intelligent genug sind oder weil sie zu ehrlich sind.
Deswegen sagt Gladwell auch: "Ein einzelner Nachteil kann sich auszahlen." (S.72, 4. Spalte) Der Ton ist auf kann zu legen.
Helen Keller hatte mehrere Behinderungen und wurde sehr erfolgreich. Ihre Lehrerin war sehr erfolgreich darin, Helen Keller zu lehren. Ihr Leben insgesamt litt darunter, dass sie diesen einen unglaublichen Erfolg hatte und es danach nicht so erfolgreich weiter ging.

Zugegeben: Der Titel dieses Artikels war etwas sehr reißerisch. Zur besseren Einordnung lese man hier nach.

Übrigens: Drei Bücher von Gladwell: Tipping PointBlink und What the Dog Saw: And Other Adventures.

24.9.13

Darf eine Leistung, die nicht erbracht werden konnte, mit 6 bewertet werden?

Zu der Zeit und an den Orten, wo ich unterrichtet habe (zeitweise im Ausland) war es üblich, dass in solchen Fällen, wenn die Leistung nicht nachgeholt werden kann, ein "ohne Leistung" eingetragen wird (was rechnerisch einer 6 oder 0 Punkten entspricht).
Bei der Gesamtbewertung sollte die Lehrkraft berücksichtigen, wie diese Einzelnote zustande gekommen ist.
Wenn sonst viele Einzelbelege mit deutlich besseren Leistungen vorliegen, wird sie die fehlende Einzelleistung nicht schwer gewichten. Wenn aber sonst keine bewertbaren Leistungen vorliegen, darf sie ja nicht eine Note erfinden. - Bei Bewertung von aus dem Rahmen fallenden Leistungen sollte prinzipiell das Prinzip der Regression auf den Mittelwert angewandt werden (zur Begründung vgl. Daniel Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken, 2012, S.242/43). Das ist freilich nicht intuitiv und wird deshalb nicht überall so gehandhabt.
Unabhängig davon darf aber eine nicht vorhandene Leistung nicht besser bewertet werden als eine vorhandene, auch wenn sich die große Mehrheit intuitiv dafür entscheidet.
Sollte denn ein mehrmaliger Olympiasieger, wenn er am Wettkampftag nicht antreten kann, wegen seiner sonstigen guten Leistungen eine Bronzemedaille bekommen oder als Zehnter gewertet werden oder soll man irgendeine andere Wertung für ihn erfinden?
Die Entscheidung des Lehrers zur Einzelleistung ist also eindeutig richtig. Entscheidend ist, wie er bei der Endnote die Gesamtleistung bewertet.

Bei Gute Frage.de ist - nahe liegender Weise die große Mehrheit anderer Meinung. Ich lade zur Diskussion über diese Frage ein. 

Vorzeitiger Nachruf auf eine Partei

"Jetzt kann man bei den nächsten Wahlen noch nicht einmal mit gutem Gewissen SPD wählen. Es erscheint ja geradezu wahrscheinlich, daß sie, wenn sie nicht die absolute Mehrheit bekommt, nur weiter mit der CDU zusammengeht. - Der Staatsbankrott [...] ist nicht mit dem Versagen der CDU eingetreten, sondern erst jetzt mit dem Versagen der SPD. Solange es eine Alternative gibt, ist eine unfähige Partei nicht schlimm. Aber wenn einem auch die genommen wird ... Die FDP aber, die einzige Partei, die bei der Sache zu ihren Grundsätzen gestanden hat, ist [...] Wieviel besser wäre eine Koalition mit der FDP gewesen, wo erstmals Alternativen und nicht Kompromisse mit der CDU-Politik zum Zug gekommen wären! [...] - Außerdem hielte ich es für gefährlich, die letzte deutsche Prinzipenpartei, die außerdem Honoratioren- und (!) "Intelligenzpartei", jedenfalls noch eine Partei für Individualisten ist, auszuschalten.
So habe ich am 26.11.1966 in mein Tagebuch geschrieben. Wer könnte heute ohne Sorge, sich lächerlich zu machen, noch so etwas schreiben. Mehr noch. Kurz zuvor hatte ich geschrieben:
Von der FDP scheint mir der Anlaß gut gewählt. So wird nämlich entweder eine Minderheitsregierung der CDU bestehen bleiben müssen. Ein mörderisches Unternehmen. Oder die SPD kommt im ungünstigst möglichen Augenblick in die Regierung. Die 'große Koalition', das Schreckgespenst für die FDP, wäre ihr jetzt wohl sehr lieb. [Hervorhebung Fontanefan am 24.9.13] Könnte sie sich doch wie unschuldig an der Misere u. den Schwierigkeiten, die uns noch bevorstehen, gebärden. (30.10.1966)
Wie haben sich die Zeiten geändert. Damals ging die SPD aus der großen Koalition gestärkt hervor, um mit der liberalen FDP eine Erneuerung der Bundesrepublik zu mehr Demokratie voranzutreiben. Gestern habe ich geschrieben:
Dass die Partei, der der Graben zwischen Reich und Arm nicht groß genug sein konnte (Westerwelle), die die Energiewende nach allen Regeln der Kunst torpedierte (Roesler) [...], und die ihre verdienten Mitglieder Hirsch und Baum seit Jahren im Regen stehen lässt, wenn es um liberale Themen geht, dass die aus dem Bundestag raus ist, begrüße ich sehr.
Die  Prinzipenpartei, die "Intelligenzpartei", die Partei für Individualisten hat sich aufgelöst. Übrig geblieben sind nur noch die Prinzipien und die Individuen, die zu ihnen stehen. Hirsch und Baum gehören gewiss dazu. Über andere wage ich nicht zu urteilen.
Vorzeitig ist der Nachruf, weil diese Partei ja wieder entstehen könnte. Das wäre freilich für die jetzige FDP eine Herkulesaufgabe.

Vielleicht kommt der Nachruf aber auch zu spät, weil nichts mehr dazu beitragen kann, die Partei aufzurütteln.

15.9.13

Vereinfachte Erläuterung der Hintergründe des Wartburgfestes von 1817 unter Bezug auf den Bürgerkrieg in Syrien und den deutschen Bundestagswahlkampf

Wenn du vieles gelesen hast und vieles dir sonderbar vorkommt, bist du schon auf der Vorstufe zum Weisen.

Wenn man die Vorgänge in und um Syrien und die Vorgänge im deutschen Bundestagswahlkampf entsprechend darstellen würde, käme noch viel Unverständlicheres heraus.

Zunächst also:

Die Burschenschaftler lebten in einem Regime, das sie für ungerecht hielten wie heute Ägypter und Syrer ihres und Al-Kaida-Kämpfer die politische Weltordnung insgesamt.

Sie empfanden sich als Vertreter der Freiheit und beriefen sich auf Luther als Freiheitskämpfer (gegen die religöse Diktatur der Papstes).

Sie veranstalteten eine Demonstration - wie 1832 die Demokraten beim "Hambacher Fest".

Aber, wie es bei Demonstrationen und Fußballspielen so ist, es finden sich immer welche, die noch eindrucksvoller demonstrieren wollen als die anderen. Die verbrannten dann also den Korporalsstock, mit dem die einfachen Soldaten geprügelt wurden, und Schriften, die - aus ihrer Sicht - das herrschende Regime verteidigten. (Da hätten sie auch den halben Goethe mit verbrennen können.)

Schließlich tötete Sand noch den Schriftsteller Kotzebue. Dieser war seinerzeit erfolgreicher als Goethe; aber Sand tötete ihn nicht deswegen, sondern deshalb, weil er - wie Goethe - ein Höfling war und den Herrschenden nach dem Munde redete.

Heine bemerkte zu Recht: "Wo Bücher brennen, da brennen bald auch Menschen."*

Man hat das auf den Holocaust bezogen, aber es war nur eine metaphorische Redeweise für: "Wer Bücher vernichtet, statt sie zu widerlegen, der ist auf der Vorstufe dazu, Menschen zu vernichten, statt sie zu überzeugen."

Luthers Verbrennen der Bannbulle war - so gesehen - die Vorstufe der Glaubenskriege.

Die Nazis haben dann Heines Metapher in der Wirklichkeit nachgebildet: Zuerst haben sie Bücher verbrannt, dann Millionen von Menschen erst getötet und dann verbrannt.

Nicht der Protest der Burschenschaftler war falsch, sondern die Wahl der Mittel. So kam es zu noch schärferer Unterdrückung, und die führte zunächst zur (gescheiterten) deutschen Revolution von 1848 und dann zu mancherlei Fehlentwicklungen. Je nach Standpunkt, kann man die deutschen Einigungen von 1871 und 1990 dazu rechnen.

Nur: Auch wenn die Burschenschaftler sich auf Luther beriefen, Luther war nicht der Grund des Protestes. Auch wenn die Nazis Bücher verbrannt haben wie Luther und die Burschenschaftler, so hatten sie doch ganz andere Ziele.

Auch als guter Katholik kann man heute vieles, was Luther in seiner Zeit an der Kirche auszusetzen hatte, auch für falsch halten.

Wenn dir das, was ich geschrieben habe, auch sonderbar vorkommt, brauchst du mich deshalb noch nicht beim Geheimdienst zu melden, der liest sowieso schon mit.**

*Wörtlich zitiert: "Dort wo man Bücher verbrennt, // verbrennt man auch am Ende Menschen." - Almansor, Vers 243f (sieh: Wikiquote)
**Mitlesen ist weit besser als zensieren und der Öffentlichkeit vorenthalten. Manches Vorgehen gegen Whistleblower ist freilich noch schlimmer als Zensur. - Dass noch mehr mitgelesen und entschlüsselt wird, als der Normalbürger annahm, hätte man sich denken sollen. Das Schlimme ist die Verharmlosung durch die deutsche Bundesregierung und die Behandlung von Whistleblowern in den USA. Wenn man Snowden verspricht, ihn weder zu foltern noch zu töten, so ist das, nach dem, was man Manning angetan hat, eher eine Drohung als irgend etwas anderes. Zwar werde ich weder Obama als Befürworter von Folter und Putin als Demokraten bezeichnen, doch dass 2013 Obama das Foltern zulässt und Putin einen Demokraten aus den USA vor seinen Verfolgern schützt, das hätte ich bei Obamas Wahl 2008 nicht für möglich gehalten.

Wenn man das, was in und um Syrien alles geschieht so ausführlich kommentieren würde wie Merkels Halskette und Steinbrücks Stinkefinger, so würde das niemandem helfen, diese Vorgänge zu verstehen.
Die Medienberichte vernebeln das, worum es im Wahlkampf geht, wo möglich, noch besser als die Wahlprogramme der Parteien.

9.9.13

Schülererfahrungen mit Lehrern und Schule

Die SZ hat Schüler darüber reden lassen (9.9.13) und trotz teils problematischer Diskussionslenkung interessante Ergebnisse zu präsentieren. 
Bezeichnenderweise hatte keiner Erfahrung mit LdL.

Und zur Frage nach dem deutschen Bildungssystem* kommt von Georg Veile** die Antwort:
Ich habe in der vierten Klasse eine Hauptschulempfehlung bekommen. Obwohl ich den Notenschnitt fürs Gymnasium gehabt hätte, waren die Lehrer der Meinung, ich hätte eine Sprachbehinderung und würde das Gymnasium nie packen. Ich hab mich gewehrt und bin auf die Realschule gegangen. Dort hatte ich einen Lehrer, der mich extrem gefördert hat - und zwei Jahre später habe ich bei "Jugend forscht" gewonnen.
Offenbar spielen Personen eine sehr wichtige Rolle, manchmal wichtiger als die des richtigen Schulsystems.*** 
Und doch ist für die Mehrzahl das Schulsystem entscheidend. 

*Das deutsche Bildungssystem gilt als eines der ungerechtesten in Europa. Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? 
**Georg Veile, 20 Jahre, holt nach einer Lehre zum Bankkaufmann am Technischen Gymnasium in Aalen (Baden-Württemberg) das Abitur nach. Würde als Rektor an seiner Schule Hitzefrei einführen – das gibt es an beruflichen Gymnasien nicht.
***"Und wir hatten damals auch Hilfe: einen Nachbarn, der hat Sozialpädagogik studiert und uns unterstützt. Auch mit seiner Hilfe bin ich in der Zehnten aufs Gymnasium gewechselt. Ich wüsste nicht, wo ich ohne ihn heute stünde."

mehr zur Bildungsrecherche der SZ

In diesem Kontext verweise ich auf die gegenwärtig in der Bloggerszene geführte Diskussion zur
Gestaltung von Lernprozessen

6.9.13

Die neue Schere

Die Schere zwischen Arm und Reich mit ihren gefährlichen gesellschaftlichen Folgen ist bekannt. Wir tun uns freilich schwer damit, sie zu schließen.
Eine zweite Schere hat sich aufgetan, vor der viele Betriebe noch die Augen verschließen. Die Schere zwischen den Ansprüchen der Betriebe und der Bereitschaft und den Fähigkeiten der Arbeitnehmer. Das zeigt sich besonders bei den Hochqualifizierten und den Minderqualifizierten.

Das ist mein Thema beim Corporate Learning Camp in Frankfurt am 27./28.9.13 (#clc13)
(Zur Erläuterung von Barcamp sieh: Barcamp als Wundertütenkonferenz von Katja)

Die Hochqualifizierten sind immer häufiger nicht bereit, den Druck eines Managements hinzunehmen, dem sie nicht die nötige Kompetenz zutrauen. Wenn bei unübersichtlichen Problemlösungen  von vorn herein eine Zeitvereinbarung getroffen werden soll, verweigern sie sich immer öfter.* Wo das nicht geschieht, kommt es leicht zu Flops wie bei Toll Collect, wo das Management völlig unrealistische Zeitvorgaben akzeptierte, weil es den Mitarbeitern keinen Spielraum zu Widerspruch ließ. (Der Streitwert des noch andauernden Verfahrens liegt bei rund sieben Milliarden Euro.)
Die Schere zeigt sich bei Minderqualifizierten, seit der Fachkräftemangel so groß geworden ist, dass sich Betriebe nicht mehr leisten können, alle, die den hohen Anforderungen noch nicht gerecht werden, in die Arbeitslosigkeit abzuschieben. Dazu heißt es in der Süddeutschen Zeitung:
Dass Schulabgänger ohne Qualifizierenden Hauptschulabschluss gar nicht eingeladen werden, ist längst Vergangenheit. Der Fachkräftemangel lässt  [den Pokuristen] Turm auch über Unpünktlichkeit, penetrantes Duzen und Widerworte hinwegsehen - anfangs zumindest. Ausbilder müssten die Erziehungsleistung übernehmen und den Jugendlichen Respekt vor Vorgesetzten und richtiges Benehmen erst beibringen, sagt Turm. Dann funktioniere auch die Zusammenarbeit. Betriebe und Berufsschulen müssten auffangen, was in der Erziehung verpasst wurde. (SZ vom 6.9.13)
 Die Lösung wird oft in Nachqualifizierung gesehen, die über selbständiges Lernen der Mitarbeiter geschehen soll. Im Fall der Hochqualifizierten wird das nicht funktionieren, weil die sich ohnehin selbständig qualifizieren. Da ist wohl eher eine Umstellung des Managements erforderlich. Bei den Minderqualifizierten wird mehr gebraucht als ein offenes Angebot.
Im Fall eines Schülers mit gescheitertem Hauptschulabschluss (Durchschnittsnote 5) half ein Sonderkurs, der ihn zum Hauptschulabschluss mit 1 qualifizierte, berichtet die Süddeutsche: "Gerade schwierige Schüler würden engagierte Mitarbeiter, wenn sie eine Chance bekommen."

Der Fachkräftemangel steigt. Wie kann man darauf reagieren?

Das Problem hat Gunter Dueck aus einer etwas anderen Perspektive formuliert.

Um nur kurz anzudeuten, weshalb Dueck m.E. das Problem etwas zu blauäugig aus Arbeitgebersicht sieht,
ein Beispiel aus dem Bereich öffentliche Schulen:
Durch PISA erfuhr man, dass Finnland weit besser abschnitt als Deutschland. Außerdem, dass in Finnland hoher Wert darauf gelegt wird, Schüler und Lehrer nicht durch enge Anforderungen zu gängeln, sondern ihnen für Lernen und Lehren viel Freiraum zuzugestehen.
Die Reaktion der Schulverwaltungen war u.a., länderweite Vergleichstests für 3.-Klässler mit genauen Vorgaben zur Auswertung durch die Lehrer zu erstellen. (Anderes lasse ich unerwähnt.)
Das ist ein sehr problematisches Verhalten des Lerncoaches Schulverwaltung.
Nun aber meldet sich ein anderer: die kritische Öffentlichkeit fordert von den Lehrern, sie sollten ihre Macht nutzen und die Regelungen der Schulverwaltung außer Acht lassen.
Irgendwie scheint mir da bei manchen die Botschaft vom selbstbestimmten Lernen in den falschen Hals gekommen zu sein.

Anmerkungen:
*Bei der Vorausschätzung der Arbeitszeit für Projekte verschätzen sich Softwareentwickler zwischen 50 und 500 Prozent.  (vgl.  Positionspapier von Björn Schotte zum Management 2.0 MOOC.)
Nach Kahnemann (Schnelles Denken, langsames Denken, 2012) sind diese Schätzfehler aus der Innensicht darauf zurückzuführen, dass die Beteiligten nicht voraussehen können, welche Störungen auftreten können, weil alle in sich sehr unwahrscheinlich sind, aber erfahrungsgemäß die Wahrscheinlichkeit, dass irgendeine größere Störung auftritt, sehr hoch ist. Die Außensicht betrachtet vergleichbare Fälle und die Zeiten, die für sich für diese ergaben. (S.305/06)